S.
X.
Zur Ätiologie der Hysterie’).Meine Herren! Wenn wir daran gehen, uns eine Meinung
über die Verursachung eines krankhaften Zustandes wie die
Hysterie zu bilden, betreten wir zunächst den Weg der anamne-
stischen Forschung, indem wir den Kranken oder dessen Um-
gebung ins Verhör darüber nehmen, auf welche schädlichen
Einflüsse sie selbst die Erkrankung an jenen neurotischen
Symptomen zurückführen. Was wir so in‚Erfa.hrung bringen,
ist selbstverständlich durch alle jene Momente verfälscht, die
einem Kranken die Erkenntnis des eigenen Zustandes zu ver-
hüllen pflegen, durch seinen Mangel an wissenschaftlichem Ver-
ständnis für ätiologische Wirkungen, durch den Fehlschluß des
post hoc, ergo propter hoc, durch die Unlust, gewisser
Noxen und Traumen zu gedenken oder ihrer Erwähnung zu
tun. Wir halten darum bei solcher anamnestischer Forschung
an dem Vorsatze fest, den Glauben der Kranken nicht ohne
eingehende kritische Prüfung zu dem unserigen zu machen, nicht
zuzulassen, daß die Patienten uns unsere wissenschaftliche Mei-
nung über die Ätiologie der Neurose zurechtmachen. Wenn wir
einerseits gewisse konstant wiederkehrende Angaben anerkennen,
wie die, daß der hysterische Zustand eine lang andauernde
Nachwirkung einer einmal erfolgten Gemütsbewegung sei, so
haben wir anderseits in die Ätiologie der Hysterie ein Moment
eingeführt, welches der Kranke selbst niemals verbringt und nur
ungern gelten läßt, die hereditäre Veranlagung von seiten der1) „Wiener klinische Rundschau“, 1896, Nr. 22—26. Ausführung nach
einem Vortrage im Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien am
2. Mai 1896.10"'
S.
148
Erzeuger. Sie wissen, (laß nach der Meinung der einflußreichen
Schule Charcots die Heredität allein als wirkliche Ursache
der Hysterie Anerkennung verdient, während alle anderen
Schädlichkeiten verschiedenertigster Natur und Intensität nur
die Rolle von Gelegenheitsursachen, von „Agents provocateurs“
spielen sollen.Sie werden mir ohne weiteres zugeben, daß es wünschens-
wert wäre, es gäbe einen zweiten Weg, zur Ätiologie der Hysterie
zu gelangen, auf welchem man sich unabhängiger von den An-
gaben der Kranken wüßte. Der Dermatologe z. B. weiß ein Ge-
schwiir als luetisch zu erkennen nach der Beschaffenheit der
Ränder, des Belags, des Umrisses, ohne daß ihn der Einspruch
des Patienten, der eine Infaktionsquelle leugnet, daran irre
machte. Der Gerichtsnrzt versteht es, die Verursachung einer
Verletzung aufzuklären, selbst wenn er auf die Mitteilungen des
Verletzten verzichten muß. Es besteht nun eine solche Möglich-
keit, von den Symptomen aus zur Kenntnis der Ursachen vor-
zudringen, auch für die Hysterie. Das Verhältnis der Methode
aber, deren man sich hiefiir zu bedienen hat, zur älteren Me-
thode der anamnestischen Erhebung möchte ich Einen in einem
Gleichnisse darstellen. welches einen auf anderem Arbeitsgebiete
tatsächlich erfolgten Fortschritt zum Inhalt hat.Nehmen Sie an, ein reisender Forscher käme in eine wenig
bekannte Gegend, in welcher ein Trümmerfeld mit Mauerresten,
Bruchstücken von Säulen, von Tafeln mit verwischten und un-
lesbaren Schriftzeichen sein Interesse erweckte. Er kann sich
damit begnügen zu beschauen, was frei zutage liegt, dann die
in der Nähe hausenden, etwa halbbarbarischen Einwohner aus-
fragen, was ihnen die Tradition über die Geschichte und Be-
deutung jener 1nonumentalen Reste kundgegeben hat, ihre Aus-
künfte aufzeichnen und — weiterreisen. Er kann aber auch
anders vorgehen; er kann Hacken, Schaufeln und Spaten mit-
gebracht haben, die Anwohner fiir die Arbeit mit diesen \Verk—
zeugen bestimmen, mit ihnen das Trümmerfeld in Angrifl' neh—
men, den Schutt wegschaifen und von den sichtbaren Resten
aus das Vergrabene entdecken. Lohnt der Erfolg seine Arbeit,
so erläutern die Funde sich selbst; die Manerreste gehören zur
Umwallung eines Palastes oder Schatzhauses, aus den Säulen-S.
149
triimmern ergänzt sich ein Tempel, die zahlreich gefundenen,
im glücklichen Falle bilinguen Inschriften enthüllen ein Alphabet
und eine Sprache, und deren Entzifl'erung und Übersetzung
ergibt ungeahnte Aufschlüsse über die Ereignisse der Vorzeit,
zu deren Gedächtnis jene Monumente erbaut worden sind.
Saxa loquuntur!Will man in annähernd ähnlicher Weise die Symptome
einer Hysterie als Zeugen für die Entstehungsgeschichte der
Krankheit laut werden lassen, so muß man an die bedeutsame
Entdeckung J. Breuers anknüpfen, daß die Symptome
der Hysterie (die Stigmata beiseite) ih r e D eterminie-
rung von gewissen traumatisch wirksamen Erleb-
nissen des Kranken herleiten, als deren Erinne-
rungssymbole sie im psychischen Lebendesselben
reproduziert werden. Man muß sein Verfahren — oder
ein im Wesen gleichartiges —- anwenden, um die Aufmerksam—
keit des Kranken vom Symptom aus auf die Szene zurück-
leiten, in welcher und durch welche das Symptom entstanden
ist, und man beseitigt nach seiner Anweisung dieses Symptom,
indem man bei der Reproduktion der traumatischen Szene eine
nachträgliche Korrektur des damaligen psychischen Ablaufes
durchsetzt.Es liegt heute meiner Absicht völlig ferne, die schwierige
Technik dieses therapeutischen Verfahrens oder die dabei ge-
wonnenen psychologischen Aufklärungen zu behandeln. Ich
mußte nur an dieser Stelle anknüpfen, weil die nach Breuer
vorgenommenen Analysen gleichzeitig den Zugang zu den Ur-
sachen der Hysterie zu eröffnen scheinen. Wenn wir eine größere
Reihe von Symptomen bei zahlreichen Personen dieser Analyse
unterziehen, so werden wir ja zur Kenntnis einer entsprechend
großen Reihe von traumatisch wirksamen Szenen geleitet werden.
In diesen Erlebnissen sind die wirksamen Ursachen der Hysterie
zur Geltung gekommen; wir dürfen also hoffen, aus dem Stu—
dium der traumatischen Szenen zu erfahren, welche Einflüsse
hysterische Symptome erzeugen und auf welche Weise.Diese Erwartung trifft zu, notwendigerweise, da ja die
Sätze von Breue r sich bei der Prüfung an zahlreicheren Fällen
als richtig erweisen. Aber der Weg von den Symptomen derS.
150
Hysterie zu deren Ätiologie ist langwieriger und führt über
andere Verbindungen, als man sich vorgestellt hätte.Wir wollen uns nämlich klar machen, daß die Zurück-
führung eines hysterischen Symptome auf eine traumatische
Szene nur dann einen Gewinn für unser Verständnis mit sich
bringt, wenn diese Szene zweien Bedingungen genügt, wenn sie
die betrefl'ende determinierende Eignung besitzt. und
wenn ihr die nötige traumatische Kraft zuerkannt werden
muß. Ein Beispiel anstatt jeder Worterklärung! Es handle sich
um das Symptom des hysterischen Erbrechens; dann glauben
wir dessen Verursachung (bis auf einen gewissen Rest) durch-
schauen zu können, wenn die Analyse das Symptom auf ein
Erlebnis zurückführt, welches berechtigterweise ein
hohes Maß von Ekel erzeugt hat, wie etwa der Anblick
eines verwesenden menschlichen Leichnams. Ergibt die Analyse
anstatt dessen, daß das Erbrechen von einem großen Schreck,
z. B. bei einem Eisenbahnunfall, herriihrt, so wird man sich
unbefi‘iedigt fragen miissen, wieso denn der Schreck gerade zum
Erbrechen geführt hat. Es fehlt dieser Ableitung an der Eig-
nung zur Determinierung. Ein anderer Fall von un-
genügender Aufklärung liegt vor, wenn das Erbrechen etwa von
dem Genuß einer Frucht herrühren soll, die eine faule Stelle
zeigte. Dann ist zwar das Erbrechen durch den Ekel deter-
miniert, aber man versteht nicht, wie der Ekel in diesem Falle
so mächtig werden konnte, sich durch ein hysterisches Symptom
zu verewigen; es mangelt diesem Erlebnisse an traumati-
s cher Kraft.Sehen wir nun nach, inwieweit die durch die Analyse auf-
gedeckten tranmatischen Szenen der Hysterie bei einer größeren
Anzahl von Symptomen und Fällen den beiden erwähnten An-
sprüchen genügen. Hier stoßen wir auf die erste große Ent-
täuschung! Es trifft zwar einige Male zu, daß die traumatische
Szene, in welcher das Symptom entstanden ist, wirklich beides,
die determinierende Eignung und die traumatische Kraft, be-
sitzt, deren wir zum Verständnis des Symptoms bedürfen. Aber
weit häufiger, unvergleichlieh häufiger, finden wir eine der drei
übrigen Möglichkeiten verwirklicht, die dem Verständnisse so
ungünstig sind: die Szene, auf welche wir durch die AnalyseS.
151
geleitet werden, in welcher das Symptom zuerst aufgetreten ist,
erscheint uns entweder ungeeignet zur Determinierung des
Symptoms, indem ihr Inhalt zur Beschaffenheit des Symptome
keine Beziehung zeigt; oder das angeblich traumatische Er-'
lebnis‚ dem es" an inhaltlicher Beziehung nicht fehlt, erweist
sich als ein normalerweise harmloser, fiir gewöhnlich wirkungs-
unf>ihiger Eindruck; oder endlich die „traumatische Szene“
macht uns nach beiden Richtungen irre; sie erscheint ebenso
harmlos wie ohne Beziehung zur Eigenart des hysterischen
Symptoms.(Ich bemerke hier nebenbei, daß Breuers Auffassung
von der Entstehung hysterischer Symptome durch die Auf-
findung traumatischer Szenen, die an sich bedeutungslosen Er-
lebnissen entsprechen, nicht gestört werden ist. Breuer nahm
nämlich — im Anschlüsse an Charcot — an, daß auch ein
harmloses Erlebnis zum Trauma erhoben werden und deter-
minierende Kraft entfalten kann, wenn es die Person in einer
besonderen psychischen Verfassung, im sogenannten h ypnoi-
den Zustand, betrifft-. Allein ich finde, daß'zur Voraus-
setzung solcher hypnoider Zustände oftmals jeder Anhalt fehlt.
Entscheidend bleibt, daß die Lehre von den hypnoiden Zu-
ständen nichts zur Lösung der anderen Schwierigkeiten leistet,
(laß nämlich den traumatischen Szenen so häufig die deter—
minierende Eignung abgeht.)Eigen Sie hinzu, meine Herren, daß diese erste Ent-
täuschung beim Verfolg der B reue r schen Methode unmittelbar
durch eine andere eingeholt wird, die man besonders als Arzt
schmerzlich empfinden muß. Zurüekführungen solcher Art, wie
wir sie geschildert haben, die unserem Verständnis betrefi‘s der
Determinierung und der traumatisohen Wirksamkeit nicht ge-
nügen, bringen auch keinen therapeutischen Gewinn; der Kranke
hat seine Symptome ungehindert behalten, trotz des ersten Er-
gebnisses, das uns die Analyse geliefert hat. Sie mögen ver-
stehen, wie groß dann die Versuchung wird, auf eine Fort-
setzung der ohnedies mühseligen Arbeit zu verzichten.Vielleicht aber bedarf es nur eines neuen Einfalles, um
uns aus der Klemme zu helfen und zu wertvollen Resultaten
zu führen! Der Einfall ist folgender: Wir wissen ja durchS.
152
Breuer, daß die hysterischen Symptome zu lösen sind, wenn
wir von ihnen aus den Weg zur Erinnerung eines traumatischen
Erlebnisses finden können. Wenn nun die aufgefundene Er-
innerung unseren Erwartungen nicht entspricht, vielleicht ist
derselbe Weg ein Stück weiter zu verfolgen, vielleicht verbirgt
sich hinter der ersten traumatischeu Szene die Erinnerung an
eine zweite, die unseren Ansprüchen besser genügt, und. deren
Reproduktion mehr therapeutische Wirkung entfaltet, so daß
die erstgefnndene Szene nur die Bedeutung eines Bindegliedes
in der Assoziationsverkettnng hat? Und vielleicht wiederholt
sich dieses Verhältnis, die Einscbiebung unwirksamer Szenen als
notwendiger Übergänge bei der Reproduktion mehrmals, bis man
vom hysterischen Symptom aus endlich zur eigentlich traumatisch
wirksamen, in jeder Hinsicht, therapeutisch wie analytisch, be-
friedigenden Szene gelangt? Nun, meine Herren, diese Ver—
mutung ist richtig. Wo die erstaufgefundene Szene unbefriedi-
gend ist, sagen wir dem Kranken, dieses Erlebnis erkläre nichts,
es müsse sich aber hinter ihm ein bedeutsameres, früheres Er-
lebnis verbergen, und lenken seine Aufmerksamkeit nach der-
selben Technik auf den Assoziationsfaden, welcher beide Er-
innerungen, die aufgefundene und die aufzufindende verknüpft 1).
Die Fortsetzung der Analyse führt dann jedesmal zur Repro-
duktion neuer Szenen von den erwarteten Charakteren. Wenn
ich z. B. den vorhin ausgewählten Fall von hysterischem Er-
brechen wieder aufnehme, den die Analyse zunächst auf einen
Schreck bei einem Eisenbahnunfall zurückgeführt hat, welcher
der determinierenden Eignung entbehrt, so erfahre ich aus weiter-
gehender Analyse, daß dieser Unfall die Erinnerung an einen
andern, früher vorgekommenen, geweckt hat, den der Kranke
zwar nicht selbst erlebte, der ihm aber Gelegenheit zu dem
Grauen und Ekel erregenden Anblick eines Leichnams bot. Es
ist, als ob das Zusammenwirken beider Szenen die Erfüllung
unserer Postulate ermöglichte, indem das eine Erlebnis durch‘) Es bleibt dabei absichtlich außer Erörterung, von welchem Rang
die Assoziation der beiden Erinnerungen ist (ob durch Gleichzeitigkeit,
kausaler Art, nach inhaltlicher Ähnlichkeit usw.), und auf welche psycho—
logische Charakteristik die einzelnen „Erinnerungen“ (bewußte oder nn-
bewußte) Anspruch haben. ‚S.
153
den Schreck die traumatische Kraft, das andere durch seinen
Inhalt die determinierende Wirkung beistellt. Der andere Fall,
daß das Erbrechen auf den Genuß eines Apfels zurückgeführt
wird, an dem sich eine faule Stelle findet, wird durch die
Analyse etwa in folgender Weise ergänzt: Der faulende Apfel
erinnert an ein früheres Erlebnis, an das Sammeln abgefallener
Apfel in einem Garten, wobei der Kranke zufällig auf einen
ekelhaften Tierkadaver stieß.Ich will auf diese Beispiele nicht mehr zurückkommen,
denn ich muß das Geständnis ablegen, daß sie? keinem Falle
meiner Erfahrung entstammen, daß sie von mir erfunden sind;
höchstwahrscheinlich sind sie auch schlecht erfunden; derartige
Auflösungen hysterischer Symptome halte ich selbst für un-
möglich. Aber der Zwang, Beispiele zu fingieren, erwächst mir
aus mehreren Momenten, von denen ich eines unmittelbar an-
fi'ihren kann. Die wirklichen Beispiele sind alle nnvergleiehlich
komplizierter; eine einzige ausführliche Mitteilung würde diese
Vortragsstunde ausfüllen. Die Assoziationskette besteht immer
aus mehr als zwei Gliedern, die traumatischen Szenen bilden
nicht etwa einfache, perlschnurartige Reihen, sondern verzweigte,
stammbaumartige Zusammenhänge, indem bei einem neuen Er-
lebnis zwei und mehr frühere als Erinnerungen zur Wirkung
kommen; kurz, die Auflösung eines einzelnen Symptome mit-
teilen, fällt eigentlich zusammen mit der Aufgabe, eine Kranken-
geschichte vollständig darzustellen.‚Wir wollen es nun aber nicht versäumen, den einen Satz
nachdrücklich hervorzuheben, den die analytische Arbeit längs
dieser Erinnerungsketten unerwarteterweise gegeben hat. Wir
haben erfahren, daß kein hysterisches Symptom aus
einem realen Erlebnisse allein hervorgehen kann,
sondern daß alle Male die assoziativ geweckte Er-
innerung an frühere Erlebnisse zur Verursachung
des Symptoms mitwirkt. Wenn dieser Satz _ wie ich
meine —— ohne Ausnahme richtig ist, so bezeichnet er uns
aber auch das Fundament, auf dem eine psychologische Theorie
der Hysterie aufzubauen ist.Sie könnten meinen, jene seltenen Fälle, in welchen die
Analyse das Symptom sofort auf eine traumatische Szene vonS.
154
guter determinierender Eignung und traumatischer Kraft zurück-
fiihrt und es durch solche Zurückführung gleichzeitig wegschafl‘t,
wie dies in Breuers Krankengeschichte der Anna 0. geschil-
dert wird, seien doch mächtige Einwände gegen die allgemeine
Geltung des eben aufgestellten Satzes. Das sieht in der Tat so
aus; allein ich muß sie versichern, ich habe die triftigsten
Gründe, anzunehmen, daß selbst in diesen Fällen eine Verket-
tung wirksamer Erinnerungen vorliegt, die weit hinter die erste
tranmatische Szene zurückreicht, wenngleich die Reproduk-
tion der letzteren allein die Aufhebung des Symptome zur Folge
haben kann.Ich meine, es ist wirklich überraschend, daß hysterische
Symptome nur unter Mitwirkung von Erinnerungen entstehen
können, zumal wenn man erwägt, daß diese Erinnerungen nach
allen Aussagen der Kranken ihnen im Momente, da das Symptom
zuerst auftrat, nicht zum Bewußtsein gekommen waren. Hier
ist Stoff für sehr viel Nachdenken gegeben, aber diese Probleme
sollen uns für jetzt nicht verlocken, unsere Richtung nach der
Atiologie der Hysterie zu verlassen. Wir müssen uns vielmehr
fragen: Wohin gelangen wir, wenn wir den Ketten assoziierter
Erinnerungen folgen, welche die Analyse uns aufdeckt? Wie
weit reichen sie? Haben sie irgendwo ein natürliches Ende?
Führen sie uns etwa zu Erlebnissen, die irgendwie gleichartig
sind, dem Inhalte oder der Lebenszeit nach, so __daß wir in
diesen überall gleichartigen Faktoren die gesuchte Atiologie der
Hysterie erblicken könnten?Meine bisherige Erfahrung gestattet mir bereits, diese
Fragen zu beantworten. \Veun man von einem Falle ausgeht,
der mehrere Symptome bietet, so gelangt man mittels der Ana-
lyse von jedem Symptom aus zu einer Reihe von Erlebnissen,
deren Erinnerungen in der Assoziation miteinander verkettet
sind. Die einzelnen Erinnerungsketten verlaufen zunächst distinkt
voneinander nach rückwärts, sind aber, wie bereits erwähnt,
verzweigt; von einer Szene aus sind gleichzeitig zwei oder mehr
Erinnerungen erreicht, von denen nun Seitenketten ausgehen,
deren einzelne Glieder wieder mit Gliedern der Hauptkette
assoziativ verknüpft sein mögen. Der Vergleich mit dem Stamm-
baum einer Familie, deren Mitglieder auch untereinander ge-S.
155
heiratet haben, paßt hier wirklich nicht übel. Andere Komplika-
tionen der Verkettung ergeben sich daraus, daß eine einzelne
Szene in derselben Kette mehrmals erweckt werden kann, so
daß sie zu einer späteren Szene mehrfache Beziehungen hat,
eine direkte Verknüpfung mit ihr aufweist und eine durch Mittel—
glieder hergestellte. Kurz, der Zusammenhang ist keineswegs ein. einfacher und die Aufdeckung der Szenen in umgekehrter chrono-
logischer Folge (die eben den Vergleich mit der Aufgrahung
eines geschichteten Trümmerfeldes rechtfertigt) trägt zum rasche-
ren Verständnis des Hergenges gewiß nichts bei.Neue Verwicklungen ergeben sich, wenn man die Analyse
weiter fortsetzt. Die Assoziationsketten für die einzelnen Sym-
ptome beginnen dann in Beziehung zueinander zu treten; die
Stammhäume verfleehten sich. Bei einem gewissen Erlebnis der
Erinnerungskette, z. B. für das Erbrechen, ist außer den rück-
läufigen Gliedern dieser Kette eine Erinnerung aus einer andern
Kette erweckt worden, die ein anderes Symptom, etwa Kopf—
schmerz, begründet. J enes Erlebnis gehört darum beiden Reihen
an, es stellt also einen Knotenpunkt der, wie deren in jeder
Analyse mehrere aufzufinden sind. Sein klinisches Korrelat
mag etwa sein, daß von einer gewissen Zeit an die beiden
Symptome zusammen auftreten, symbiotisch, eigentlich ohne
innere Abhängigkeit voneinander. Knotenpunkte anderer
Art findet man noch weiter rückwärts. Dort konvergieren die
einzelnen Assoziationsketten; es. finden sich Erlebnisse, von
denen zwei oder mehrere Symptome ausgegangen sind. An das
eine Detail der Szene hat die eine Kette, an ein anderes Detail
die zweite Kette angekniipft.Das wichtigste Ergebnis aber, auf welches man bei solcher
konsequenten Verfolgung der Analyse stößt, ist dieses: Von
welchem Fall und von welchem Symptom immer man seinen
Ausgang genommen hat, endlich gelangt man unfehlbar
auf das Gebiet des sexuellen Erlebens. Hiermit Wäre
also zuerst eine ätiologische Bedingung hysterischer Symptome'
aufgedeckt.Ich kann nach früheren Erfahrungen voraussehen, daß
gerade gegen diesen Satz oder gegen die Allgemeingiiltigkeit
dieses Satzes Ihr Widerspruch, meine Herren, gerichtet sein wird.S.
156
Ich sage vielleicht besser: Ihre Widerspruchsneigung, denn es
stehen wohl noch keinem von Ihnen Untersuchungen zu Gebote,
die, mit demselben Verfahren angestellt, ein anderes Resultat
ergeben hätten. Zur Streitsaehe selbst will ich nur bemerken,
daß die Auszeichnung des sexuellen Momentes in der Ätiologie
der Hysterie bei mit mindestens keiner vorgefaßten Meinung
entstammt. Die beiden Forscher, als deren Zögling ich meine
Arbeiten über Hysterie begonnen habe, Charcot wie Breuer.
standen einer derartigen Voraussetzung ferne, ja sie brachten
ihr eine persönliche Abneigung entgegen, von der ich anfangs
meinen Anteil übernahm. Erst die mühseligsten Detailunter-
suchungen haben mich, und zwar langsam genug, zu der Meinung
bekehrt, die ich heute vertrete. Wenn Sie meine Behauptung,
die Ätiologie auch der Hysterie läge 1m Sexualleben, der strengsten
Prüfung unterziehen, so erweist sie sich als vertretbar durch
die Angabe, daß ich in etwa 18 Fällen von Hysterie diesen
Zusammenhang fiir jedes einzelne Symptom erkennen und, wo
es die Verhältnisse gestatteten, durch den therapeutischen Erfolg
bekräftigen konnte. Sie können mir dann freilich einwenden,
die 19. und die 20. Analyse werden vielleicht eine Ableitung
hysterischer Symptome auch aus anderen Quellen kennen lehren
und damit die Gültigkeit der sexuellen Ätiologie von der All-
gemeinheit auf 80°/,) einschränken. Wir wollen es gerne ab-
warten, aber da. jene 18 Fälle gleichzeitig alle sind, an denen
ich die Arbeit der Analyse unternehmen konnte‚ und da niemand
diese Fälle mir zum Gefallen ausgesucht hat, werden Sie es
begreiflieh finden, daß ich jene Erwartung nicht teile, sondern
bereit bin, mit meinem Glauben über die Beweiskraft meiner
bisherigen Erfahrungen hinauszugehen. Dazu bewegt mich übrigens
noch ein anderes Motiv von einstweilen bloß subjektiver Geltung.
In dem einzigen Erklärungsversuch fiir den physiologischen und
psychischen Mechanismus der Hysterie, den ich mir zur Zu-
sammenfassung_meiner Beobachtungen gestalten konnte, ist mir
'die Einmengung sexueller Triebkräfte zur unentbehrlichen Voraus-
setzung geworden.Also man gelangt endlich, nachdem die Erinnerungsketteri
konvergiert haben, auf sexuelles Gebiet und zu einigen wenigen
Erlebnissen, die zumeist in die nämliche Lebensperiode, in dasS.
157
Alter der Pubertät fallen. Aus diesen Erlebnissen soll man
die Atiologie der Hysterie entnehmen und durch sie die Ent-
stehung hysterischer Symptome verstehen lernen.'Hier erlebt
man aber eine neue und schwerwiegende Enttäuschung! Die
mit soviel Mühe aufgefundenen, aus allem Erinnerungsrnaterial
extrahierten, anscheinend letzten traumatischen Erlebnisse haben
zwar die beiden Charaktere: Sexualität und Pubertätszeit gemein,
sind aber sonst so sehr disparat und ungleichwertig.
In einigen Fällen handelt es sich wohl um Erlebnisse, die wir
als schwere Traumen anerkennen müssen, um einen Versuch
der Vergewaltigung, der dem unreifen Mädchen mit einem Schlage
die ganze Brutalität der Geschlechtslust enthüllt, um eine nn-
freiwillige Zeugenschei't bei sexuellen Akten der Eltern, die in
Einem ungeahntes Häßliches entdeckt und das kindliche wie das
moralische Gefühl verletzt u. dgl. In anderen Fällen sind diese
Erlebnisse von erstaunlicher Geringi'ügigkeit. Eine meiner
Patientinnen zeigte zugrunde ihrer Neurose das Erlebnis, daß
ein ihr befreundeter Knabe zärtlich ihre Hand streichelte und
ein andermal seinen Unter$chenkel an ihr Kleid drängte, während
sie nebeneinander bei Tische saßen, wobei noch seine Miene
sie erraten ließ, es handle sich um etwas Unerlsubtes. Bei einer
andern jungen Dame hatte gar das Anhören einer Scherzfrage7
die eine obszöne Beantwortung ahnen ließ, hingereicht, den
ersten Angstanfall hervorzurut'en und damit die Erkrankung zu
eröffnen. Solche Ergebnisse sind offenbar einem Verständnis für
die Verursachung hysterischer Symptome nicht günstig. Wenn
es ebensowohl schwere wie geringfügige Erlebnisse, ebensowohl
Erfahrungen am eigenen Leib wie visuelle Eindrücke und durch
das Gehör empfangene Mitteilungen sind, die sich als die letzten
Traumen der Hysterie erkennen lassen, so kann man etwa die
Deutung versuchen, die Hysterischen seien besonders geartete
Menschenkinder — wahrscheinlich infolge erbliclier Veranlagung
oder degenerativer Verkümmerung -— bei denen die Scheu vor
der Sexualität, die im Pnbertätsalter normalerweise eine gewisse
Rolle spielt, ins Pathologische gesteigert und dauernd fest-
gehalten wird; gewissermaßen Personen, die den Anforderungen
der Sexualität psychisch nicht Genüge leisten können. Man
vernachlässigt bei dieser Aufstellung allerdings die Hysterie derS.
158
Männer; aber auch, wenn es derartige grobe Einwände nicht
gäbe, wäre die Versuchung kaum sehr groß, bei dieser Lösung
stehen zu bleiben. Man verspürt hier nur zu deutlich die
intellektuelle Empfindung des Halbverstandenen, Unklaren und
Unzureichenden.Zum Glück für unsere Aufklärung zeigen einzelne der
sexuellen Pubertätserlebnisse eine weitere Unzulänglichkeit, die
geeignet ist, zur Fortsetzung der analytischen Arbeit anzuregen.
Es kommt nämlich vor, daß auch diese Erlebnisse der determi-
nierenden Eignung entbehren, wenngleich dies hier viel seltener
ist als bei den traumatischen Szenen aus späterer Lebenszeit,
So z. B. hatten sich bei den beiden Patientinnen, die ich vorhin
als Fälle mit eigentlich harmlosen Pubertätserlebnissen angeführt
habe, im Gefolge dieser Erlebnisse eigentümliche schmerzhafte
Empfindungen in den Genitalieu eingestellt, die sich als Haupt-
symptome der Neurose fortgesetzt hatten, deren Determinierung
weder aus den Pubertätsszenen noch aus späteren abzuleiten war,
die aber sicherlich nicht zu den normalen Organempfindungen
oder zu den Zeichen sexueller Aufregung gehörten. Wie nahe
lag es nun, sich hier zu sagen, man müsse die Determinierung
dieser Symptome in noch anderen, noch weiter zurückreichendeu
Erlebnissen suchen, man müsse hier zum zweiten Male jenem
rettenden Einfall folgen, der uns vorhin von den ersten trauma-
tischen Szenen zu den Erinnerungsketten hinter ihnen geleitet?
Man kommt damit freilich in die Zeit der ersten Kindheit, die
Zeit vor der Entwicklung des sexuellen Lebens, womit ein
Verzicht auf die sexuelle Ätiologie verbunden scheint. Aber
hat man nicht ein Recht, anzunehmen, daß es auch dem Kindes—
alter an leisen sexuellen Erregungen nicht gebricht, ja., daß
vielleicht die spätere sexuelle Entwicklung durch Kindererlebnisse
in entscheidender Weise beeinflußt wird? Schädigungen, die
das unausgebildete Organ, die in Entwicklung begriffene Funktion,
trefl'en, verursachen ja._ so häufig schwerere und nachheltigere
Wirkungen, als sie im reiferen Alter entfalten könnten. Vielleicht
liegen der abnormen Reaktion gegen sexuelle Eindrücke, durch
welche uns die Hysterischen in der Pubertätszeit überraschen,
ganz allgemein solche sexuelle Erlebnisse der Kindheit zugrunde,
die dann von gleichförmiger und bedeutsamer Art sein müßten?S.
159
Man gewänne so eine Aussicht, als frühzeitig erworben auf-
zuklären, was man bisher einer durch die Heredität doch nicht
verständlichen Prädisposition zur Last legen mußte. Und da
infantile Erlebnisse sexuellen Inhaltes doch nur durch ihre
E rin n e r u n g s sp ur e n eine psychische Wirkung äußern könnten,
wäre dies nicht eine willkommene Ergänzung zu jenem Ergebnis
der Analyse, daß hysterische Symptome immer nur
unter der Mitwirkung von Erinnerungen entstehen?II.
Sie erraten es wohl, meine Herren, (laß ich jenen letzten
Gedankengang nicht so weit ausgesponnen hätte, wenn ich Sie
nicht darauf vorbereiten wollte, daß er allein es ist, der uns
nach so vielen Verzögerungen zum Ziele führen wird. Wir
stehen nämlich wirklich am Ende unserer langwierigen und
beschwerlichen analytischen Arbeit und finden hier alle bisher
festgehaltenen Ansprüche und Erwartungen erfüllt. Wenn wir
die Ausdauer haben, mit der Analyse bis in die frühe Kindheit
vorzudringen, so weit zurück nur das Erinnerungsvermögen eines
Menschen reichen kann, so veranlassen wir in allen Fällen den
Kranken zur Reproduktion von Erlebnissen, die infolge ihrer Be-
sonderheiten sowie ihrerBeziehungen zu den späteren Krankheits-
symptomen als die gesuchte Ätiologie der Neurose betrachtet
werden müssen. Diese infantilen Erlebnisse sind wiederum
sexuellen Inhalts, aber weit gleichförmigerer Art als die
letztgefundenen Pubertätsszenen; es handelt sich bei ihnen nicht
mehr um die Erweckung des sexuellen Themas durch einen
beliebigen Sinneseindruck, sondern um sexuelle Erfahrungen am
eigenen Leib, um geschlechtlichen Verkehr (im weiteren
Sinne). Sie gestehen mir zu, daß die Bedeutsamkeit solcher
Szenen keiner weiteren Begründung bedarf; fügen Sie nun noch
hinzu, daß Sie in den Details derselben jedesmal die deter-
minierenden Momente auffinden können, die Sie etwa in den
anderen, später erfolgten und früher reproduzierten Szenen
noch vermißt hätten. 'Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles
von Hysterie befinden sich — durch die analytische Arbeit
reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden ZeitintervallesS.
160
— ein oder Iniehrere ‘Erle'bni'ss'eivtfi'si 'vorzeitiger
sexueller Erfahrung, die der frühesten Jhgéfid ’an'gehören.
Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung‚ für. die Anffinclung
eines capnt Nili der Neuropethologie, aber —ichweiß kaum,
wo anznkniipfen, um die Erörterung dieser Verhiiltfiisse fort-
zui‘ühreh. Soll ich mein aus den Analysen gev'vonnenes tatsächliches
Material vor Ihnen ausbreiten, oder soll ich nicht lieber vorerst
der Masse von Einwänden und Zweifeln zu begegnen s'ucben'7
die jetzt von Ihrer Aufmerksamkeit Besitz ergrifi'en haben, wie
ich wohl mit Recht vermuten darf? Ich wähle das letztere;
vielleicht können ‚wir dann um so ruhiger beim Tatsächlichen
verweilen: ' 'a) Wer der psychologischen Auffassung der Hysterie über-
haupt feindlich entgegensteht, die Hofl"nung nicht aufgeben möchte,
daß es einst gelingen wird, ihre Symptome anfv„feinere anato-
mische Veränderungen“ znrückzuführen, und die Einsicht ab-
gewiesenhat, daß die materiellen. Grundlagen der hysterischen
Veränderungen nicht anders als gleichartig sein können mit
jenen Mserervnotmalen Seelenvorgänge, der wird selbstverständ-
lich für die Ergebnisse unserer Analysen kein Vertrauen übrig
haben; die prinzipielle Verschiedenheit seiner Voraussetzungen
von den unserigen entbindet uns aber auch der Verpflichtung,
ihn in einer Einzelfrage zu überzeugen. 'Aber auch ein anderer, der sich minder abweisend gegen
die psychologischen Theorien der Hysterie verhält, wird an-
gesichts unserer analytischen Ergebnisse die Frage aufzuwerfen
versucht sein, welche Sicherheit die Anwendung der Psycho-
analyse mit sich bringt, ob es denn nicht sehr wohl möglich
sei, daß entweder der Arzt solche Szenen als angebliche Er-
innerung dem gefälligen Kranken aufdrängt, oder daß der
Kranke ihm absichtliche Erfindungen und freie Phantasien vor-
trägt, die jener fiir echt annimmt. Nun, ich habe darauf zu er-
widern, die allgemeinen Bedenken gegen die Verläßlichkeit der
psychoem‘alytiéchen Methode können erst gewürdigt und beseitigt
werden, wenn eine vollständige Darstellung ihrer Technik und
ihrer Resultate vorliegen Wird; die Bedenken “gegen die "Echt-
heit der -infaritile'n Séxualszenén-aber kann man bereits he'nte
durch n'whr— als ein Arégmäent entkräi'ten;Zunächstist das Be:..'\.
S.
161
nehrhen der Kranken, während sie diese“ infantil‘en Erlebnisse
reproduzieren, nach allenBich-tu%en hin unvereinbar :mit„‚der
Annahnie, die Szenen seien etwas—anderes. als peinlich‘empfnn-
dene und höchst ungern erinnerte Realität; Die. Kranken wissen
rer Anwendung der Analyse nichts' von diesen Szenen, sie
pflegen sich zu empören, wenn man ihnen etwa das Auftauchen
derselben ankiindigt; sie'könrien nur durch den stärksten Zwang
der Behandlung bewegen werden, sich in deren Reproduktion
einzulassen, sie leiden unter den heftigsten Sensationen, deren
sie sich sohiimen und die sie zu verbergen trachten, während
sie sich diese infantilen Erlebnisse ins Bewußtsein rufen, und
noch, nachdem sie dieselben in so überzeugender Weise wieder
durchgeinacht haben, versuchen sie es, ihnen den Glauben zu
versagen, indem sie betonen, daß sich» hierfür nicht wie bei an-,
derm Vergessenem ein Erinnérungsgefühl eingestellt hat.Letzteres Verhalten scheint nun absolut beweiskräftig zu.
sein. \Vozn sollten die Kranken mich so entschieden ihres Un-
glaubens versichern, wenn sie aus irgend einem Motiv die
Dinge, die sie entwerten wollen, selbst erfunden haben?Daß der Arzt dem Kranken derartige Reminiszenzen auf—
dränge, ihn zu ihrer Vinstellung und Wiedergabe suggeriere, ist
weniger bequem zu widerlegen, erscheint mir aber ebenso un-
haltbar. Mir ist es noch nie gelungen, einem Kranken eine
Szene, die ich erwartete, derart aufzudrängen, daß er sie mit
allen zu ihr gehörigen Empfindungen zu durchleben schien;
vielleicht trefl'en es andere besser.Es gibt aber noch eine ganze Reihe anderer Bürgschaften
für die Realität der infantilen Sexualszenen. Zunächst deren
Uniformität in gewissen Einzelheiten, wie sie sich aus den
gleichartig wiederkehrenden Voraussetzungen dieser Erlebnisse
ergeben muß, während man sonst geheime Verabredungen zwi-
schen den einzelnen Kranken fiir glaubhaft haltenmiißte. So«
dann, daß die Kranken gelegentlich wie harmlos Vorgänge be-
schreiben, deren Bedeutung sie offenbar; nicht verstehen, weil
sie sonst entsetzt sein müßten, oder daß sie, ohne Wert darauf
zu legen, Einzelheiten berühren, die nur ein Lebenserfahrener
kennt und als feine Charakterzüge des Realen zu schätzen
versteht. 'Freud, Neuroseniehre. I. 3. Auflage. 11
S.
162
Verstärken solche Vorkommnisse den Eindruck, daß die
Kranken wirklich erlebt haben müssen, was sie unter dem
Zwang der Analyse als Szene aus der Kindheit reproduzieren,
so entspringt ein anderer und mächtigerer Beweis hierfür aus
der Beziehung der Infantilszenen zum Inhalt der ganzen übrigen
Krankengeschichte. Wie bei den Zusammenlegbildern der Kinder
sich nach mancherlei Probieren schließlich eine absolute Sicher-
heit herausstellt, welches Stück in die freigelassene Lücke ge-
hört — weil nur dieses eine gleichzeitig das Bild ergänzt und
sich mit seinen unregelmäßigen Zecken zwischen die Zecken der
anderen so einpassen läßt, daß kein freier Raum bleibt und kein
Übereinanderschieben notwendig wird —‚ so erweisen sich die
Infantilszenen inhaltlich als unabweisbare Ergänzungen für das
assoziative und logische Gefüge der Neurose, nach deren Ein—
fügung erst der Hergang verständlich — man möchte oftmals
sagen: selbstverständlich — wird. 'Daß auch der therapeutische Beweis für die Echtheit der
Infantilszenen in einer Reihe von Fällen zu erbringen ist, füge
ich hinzu, ohne diesen in den Vordergrund drängen zu wollen.
Es gibt Fälle, in denen ein vollständiger oder pautieller Heil-
erfolg zu erreichen ist, ohne daß man bis zu den Infantilerleb-
nissen herabsteigen muß; andere, in welchen jeder Erfolg aus-
bleibt, ehe die Analyse ihr natürliches Ende mit der Anfdeckung
der frühesten Traumen gefunden hat. Ich meine, im ersteren
Falle sei man vor Rezidiven nicht gesichert; ich erwarte, daß
eine vollständige Psychoanalyse die radikale Heilung einer
Hysterie bedeutet. Indes, greifen wir hier den Lehren der Er-
fahrung nicht vor!Es gäbe noch einen, einen wirklich unantastbaren Beweis
für die Echtheit der sexuellen Kindererlebnisse, wenn nämlich
die Angaben der einen Person in der Analyse durch die Mit-
teilung einer andern Person in oder außerhalb einer Behand-
lung bestätigt würden. Diese beiden Personen müßten in ihrer
Kindheit an demselben Erlebnis Anteil genommen haben, etwa
in einem sexuellen Verhältnis zueinander gestanden sein. Solche
Kinderverhältnisse sind, wie Sie gleich hören werden, gar nicht
selten; es kommt auch häufig genug vor, daß beide Beteiligte
später an Neurosen erkranken, und doch, meine ich, ist es einS.
163
Glücksfall, daß mir eine solche objektive Bestätigung unter
18 Fällen zweimal gelungen ist. Einmal war es der gesund ge-
bliebene Bruder, der mir unaufgefordert zwar nicht die frühesten
Sexualerlebnisse mit seiner kranken Schwester, aber wenigstens
solche Szenen aus ihrer späteren Kindheit und die Tatsache
von weiter zurückreichenden sexuellen Beziehungen bekräftigte.
Ein andermal traf es sich, daß zwei in Behandlung stehende
Frauen als Kinder mit der nämlichen männlichen Person sexuell
verkehrt hatten, wobei einzelne Szenen ä. trois zustande gekom-
men waren. Ein gewisses Symptom, das sich von diesen Kinder-
erlebnissen ableitete, war, als Zeuge dieser Gemeinschaft, in
beiden Fällen zur Ausbildung gelangt.b) Sexuelle Erfahrungen der Kindheit, die in Reizungen
der Genitalien, koitusähnlichen Handlungen usw. bestehen, sollen
also in letzter Analyse als jene Traumen anerkannt werden,
von denen die hysterische Reaktion gegen Pubertätserlebnisse
und die Entwicklung hysterischer Symptome ausgeht. Gegen
diesen Ausspruch werden sicherlich von verschiedenen Seiten
zwei zueinander gegensätzliche Einwendungen erhoben werden.
Die einen werden sagen, derartige sexuelle Mißbräuche, an
Kindern verübt oder von Kindern untereinander, kämen zu
selten vor, als daß man mit ihnen die Bedingtheit einer so
häufigen Neurose wie der Hysterie decken könnte; andere werden
vielleicht geltend machen, dergleichen Erlebnisse seien im Gegen-
teil sehr häufig, allzu häufig, als daß man ihrer Feststellung
eine ätiologische Bedeutung znsprechen könnte. Sie werden
ferner anfiihren, daß es bei einiger Umfrage leicht fällt, Per—
sonen aufzufinden, die sich an Szenen von sexueller Verführung
und sexuellem Mißbrauche in ihren Kinderjahren erinnern, und
die doch niemals hysterisch gewesen sind. Endlich werden wir
als schwerwiegendes Argument zu hören bekommen, daß in den
niederen Schichten der Bevölkerung die Hysterie gewiß nicht
häufiger vorkommt als in den höchsten, während doch alles
dafür spricht, daß das Gebot der sexuellen Schonung des
Kindesalters an den Proletarierkindern ungleich häufiger über=
treten wird.Beginnen wir unsere Verteidigung mit dem leichteren Teil
der Aufgabe. Es scheint mir sicher, daß unsere Kinder weit11*
S.
164
häufiger sexuellen Angriffen ausgesetzt sind, als man nach der
geringen, von den Eltern hierauf verwendeten Fürsorge erwarten
sollte. Bei den ersten Erkundigungen, was über dieses Thema
bekannt sei, erfuhr ich von Kollegen, daß mehrere Publikationen
von Kinderärzten vorliegen, welche die Häufigkeit sexueller
Praktiken selbst an Säuglingen von seiten der Ammen und
Kinderfrauen anklagen, und aus den letzten Wochen ist mir
eine von Dr. Stekel in Wien herrührende Studie in die Hand
geraten, welche sich mit dem „Koitus im Kindesalter“
beschäftigt (Wiener medizinische Blätter, 18. April 1896). Ich
habe nicht Zeit gehabt, andere literarische Zeugnisse zu sam-
meln, aber selbst wenn diese sich nur vereinzelt fänden, dürfte
man erwarten, daß mit der Steigerung der Aufmerksamkeit für
dieses Thema. sehr bald die große Häufigkeit von sexuellen Er-
lebnissen und sexueller Betätigung im Kindesalter bestätigt
werden wird.Schließlich sind die Ergebnisse meiner Analyse imstande,
fiir sich selbst zu sprechen. In sämtlichen 18 Fällen (von reiner
Hysterie und Hysterie mit Zwangsvorstellungen kombiniert
6 Männer und 12 Frauen) bin ich, wie erwähnt, zur Kenntnis
solcher sexueller Erlebnisse des Kindesalters gelangt. Ich kann
meine Fälle in drei Gruppen bringen, je nach der Herkunft
der sexuellen Reizung. *In der ersten Gruppe handelt es sich
um Attentate, einmaligen oder doch vereinzelten Mißbrauch
meist weiblicher Kinder von seiten erwachsener, fremder Indi—
viduen (die dabei groben, mechanischen Insult zu vermeiden
verstanden), wobei die Einwilligung der Kinder nicht in Frage
kam und als nächste Folge des Erlebnisses der Schreck über-
weg. Eine zweite Gruppe bilden jene weit zahlreicheren Fälle,
in denen eine das Kind wartende erwachsene Person — Kinder-
mädchen, Kindsfrau, Gouvernanle, Lehrer, leider auch allzu-
häufig ein naher Verwandter —— das Kind in den sexuellen Ver-
kehr einführte und ein — auch nach der seelischen Richtung
ansgebildetes — förmliches Liebesverhältnis, oft durch Jahre,
mit ihm unterhielt. In die dritte Gruppe endlich gehören die
eigentlichen Kinderverhältnisse, sexuelle Beziehungen zwischen
zwei Kindern verschiedenen Geschlechtes, zumeist zwischen Ge-
schwistern, die 0ft*über die Pubertät hinaus fortgesetzt werden,S.
165
und die nachhaltigsten Folgen für das betreffende Paar mit
sich bringen. In den meisten meiner Fälle ergab sich kombi-
nierte Wirkung von zwei oder mehreren solcher Ätiologien; in
einzelnen war die Häufung der sexuellen Erlebnisse von ver-
schiedenen Seiten her geradezu erstaunlich. Sie verstehen aber
diese Eigentümlichkeit meiner Beobachtungen leicht, wenn Sie
in Betracht ziehen, daß ich durchweg Fälle von schwerer neu-
rotischer Erkrankung, die mit Existenzunfiihigkeit drohte, zu
behandeln hatte.Wo ein Verhältnis zwischen zwei Kindern verlag, gelang
nun einige Male der Nachweis, daß der Knabe — der auch
hier die aggressive Rolle spielt — vorher von einer erwachsenen
weiblichen Person verführt werden war, und daß er dann unter
dem Drucke seiner vorzeitig geweckten Libido und infolge des
Erinnerungszwanges an dem kleinen Mädchen genau die näm-
lichen Praktiken zu wiederholen suchte, die er bei der Er-
wachsenen gelernt hatte. ohne daß er selbständig eine Modifika-
tion in der Art der sexuellen Betätigung vorgenommen hätte.Ich bin daher geneigt, anzunehmen, daß ohne vorherige
Verführung Kinder den Weg zu Akten sexueller Aggression
nicht zu finden vermögen. Der Grund zur Neurose würde dem-
nach im Kindesalter immer von seiten Erwachsener gelegt, und
die Kinder selbst übertragen einander die Disposition, später
an Hysterie zu erkranken. Ich bitte, verweilen Sie noch einen
Moment bei der besonderen Häufigkeit sexueller Beziehungen
im Kindesalter gerade zwischen Geschwistern und Vettern in-
folge der Gelegenheit zu häufigen Beisammensein, stellen Sie
sich vor, daß 10 oder 15 J ahre später in dieser Familie mehrere
Individuen der jungen Generation krank gefunden werden, und
fragen Sie sich, ob dieses familiäre Auftreten-der Neurose nicht
geeignet ist, zur Annahme einer erblichen Disposition zu ver-
leiten, wo doch nur eine Pseudoheredität vorliegt und in
'Wirklichkeit eine Übertragung, eine Infektion in der Kindheit
stattgefunden hat. 'Nun wenden wir uns zu dem andern Einwand, welcher
gerade auf der zugestandenen Häufigkeit infantiler Sexual-
erlehnisse und auf der Erfahrung fußt, daß viele Personen sich
an solche Szenen erinnern, die nicht hysterisch geworden sind.S.
166
Dagegen sagen wir zunächst, daß die übergroße Häufigkeit eines
ätiologischen Momentes unmöglich zum Vorwurf gegen dessen
ätiologische Bedeutung verwendet werden kann. Ist der Tuberkel-
bazillus nicht allgegenwärtig und wird von weit mehr Menschen
eingeatmet, als sich an Tuberkulose erkrankt zeigen? Und wird
seine ätiologische Bedeutung durch die Tatsache geschädigt, daß
er offenbar der Mitwirkung anderer Faktoren bedarf, um die
Tuberkulose, seinen spezifischen Eifekt hervorzurufen? Es reicht
für seine Würdigung als spezifische Ätiologie aus, daß Tuber-
kulose nicht möglich ist ohne seine Mitwirkung. Das gleiche
gilt wohl auch für unser Problem. Es stört nicht, wenn viele
Menschen infantile Sexualszenen erleben ohne hysterisch zu
werden; wenn nur alle, die hysterisch werden, solche Szenen
erlebt haben. Der Kreis des Vorkommens eines ätiologischen
Faktors darf gerne ausgedehnter sein als der seines Efl'ektes‚
nur nicht enger. Es erkranken nicht alle an Blattern, die einen
Blatternkranken berühren oder ihm nahe kommen, und doch
ist Übertragung von einem Blatternkranken fast die einzige
uns bekannte Ätiologie der Erkrankung.Freilich, wenn infantile Betätigung der Sexualität ein fast
allgemeines Vorkommnis wäre, dann fiele auf deren Nachweis
in allen Fällen kein Gewicht. Aber erstens wäre eine derartige
Behauptung sicherlich eine arge Übertreibung, und zweitens
ruht der ätiologische Anspruch der infantilen Szenen nicht
allein auf der Beständigkeit ihres Vorkommens in der Anamnese
der Hysterischen, sondern vor allem auf dem Nachweis der
assoziativen und logischen Bande zwischen ihnen und den
hysterischen Symptomen, der Ihnen aus einer vollständig mit-
geteilten Krankengeschichte sonnenklar einleuchten würde.Welches mögen die anderen Momente sein, deren die
„spezifische Atiologie“ der Hysterie noch bedarf, um die Neu-
rose wirklich zu produzieren? Dies, meine Herren, ist eigentlich
ein Thema für sich, das ich zu behandeln nicht vorhabe; ich
brauche heute bloß die Kontaktstelle aufzuzeigen, an welcher
die beiden Teilstücke des Themas — spezifische und Hilfs-
ätiologie — ineinander greifen. Es wird wohl eine ziemliche
Anzahl von Faktoren in Betracht kommen, die erbliche und
persönliche Konstitution, die innere Bedeutsamkeit der infautilcnS.
167
Sexualerlebnisse, vor allem deren Häuinng; ein kurzes Ver-
hältnis mit einem fremden, später gleichgültigen Knaben wird
an Vl’irksamkeit zurückstehen gegen mehrjährige, innige, sexuelle
Beziehungen zum eigenen Bruder. Es sind in der Ätiologie der
Nemosen quantitative Bedingungen ebensowohl bedeutsam wie
qualitative; es sind Schwellenwerte zu überschreiten, wenn die
Krankheit manifest werden soll. Ich halte die obige ätiologische
Reihe übrigens selbst nicht für vollzählig und das Rätsel, warum
die Hysterie in den niederen Ständen nicht häufiger ist, durch
sie noch nicht erledigt. (Erinnern Sie sich übrigens, welche
überraschend große Verbreitung Charcot für die männliche
Hysterie des Arbeiterstandes behauptete.) Ich darf Sie aber
auch daran mahnen, daß ich selbst vor wenigen Jahren auf ein
bisher wenig gewürdigtes Moment hingewiesen habe, für welches
ich die Hauptrolle in der Hervorrufung der Hysterie nach der
Pubertät in Anspruch nehme. Ich habe damals ausgeführt, daß
sich der Ausbruch der Hysterie fast regelmäßig auf einen
psychischen Konflikt zurückfiihren läßt, indem eine unver-
trägliche Vorstellung die Abwehr des Ich rege mache und zur
Verdrängung auffordere. Unter welchen Verhältnissen dieses
Abwehrbeaitreben den pathologischen Effekt hat, die dem Ich
peinliche Erinnerung wirklich ins Unbewußte zu drängen und
an ihrer Statt ein hysterisches Symptom zu schaffen, das konnte
ich damals nicht angeben. Ich ergänze es heute: Die Abwehr
erreicht dann ihre Absicht, die nnverträgliche Vor-
stellung aus dem Bewußtsein zu drängen, wenn bei
der betreffenden, bis dahin gesunden Person infan-
tile Sexualszenen als unbewußte Erinnerungen vor-
handen sind, und wenn die zu verdrängende Vorstel-
lung in logischen oder assoziativen Zusammenhang mit
einem solchen infantilen Erlebnis gebrachtwerden kann.Da das Abwehrhestreben des Ich von der gesamten
moralischen und intellektuellen Ausbildung der Person abhängt,
sind wir nun nicht mehr ohne jedes Verständnis für die Tat-
sache, daß die Hysterie beim niederen Volk so viel seltener ist,
als ihre spezifische Atiologie gestatten würde.Meine Herren, kehren wir noch einmal zurück zu jener
letzten Gruppe von Einwänden, deren Beantwortung uns soS.
168
weit geführt hat. Wir haben gehört und anerkannt, daß es
zahlreiche Personen gibt, die infantile Sexualerlebnisse sehr
deutlich erinnern, und die doch nicht hysterisch sind. Dieser
Einwand ist ganz ohne Gewicht, er wird uns aber Anlaß zu
einer wertvollen Bemerkung bieten. Personen dieser Art dürfen
nach unserem Verständnis der Neurose gar nicht hysterisch
sein, oder wenigstens nicht hysterisch infolge der Szenen, die
sie bewußt erinnern. Bei unseren Kranken sind diese Erinne-
rungen niemals bewußt; wir heilen sie aber von ihrer Hysterie,
indem wir ihnen die unbewußten Erinnerungen der Infantil-
szenen in bewußte verwandeln. An der Tatsache, daß sie solche
Erlebnisse gehabt haben, konnten und brauchten wir nichts zu
ändern. Sie ersehen daraus, daß es auf die Existenz der in-
fantilen Sexualerlebnisse allein nicht ankommt, sondern, daß
eine psychologische Bedingung noch dabei ist. Diese Szenen
müssen als unbewußte Erinnerungen vorhanden sein; nur
so lange und insofern sie unbewußt sind, können sie hysterische
Symptome erzeugen und unterhalten. Wovon es aber abhängt, ob
diese Erlebnisse bewußte oder unbewußte Erinnerungen ergeben,
ob die Bedingung hierfür im Inhalt der Erlebnisse, in der Zeit,
zu der sie vorfallen, oder in späteren Einflüssen liegt, dies ist
ein neues Problem, dem wir behutsam aus dem Wege gehen
wollen. Lassen Sie sich bloß daran mahnen, daß uns die Analyse
als erstes Resultat den Satz gebracht hat: Die hysterischen
Symptome.sind Abkömmlinge unbewußt wirkender
Erinnerungen.8) Wenn wir daran festhalten, infantile Sexualerlebnisse
seien die Grundbedingung, sozusagen die Disposition der
Hysterie, sie erzeugen die hysterischen Symptome aber‘nicht
unmittelbar, sondern bleiben zunächst wirkungslos und wirken
pathogen erst später, wenn sie im Alter nach der Pubertät als
unbewußte Erinnerungen geweckt werden, so haben wir uns mit
den zahlreichen Beobachtungen auseinanderzusetzen, welche das
Auftreten hysterischer Erkrankung bereits im Kindesalter und
vor der Pubertät erweisen. Indes löst sich die Schwierigkeit
wieder, wenn'wir die aus den Analysen gewonnenen Daten
über die 'zeitlichen Umstände der infantilen Sexualerlebnisse
näher betrachten. Man erfährt dann, daß in unseren schwerenS.
169
Fällen die Bildung hysterischer Symptome nicht etwa aus-
nahmsweise, sondern eher regelmäßig mit dem 8. Jahr be-
ginnt, und daß die Sexuslerlebnisse, die keine unmittelbare
Wirkung äußern, jedesmal weiter zurückreiehen, ins $., 4.‚ selbst
ins 2. Lebensjahr. Da in keinem einzigen Fall die Kette der
wirksamen Erlebnisse mit. dem 8. Jahr abbricht, muß ich an-
nehmen, daß diese Lebensperiode, in welcher der Wachstums-
schub der zweiten Dentition erfolgt, für die Hysterie eine Grenze
bildet, von welcher an ihre Verursachung unmöglich wird. Wer
nicht frühere Sexualerlebnisse hat, kann von da an nicht mehr
zur Hysterie dispcniert werden; wer solche hat, kann nun bereits
hysterische Symptome entwickeln. Das vereinzelte Vorkommen
von Hysterie auch jenseits dieser Altersgrenze (vor 8 Jahren)
ließe sich noch als Erscheinung der Frühreife deuten. Die
Existenz dieser Grenze hängt sehr wahrscheinlich mit Ent-
wicklungsvorgängen im Sexualsystem zusammen. Verfrühung
der sometischén Sexualentwicklung kommt häufig zur Beob-
achtung, und es ist selbst denkbar, daß sie durch vorzeitige
sexuelle Reizung befördert werden kann.Man gewinnt so einen Hinweis darauf, daß ein gewisser
inf antiler Zustand der psychischen Funktionen wie des Sexual-
systems erforderlich ist, damit eine in diese Periode fallende
sexuelle Erfahrung später als Erinnerung pathogene Wirkung
entfalte. Ich getraue mich indes noch nicht, über die Natur
dieses psychischen Infantilismus und über seine zeitliche Be-
grenzung Näheres auszussgen.(1) Eine weitere Einwendu.ng könnte etwa daran Anstoß
nehmen, daß die Erinnerung der infantilen Sexualerlebnisse so
großartige pathogene Wirkung äußern soll, während das Erleben
derselben selbst wirkungslos geblieben ist. Wir sind ja in der
Tat nicht daran gewöhnt, daß von einem Erinnerungsbild Kräfte
ausgehen, welche dem realen Eindruck gefehlt haben. Sie be-
merken hier übrigens, mit welcher Konsequenz bei der Hysterie
der Satz durchgeführt ist, daß Symptome nur aus Erinnerungen
hervorgehen können. Alle die späteren Szenen, bei denen die
Symptome entstehen, sind nicht die wirksamen, und die eigent-
lich wirksamen Erlebnisse erzeugen zunächst keinen Effekt. Wir
stehen aber hier vor einem Problem, welches wir mit gutemS.
170
Recht von unserem Thema sondern können. Man fühlt sich
freilich zu einer Synthese aufgefordert, wenn man die Reihe
von auffälligen Bedingungen überdenkt, zu deren Kenntnis wir
gelangt sind: daß, um ein hysterisches Symptom zu bilden, ein
Abwehrbestreben gegen eine peinliche Vorstellung vorhanden
sein muß; daß diese eine logische oder assoziative Verknüpfung
aufweisen muß mit einer unbewußten Erinnerung durch zahl-
reiche oder wenige Mittelglieder, die in diesem Moment gleich-
falls unbewußt bleiben; daß jene unbewußte Erinnerung nur
sexuellen Inhalts sein kann; daß sie ein Erlebnis zum Inhalt hat,
welches sich in einer gewissen infantilen Lebensperiode zuge—
tragen hat; und man kann nicht umhin, sich zu fragen, wie es
zugeht, daß diese Erinnerung an ein seinerzeit harmloses Er-
lebnis posthum die abnorme Wirkung äußert, einen psychischen
Vorgang wie das Abwehren zu einem pathologischen Resultat
zu leiten, während sie selbst dabei unbewußt bleibt?Man wird sich aber sagen müssen, dies sei ein rein
psychologisches Problem, dessen Lösung vielleicht bestimmte
Annahmen über die normalen psychischen Vorgänge und über
die Rolle des Bewußtseins dabei notwendig macht, das aber
einstweilen ungelöst bleiben kann, ohne unsere bisher gewonnene
Einsicht in die Ätiologie der hysterischen Phänomene zu ent-
werten.III.
Meine Herren, das Problem, dessen Ansätze ich soeben
formuliert habe, betrth den Mechanismus der hysterisehen
Symptombildung. Wir sind aber genötigt, die Verursachung
dieser Symptome darzustellen. ohne diesen Mechanismus in
Betracht zu ziehen, was eine unvermeidliche Einbuße an
Abrundung und Durchsichtigkeit unserer Erörterung mit sich
bringt. Kehren wir zur Rolle der infantilen Sexualszenen zurück.
Ich fürchte, ich könnte Sie zur Überschätzung von deren
symptomenbildender Kraft verleitet haben.- Ich betone darum
nochmals, daß jeder Fall von Hysterie Symptome aufweist,
deren Determinierung nicht aus infantilen, sondern aus späteren,
oft aus rezenten Erlebnissen herstammt. Ein anderer Anteil der
Symptome geht freilich auf die allerfrijhestenErlebnisse zurück,
ist gleichsam vom ältesten Adel. Dahin gehören vor allem dieS.
171
so zahlreichen und mannigfaltigen Sensationen und Parästhesien
an den Genitalien und anderen Körperstellen, die einfach dem
Empfindungsinhalt der Infantilszenen in halluzinatorischer Re-
produktion, oft auch in schmerzhafter Verstärkung, entsprechen.Eine andere Reihe überaus gemeiner hysteriseher Phänomene,
der schmerzhafte Hemdrang, die Sensation bei der Defäkation,
Störungen der Darmtätigkeit, das Würgen und Erbrechen,
Magenbeschwerden und Speiseekel, gab sich in meinen Analysen
gleichfalls —— und zwar mit überraschender Regelmäßigkeit —
als Derivat derselben Kindererlebnisse zu erkennen und erklärte
sich mühelos aus konstanten Eigentümlichkeiten derselben. Die
iufantilen Sexualszenen sind nämlich arge Zumutungen für das
Gefühl eines sexuell normalen Menschen; sie enthalten alle
Ausschreitungen, die von Wüstlingen und Impotenten bekannt
sind, bei denen Mundhöhle und Darmausgang mißbräuchlich zu
sexueller Verwendung gelangen. Die Verwunderung hierüber
weicht beim Arzte alsbald einem völligen Verständnis. Von
Personen, die kein Bedenken tragen, ihre sexuellen Bedürfnisse
an Kindern zu befriedigen, kann man nicht erwarten, daß sie
an Nuancen in der Weise dieser Befriedigung Anstoß nehmen,
und die dem Kindesalter anhaftende sexuelle Impotenz drängt
unausbleiblich zu denselben Surrogathandlungen, zu denen sich
der Erwachsene im Falle erworbener Impotenz erniedrigt. Alle
die seltsamen Bedingungen, unter denen das ungleiche Paar
sein Liebesverhältnis fortfiihrt: der Erwachsene, der sich seinem
Anteil an der gegenseitigen Abhängigkeit nicht entziehen kann,
wie sie aus einer sexuellen Beziehung notwendig hervorgeht, der
dabei doch mit aller Autorität und dem Rechte der Züchtigung
ausgerüstet ist und zur ungehemmten Befriedigung seiner
Launen die eine Rolle mit der andern vertauscht; das Kind,
dieser Willkür in seiner Hilflosigkeit preisgegeben, vorzeitig zu
allen Empfindlichkeiten erweckt und allen Enttäuschungen aus-
gesetzt, häufig in der Ausübung der ihm zugewiesenen sexuellen
Leistungen durch seine unvollkommene Beherrschung der natür-
lichen Bedürfnisse unterbrochen —— alle diese grotesken und
doch tragischen Mißverhältnisse prägen sich in der ferneren
Entwicklung des Individuums und seiner Neurose in einer Un-
zahl von Dauer'eifekten aus, die der eingehendsten VerfolgungS.
172
würdig wären. Wo sich das Verhältnis zwischen zwei Kindern
abspielt, bleibt der Charakter der Sexualszenen doch der näm-
liehe absteßende, da. ja jedes Kinderverhältnis eine voraus-
gegangene Verführung des einen Kindes durch einen Erwach-
senen postuliert. Die psychischen Folgen eines solchen Kinder-
verhältnisses sind ganz außerordentlich tiefgreifentle; die beiden
Per-sehen bleiben für ihre ganze Lebenszeit durch ein unsicht-
bares Band miteinander verknüpft.Gelegentlich sind es Nebenumstände dieser infantilen
Sexualszenen, welche in späteren Jahren zu determinierender
Macht für die Symptome der Neurose gelangen. So hat in
einem meiner Fälle der Umstand, daß das Kind abgerichtet
wurde, mit seinem Fuß die Genita.lien der Erwachsenen zu
erregen, hingereicht, um Jahre hindurch die neurotische Auf-
merksamkeit auf die Beine und deren Funktion zu fixieren und
schließlich eine hysterische Para.plegie zu erzeugen. In einem
andern Falle wäre es rätselhai't geblieben, warum die Kranke
in ihren Angstanfällen, die gewisse Tagesstunden bevorzugten,
gerade eine einzige von ihren zahlreichen Schwestern zu ihrer
Beruhigung nicht von ihrer Seite lassen wollte, wenn die Ana-
lyse nicht ergeben hätte, daß der Attentäter seinerzeit sich bei
jedem dieser Besuche erkundigt hatte, ob diese Schwester zu
Hause sei, von der er eine Störung befürchten mußte.Es kommt vor, daß die determinierende Kraft der Infantil-
szenen sich so sehr verbirgt, daß sie bei oberflächlicher Analyse
übersehen werden muß. Man vermeint denn, man habe die
Erklärung eines gewissen Symptoms im Inhalt einer der späteren
Szenen gefunden und stößt im Verlaufe der Arbeit auf denselben
Inhalt in einer der Infantilszenen, so daß man sich schließlich
sagen muß, die spätere Szene verdanke ihre Kraft, Symptome
zu determinieren, doch nur ihrer Übereinstimmung mit der
früheren. Ich Will darum die spätere Szene nicht als bedentungs-
los hinstellen; wenn ich die Aufgabe hätte, die Regeln der
hysterischen Symptombildung vor Ihnen zu erörtern, würde ich
als eine dieser Regeln anerkennen müssen, daß zum Symptom
jene Vorstellung anserwählt wird, zu deren Hebung mehrere
Momente zueammenwirken, die von verschiedenen Seiten her
gleichzeitig geweckt wird, was ich an anderer Stelle durch denS.
173
Satz auszudrücken versuchthabe: Die hysterischen Symptome
seien überdeterminiert.Noch eines, meine Herren; ich habe zwar vorhin das Ver-
hältnis der rezenten Ätiologie zur infantilen als ein besonderes
Thema beiseite gerückt; aber ich kann doch den Gegenstand
nicht verlassen, ohne diesen Vorsatz durch wenigstens eine
Bemerkung zu übertreten. Sie gestehen mir zu, es ist vor allem
eine Tatsache, die uns am psychologischen Verständnis der
hysterischen Phänomene irre werden läßt, die uns zu warnen
scheint, psychische Akte bei Hysterischen und bei Normalen
mit gleichem Maß zu messen. Es ist dies das Mißverständnis
zwischen psychisch erregendem Reiz und psychischer Reaktion,
das wir bei den Hysterischen antreflen, welches wir durch die
Annahme einer allgemeinen abnormen Reizbarkeit zu decken
suchen und häufig physiologisch zu erklären bemüht sind, als
ob gewisse, der Übertragung dienende Hirnorgane sich bei den
Kranken in einem besonderen chemischen Zustande befänden,
etwa wie die Spinalzentren des Strychninfrosches, oder sich dem
Einflusse höherer hemmender Zentren entzogen hätten, wie im
vivisektorischen Tierexperiment. Beide Auffassungen mögen hier
und dort zur Erklärung der hysterischen Phänomene voll-
berechtigt sein; das stelle ich nicht in Abrede. Aber der Haupt—
anteil des Phänomene, der ebnormen, übergroßen, hysterischen
Reaktion auf psychische Reize läßt eine andere Erklärung zu,- die durch zahllose Beispiele aus den Analysen gestützt wird.
Und dieseErklärunglautet: Die Re aktion derHysterischen
ist eine nur scheinbar übertriebene; sie muß uns so
erscheinen, weil wir nur einen kleinen Teil der Motive
kennen, aus denen sie erfolgt.In Wirklichkeit ist diese Reaktion proportional dem
erregenden Reiz, also normal und psychologisch verständlich.
Wir sehen dies sofort ein, wenn die Analyse zu den manifesten,
dem Kranken bewußten Motiven jene anderen Motive hinzu»
gefügt hat, die gewirkt haben, ohne daß der Kranke um sie
wußte, die er uns also nicht mitteilen konnte.Ich könnte Stunden damit ausfüllen, Ihnen diesen wichtigen
Satz für den ganzen Umfang der psychischen Tätigkeit bei
Hysterischen zu erweisen, muß mich aber hier auf wenige Bei-S.
174
spiele beschränken. Sie erinnern sich an die so häufige see-
lische „Empfindlichkeit“ der Hysterischcn, die sie auf die
leiseste Andeutung einer Geringschätzung reagieren läßt, als
seien sie tödlich beleidigt werden. Was würden Sie nun denken,
wenn Sie eine solche hochgradige Verletzbarkeit bei gering-
fügigen Anlässen zwischen zwei gesunden Menschen, etwa Ehe-
gatten, beobachten würden? Sie würden gewiß den Schluß
ziehen, die eheliche Szene, der Sie beigewohnt, sei nicht allein
das Ergebnis des letzten kleinlichen Anlasses, sondern da habe
sich durch lange Zeit Zündstofl' angehäuft, der nun in seiner
ganzen Masse durch deli letzten Anstoß zur Explosion gebracht
werden sei. 4Bitte, übertragen Sie denselben Gedankengang auf die
Hysterischen. Nicht die letzte, an sich minimale Kränkung ist
es, die den Weinkrampf, den Ausbruch von Verzweiflung, den
Selbstmordversuch erzeugt, mit Mißachtung des Satzes von der
Proportionalität des Effektes und der Ursache, sondern diese
kleine aktuelle Kränkung hat die Erinnerungen so vieler und
intensiverer früherer Kränkungen geweckt und zur Wirkung
gebracht, hinter denen allen noch die Erinnerung an eine schwere,
nie verwundene Kränkung im Kindesalter steckt. Oder: wenn
ein junges Mädchen sich die entsetzlichsten Vorwürfe macht,
weil sie geduldet, daß ein Knabe zärtlich irn geheimen über
ihre Hand gestrichen, und von da ab der Neurose verfällt, so
können Sie zwar dem Rätsel mit dem Urteil begegnen, das sei '
eine abnorme, exzentrisch angelegte, hypersensitive Person; aber
Sie werden anders denken, wenn Ihnen die Analyse zeigt, daß
jene Berührung an eine andere, ähnliche erinnerte, die in sehr
früher Jugend verfiel und die ein Stück aus einem minder harmlosen
Ganzen war, so daß eigentlich die Vorwürfe jenem alten Anlaß
gelten. Schließlich ist das Rätsel der hysterogenen Punkte auch
kein anderes; wenn Sie die eine ausgezeichnete Stelle berühren,
tun Sie etwas, was Sie nicht beabsichtigt haben; Sie wecken
eine Erinnerung auf, die einen Krampfanfall auszulösen vermag,
und da Sie von diesem psychischen Mittelglied nichts wissen,
beziehen Sie den Anfall als Wirkung direkt auf Ihre Berührung
als Ursache. Die Kranken befinden sich in derselben Unwissenheit
und verfallen darum in ähnliche Irrtümer, sie stellen beständigS.
175
„falsche Verknüpfungen“ her zwischen dem letzthewußten Anlaß
und dem von so viel Mitgliedern abhängigen Effekt. Ist es
dem Arzte aber möglich geworden, zur Erklärung einer hysterischen
Reaktion die bewußten und die unbewnßten Motive zusammen-
zufassen, so muß er diese scheinbar übermäßige Reaktion fast
immer als eine angemessene, nur in der Form abnorme anerkennen.Sie werden nun gegen diese Rechtfertigung der hysterischen
Reaktion auf psychische Reize mit Recht einwenden, sie sei
doch keine normale, denn warum benehmen die Gesunden sich
anders; warum wirken bei ihnen nicht alle längst verflossenen
Erregungen neuerdings mit, wenn eine neue Erregung aktuell
ist? Es macht ja den Eindruck, als blieben bei den Hysterischen
alle alten Erlebnisse wirkungskriiftig, auf die schon so oft, und
zwar in stürmischer Weise reagiert wurde, als seien diese Personen
unfähig, psychische Reize zu erledigen. Richtig, meine Herren,
etwas Derartiges muß man tatsächlich alswahrannehmen. Vergessen
Sie nicht, daß die alten Erlebnisse der Hysterischen bei einem
aktuellenAnlasse als unbe wußte E ri une rungen ihre Wirkung
äußern. Es scheint, als ob die Schwierigkeit der Erledigung,
die Unmöglichkeit, einen aktuellen Eindruck in eine machtlose
Erinnerung zu verwandeln, gerade an dem Charakter des psychisch
Unbewußten hinge. Sie sehen, der Rest des Problems ist wiederum
Psychologie, und zwar Psychologie von einer Art, für welche
uns die Philosophen wenig Vorarbeit geleistet haben.Auf diese Psychologie, die für unsere Bedürfnisse erst zu
erschaffen ist — auf die zukünftige Neurosenpsychologie —
muß ich Sie auch verweisen, wenn ich Ihnen zum Schluß eine
Mitteilung mache, von der Sie zunächst eine Störung unseres
beginnenden Verständnisse's für die Ätiologie der Hysterie besorgen
werden. Ich muß es nämlich aussprechen, daß die ätiologische
Rolle der infantilen Sexualerlebuisse nicht auf das Gebiet der
Hysterie eingeschränkt ist, sondern in gleicher Weise für die
merkwürdige Neurose der Zwangsvorstellungen, ja vielleicht auch
fiir die Formen der chronischen Paranoia und andere funktionelle
Psychosen Geltung hat. Ich drücke mich hierbei minder bestimmt
aus, weil die Anzahl meiner Analysen von Zwangsneurosen noch
weit hinter der von Hysterien zurücksteht; von Paranoia habe
ich gar nur eine einzige ausreichende und einige fragmentarischeS.
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Analysen zur Verfügung. Aber was ich da gefunden, schien mir
verläßlieh und hat mich mit sicheren Erwartungen für andere
Fälle erfüllt. Sie erinnern sich vielleicht, daß ich für die Zusammen-
fassung von Hysterie und Zwangsvorstellungen unter dem Titel
„Abwehrneurcsen“ bereits früher eingetreten bin, ehe mir
noch die Gemeinsamkeit der infantilen Atiologie bekannt war.
Nun muß ich hinzufügen — was man freilich nicht allgemein
zu erwarten braucht —, daß meine Fälle von Zwangsvorstellung
sämtlich einen Untergrund von hysterisehen Symptomen, meist
Sensationen und Schmerzen, erkennen ließen, die sich gerade
auf die ältesten Kindererlebnisse zurückleiteten. Worin liegt nun
die Entscheidung, ob aus den unbewußt gebliebenen infa.ntilen
Sexualszenen später Hysterie oder Zwangsneurose oder gar Para—
noia hervorgehen soll, wenn sich die anderen pathogenen
Momente hinzugesellt haben? Diese Vermehrung unserer Erkennt—
nisse scheint ja dem ätiologischen Wert dieser Szenen Eintrag zu
tun, indem sie die Spezifität der ätiologischen Relation aufhebt.Ich bin noch nicht in der Lage, meine Herren, eine ver-
läßliche Antwort auf diese Frage zu geben. Die Anzahl meiner
analysierten Fälle, die Mannigfaltigkeit der Bedingungen in
ihnen, ist nicht groß genug hierfür. Ich merke bis jetzt, daß die
Zwangsvorstellnngen bei der Analyse regelmäßig als verkappte
undverwandelteVorwürfe wegen sexuellerAggressionen
im Kindes alter zu entlarv en sind, daß sie darumbeil\lännern
häufiger gefunden werden als bei Frauen, und häufiger bei ihnen
sich entwickeln als Hysterie. Ich könnte daraus schließen, daß
der Charakter der Infantilszenen, ob sie mit Lust oder nur passiv
erlebt werden, einen bestimmenden Einfluß auf die Auswahl der
späteren Neurose hat, aber ich möchte auch den Einfluß des
Alters, in dem diese Kinderaktionen verfallen, und anderer
Momente nicht unterschätzen. Hieriiber muß erst die Diskussion
weiterer Analysen Aufschluß gehen; wenn es aber klar sein
wird, welche Momente die Entscheidung zwischen den möglichen
Formen der Abwehrneuropsychosen beherrschen, wird es wiederum
ein rein psychologisches Problem sein, kraft welches Mechanismus
die einzelne Form gestaltet wird.Ich bin nun zum Ende meiner heutigen Erörterungen
gelangt. Auf Widerspruch und Unglauben gefaßt, möchte ichS.
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meiner Suche nur noch eine Befürwortung mit auf den Weg
geben. Wie immer Sie meine Resultate aufnehmen mögen, ich
darf Sie bitten, dieselben nicht für die Frucht wohlfeiler Spekulation
zu halten. Sie ruhen auf mühseliger Einzel erforsehung der Kranken,
die bei den meisten Fällen hundert Arbeitsstunden und darüber
verweilt hat. Wichtiger noch als ihre Würdigung der Ergebnisse
ist mir Ihre Aufmerksamkeit für das Verfahren, dessen ich mich
bedient habe, das neuartig, schwierig zu handhaben und doch
unersetzh'eh für Wissenschaftliche und therapeutische Zwecke ist.
Sie sehen wohl ein, man kann den Ergebnissen, zu denen diese
modifizierte Breuersche Methode führt, nicht gut widersprechen,
wenn man die Methode beiseite läßt und sich nur der gewohnten
Methode des Krankenexamens bedient. Es wäre ähnlich, als
wollte man die Funde der histologischen Technik mit der Berufung
auf die makroskopische Untersuchung widerlegen. Indem die
neue Forschungsrnethode den Zugang zu einem neuen Element
des psychischen Geschehens, zu den unbewnßt gebliebenen, nach
Breuers Ausdruck „bewußtseinsunfähigen“ Denkvorgängen
breit eröffnet, winkt sie uns mit: der Hoffnung eines neuen, besseren
Verständnisses aller funktionellen psychischen Störungen. Ich
kann es nicht glauben, daß die Psychiatrie es noch lange auf-
schieben wird, sich dieses neuen Weges zur Erkenntnis zu
bedienen.Freud, Neurosenlehre !. 3. Auflage. ‘ 12
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