Zur Ätiologie der Hysterie 1896-003/1925
  • S.

    ZUR ATIOLOGIE DER HYSTERIE

    Zuerst erschienen in der „Wiener Klinischen
    Rundschau“, 1896, Nr. 22—26. (Ausführung nach
    einem Vortrage im „Verein für Psychiatrie und Neuro-
    logie“ in Wien am 2. Mai 1896.)

    Meine Herren! Wenn wir daran gehen, uns eine Meinung über
    die Verursachung eines krankhaften Zustandes wie die Hysterie
    zu bilden, betreten wir zunächst den Weg der anamnestischen
    Forschung, indem wir den Kranken oder dessen Umgebung ins
    Verhör darüber nehmen, auf welche schadlichen Einflüsse sie selbst
    die Erkrankung an jenen neurotischen Symptomen zurückführen.
    Was wir so in Erfahrung bringen, ist selbstverständlich durch alle
    jene Momente verfälscht, die einem Kranken die Erkenntnis des
    eigenen Zustandes zu verhüllen pflegen, durch seinen Mangel an
    wissenschaftlichem Verständnis für ätiologische Wirkungen, durch
    den Fehlschluß des post hoc, ergo propter hoc, durch die Unlust,
    gewisser Noxen und Traumen zu gedenken oder ihrer Erwähnung
    zu tun. Wir halten darum bei solcher anamnestischer Forschung
    an dem Vorsatze fest, den Glauben der Kranken nicht ohne ein-
    gehende kritische Prüfung zu dem unserigen zu machen, nicht
    zuzulassen, daß die Patienten uns unsere wissenschaftliche Meinung
    über die Ätiologie der Neurose zurechtmachen. Wenn wir einer-
    seits gewisse konstant wiederkehrende Angaben anerkennen, wie
    die, daß der hysterische Zustand eine lang andauernde Nach-

  • S.

    Zur Åtiologie der Hysterie 405

    wirkung einer einmal erfolgten Gemiitsbewegung sei, so haben
    wir anderseits in die Atiologie der Hysterie ein Moment einge-
    führt, welches der Kranke selbst niemals vorbringt und nur ungern
    gelten läßt, die hereditäre Veranlagung von seiten der Erzeuger.
    Sie wissen, daß nach der Meinung der einflußreichen Schule
    Charcots die Heredität allein als wirkliche Ursache der Hysterie
    Anerkennung verdient, während alle anderen Schädlichkeiten ver-
    schiedenartigster Natur und Intensität nur die Rolle von Gelegen-
    heitsursachen, von „agents provocateurs“ spielen sollen.

    Sie werden mir ohneweiters zugeben, daß es wünschenswert
    wäre, es gäbe einen zweiten Weg, zur Ätiologie der Hysterie zu
    gelangen, auf welchem man sich unabhangiger von den Angaben
    der Kranken wüßte. Der Dermatologe z. B. weiß ein Geschwür
    als luetisch zu erkennen nach der Beschaffenheit der Ränder, des
    Belags, des Umrisses, ohne daß ihn der Einspruch des Patienten,
    der eine Infektionsquelle leugnet, daran irre machte. Der Gerichts-
    arzt versteht es, die Verursachung einer Verletzung aufzuklären,
    selbst wenn er auf die Mitteilungen des Verletzten verzichten
    muß. Es besteht nun eine solche Möglichkeit, von den Symptomen
    aus zur Kenntnis der Ursachen vorzudringen, auch für die Hysterie.
    Das Verhältnis der Methode aber, deren man sich hiefür zu be-
    dienen hat, zur älteren Methode der anamnestischen Erhebung
    möchte ich Ihnen in einem Gleichnisse darstellen, welches einen
    auf anderem Arbeitsgebiete tatsächlich erfolgten Fortschritt zum
    Inhalt hat.

    Nehmen Sie an, ein reisender Forscher käme in eine wenig
    bekannte Gegend, in welcher ein Trümmerfeld mit Mauerresten,
    Bruchstücken von Säulen, von Tafeln mit verwischten und un-
    lesbaren Schriftzeichen sein Interesse erweckte. Er kann sich damit
    begnügen zu beschauen, was frei zutage liegt, dann die in der
    Nähe hausenden, etwa halbbarbarischen Einwohner ausfragen, was
    ihnen die Tradition über die Geschichte und Bedeutung jener
    monumentalen Reste kundgegeben hat, ihre Auskünfte aufzeichnen

  • S.

    406 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    und — weiterreisen. Er kann aber auch anders vorgehen; er kann
    Hacken, Schaufeln und Spaten mitgebracht haben, die Anwohner
    für die Arbeit mit diesen Werkzeugen bestimmen, mit ihnen das
    Triimmerfeld in Angriff nehmen, den Schutt wegschaffen und von
    den sichtbaren Resten aus das Vergrabene aufdecken. Lohnt der
    Erfolg seine Arbeit, so erläutern die Funde sich selbst; die Mauer-
    reste gehören zur Umwallung eines Palastes oder Schatzhauses,
    aus den Süulentrümmern erganzt sich ein Tempel, die zahlreich
    gefundenen, im glücklichen Falle bilinguen Inschriften enthiillen
    ein Alphabet und eine Sprache, und deren Entzifferung und Uber-
    setzung ergibt ungeahnte Aufschliisse über die Ereignisse der Vor-
    zeit, zu deren Gedachtnis jene Monumente erbaut worden sind.
    Saxa loquuntur!

    Will man in annähernd ähnlicher Weise die Symptome einer
    Hysterie als Zeugen für die Entstehungsgeschichte der Krankheit
    laut werden lassen, so muß man an die bedeutsame Entdeckung
    J. Breuers anknüpfen, daß die Symptome der Hysterie (die
    Stigmata beiseite) ihre Determinierung von gewissen trau-
    matisch wirksamen Erlebnissen des Kranken herleiten, als
    deren Erinnerungssymbole sie im psychischen Leben des-
    selben reproduziert werden. Man muß sein Verfahren — oder
    ein im Wesen gleichartiges — anwenden, um die Aufmerksam-
    keit des Kranken vom Symptom aus auf die Szene zurückzuleiten,
    in welcher und durch welche das Symptom entstanden ist, und
    man beseitigt nach seiner Anweisung dieses Symptom, indem man
    bei der Reproduktion der traumatischen Szene eine nachträgliche
    Korrektur des damaligen psychischen Ablaufes durchsetzt. !

    Es liegt heute meiner Absicht völlig ferne, die schwierige
    Technik dieses therapeutischen Verfahrens oder die dabei gewon-
    nenen psychologischen Aufklärungen zu behandeln. Ich mußte nur
    an dieser Stelle anknüpfen, weil die nach Breuer vorgenommenen
    Analysen gleichzeitig den Zugang zu den Ursachen der Hysterie
    zu eröffnen scheinen. Wenn wir eine größere Reihe von Sym-

  • S.

    Zur Atiologie der Hysterie 407

    ptomen bei zahlreichen Personen dieser Analyse unterziehen, so
    werden wir ja zur Kenntnis einer entsprechend großen Reihe von
    traumatisch wirksamen Szenen geleitet werden. In diesen Erleb-
    nissen sind die wirksamen Ursachen der Hysterie zur Geltung
    gekommen; wir dürfen also hoffen, aus dem Studium der trau-
    matischen Szenen zu erfahren, welche Einflüsse hysterische Sym-
    ptome erzeugen und auf welche Weise.

    Diese Erwartung trifft zu, notwendigerweise, da ja die Sätze
    von Breuer sich bei der Prüfung an zahlreicheren Fällen als
    richtig erweisen. Aber der Weg von den Symptomen der Hysterie
    zu deren Ätiologie ist langwieriger und führt über andere Ver-
    bindungen, als man sich vorgestellt hätte.

    Wir wollen uns nämlich klar machen, daß die Zurückführung
    eines hysterischen Symptoms auf eine traumatische Szene nur
    dann einen Gewinn für unser Verständnis mit sich bringt, wenn
    diese Szene zwei Bedingungen genügt, wenn sie die betreffende
    determinierende Eignung besitzt, und wenn ihr die nötige
    traumatische Kraft zuerkannt werden muß, Ein Beispiel anstatt
    jeder Worterklärung! Es handle sich um das Symptom des hyste-
    rischen Erbrechens; dann glauben wir dessen Verursachung (bis
    auf einen gewissen Rest) durchschauen zu können, wenn die
    Analyse das Symptom auf ein Erlebnis zurückführt, welches be-
    rechtigterweise ein hohes Maß von Ekel erzeugt hat, wie
    etwa der Anblick eines verwesenden menschlichen Leichnams,
    Ergibt die Analyse anstatt dessen, daß das Erbrechen von einem
    großen Schreck, z. B. bei einem Eisenbahnunfall, herrührt, so
    wird man sich unbefriedigt fragen müssen, wieso denn der Schreck
    gerade zum Erbrechen geführt hat. Es fehlt dieser Ableitung an
    der Eignung zur Determinierung. Ein anderer Fall von un-
    genügender Aufklärung liegt vor, wenn das Erbrechen etwa von
    dem Genuß einer Frucht herrühren soll, die eine faule Stelle
    zeigte. Dann ist zwar das Erbrechen durch den Ekel determiniert,
    aber man versteht nicht, wie der Ekel in diesem Falle so mächtig

  • S.

    408 Friihe Arbeiten zur Neurosenlehre

    werden konnte, sich durch ein hysterisches Symptom zu verewigen;
    es mangelt diesem Erlebnisse an traumatischer Kraft.

    Sehen wir nun nach, inwieweit die durch die Analyse auf-
    gedeckten traumatischen Szenen der Hysterie bei einer größeren
    Anzahl von Symptomen und Fållen den beiden erwåhnten An-
    sprüchen genügen. Hier stoßen wir auf die erste große Ent-
    tåuschung! Es trifft zwar einige Male zu, daß die traumatische
    Szene, in welcher das Symptom entstanden ist, wirklich beides,
    die determinierende Eignung und die traumatische Kraft besitzt,
    deren wir zum Verständnis des Symptoms bedürfen. Aber weit
    häufiger, unvergleichlich häufiger, finden wir eine der drei übrigen
    Möglichkeiten verwirklicht, die dem Verständnisse so ungünstig
    sind: die Szene, auf welche wir durch die Analyse geleitet werden,
    in welcher das Symptom zuerst aufgetreten ist, erscheint uns ent-
    weder ungeeignet zur Determinierung des Symptoms, indem ihr
    Inhalt zur Beschaffenheit des Symptoms keine Beziehung zeigt;
    oder das angeblich traumatische Erlebnis, dem es an inhaltlicher
    Beziehung nicht fehlt, erweist sich als normalerweise harmloser,
    für gewöhnlich wirkungsunfähiger Eindruck; oder endlich die
    »traumatische Szene“ macht uns nach beiden Richtungen irre;
    sie erscheint ebenso harmlos wie ohne Beziehung zur Eigenart des
    hysterischen Symptoms.

    (Ich bemerke hier nebenbei, daB Breuers Auffasung von der
    Entstehung hysterischer Symptome durch die Auffindung trau-
    matischer Szenen, die an sich bedeutungslosen Erlebnissen‘ ent-
    sprechen, nicht gestört worden ist. Breuer nahm nämlich — im
    Anschlusse an Charcot — an, daß auch ein harmloses Erlebnis
    zum Trauma erhoben werden und determinierende Kraft ent-
    falten kann, wenn es die Person in einer besonderen psychischen
    Verfassung, im sogenannten hypnoiden Zustand, betrifft. Allein
    ich finde, daB zur Voraussetzung solcher hypnoider Zustünde oft-
    mals jeder Anhalt fehlt. Entscheidend bleibt, daß die Lehre von
    den hypnoiden Zustünden nichts zur Lósung der anderen Schwierig-

  • S.

    Zur Ätiologie der Hysterie 409

    keiten leistet, daß nämlich den traumatischen Szenen so häufig
    die determinierende Eignung abgeht.)

    Fügen Sie hinzu, meine Herren, daß diese erste Enttäuschung
    beim Verfolg der Breuerschen Methode unmittelbar durch eine
    andere eingeholt wird, die man besonders als Arzt schmerzlich
    empfinden muß. Zurückführungen solcher Art, wie wir sie ge-
    schildert haben, die unserem Verständnis betreffs der Determi-
    nierung und der traumatischen Wirksamkeit nicht genügen, bringen
    auch keinen therapeutischen Gewinn; der ‚Kranke hat seine Sym-
    ptome ungeändert behalten, trotz des ersten Ergebnisses, das uns
    die Analyse geliefert hat. Sie mögen verstehen, wie groß dann
    die Versuchung wird, auf ‘eine Fortsetzung der ohnedies müh-
    seligen Arbeit zu verzichten.

    Vielleicht aber bedarf es nur eines neuen Einfalles, um uns
    aus der Klemme zu helfen und zu wertvollen Resultaten zu
    führen! Der Einfall ist folgender: Wir wissen ja durch Breuer,
    daß die hysterischen Symptome zu lösen sind, wenn wir von
    ihnen aus den Weg zur Erinnerung eines traumatischen Erleb-
    nisses finden können. Wenn nun die aufgefundene Erinnerung
    unseren Erwartungen nicht entspricht, vielleicht ist derselbe Weg
    ein Stück weiter zu verfolgen, vielleicht verbirgt sich hinter der
    ersten traumatischen Szene die Erinnerung an eine zweite, die
    unseren Ansprüchen besser genügt, und; deren Reproduktion mehr
    therapeutische Wirkung entfaltet, so daB die erstgefundene Szene
    nur die Bedeutung eines Bindegliedes in der Assoziationsverkettung
    hat? ¡Und vielleicht wiederholt sich dieses Verhiltnis, die Ein-
    schiebung unwirksamer Szenen als notwendiger Übergänge bei
    der Reproduktion mehrmals, bis man vom hysterischen Symptom
    aus endlich zur eigentlich traumatisch wirksamen, in jeder Hin-
    sicht, therapeutisch wie analytisch, befriedigenden Szene gelangt?
    Nun, meine Herren, diese Vermutung ist richtig. Wo die erst-
    aufgefundene Szene unbefriedigend ist, sagen wir dem Kranken,
    dieses Erlebnis erkláre nichts, es miisse sich aber hinter ihm ein

  • S.

    410 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    bedeutsameres, fritheres Erlebnis verbergen, und lenken seine Auf-
    merksamkeit nach derselben Technik auf den Assoziationsfaden,
    welcher beide Erinnerungen, die aufgefundene und die aufzu-
    findende verknüpft.‘ Die Fortsetzung der Analyse führt dann jedes-
    mal zur Reproduktion neuer Szenen von den erwarteten Charak-
    teren. Wenn ich z. B. den vorhin ausgewählten Fall von hyste-
    rischem Erbrechen wieder aufnehme, den die Analyse zunichst
    auf einen Schreck bei einem Eisenbahnunfall zuriickgefiihrt hat,
    welcher der determinierenden Eignung entbehrt, so erfahre ich
    aus weitergehender Analyse, daB dieser Unfall die Erinnerung an
    einen andern, früher vorgekommenen, geweckt hat, den der
    Kranke zwar nicht selbst erlebte, der ihm aber Gelegenheit zu
    dem Grauen und Ekel erregenden Anblick eines Leichnams bot.
    Es ist, als ob das Zusammenwirken beider Szenen die Erfüllung
    unserer Postulate ermöglichte, indem das eine Erlebnis durch
    den Schreck die traumatische Kraft, das andere durch seinen In-
    halt die determinierende Wirkung beistellt. Der andere Fall, daß
    das Erbrechen auf den Genuß eines Apfels zurückgeführt wird,
    an dem sich eine faule Stelle befindet, wird durch die Analyse
    etwa in folgender Weise ergänzt: Der faulende Apfel erinnert an
    ein früheres Erlebnis, an das Sammeln abgefallener Apfel in
    einem Garten, wobei der Kranke zufällig auf einen ekelhaften
    Tierkadaver stieB.

    Ich will auf diese Beispiele nicht mehr zurückkommen, denn
    ich muß das Geständnis ablegen, daß sie keinem Falle meiner
    Erfahrung entstammen, daß sie von mir erfunden sind; höchst-
    wahrscheinlich sind sie auch schlecht erfunden; derartige Auf-
    lösungen hysterischer Symptome halte ich selbst für unmöglich.
    Aber der Zwang, Beispiele zu fingieren, erwächst mir aus mehreren

    ı) Es bleibt dabei absichtlich außer Erörterung, von welchem Rang die Asso-
    ziation der beiden Erinnerungen ist (ob durch Gleichzeitigkeit, kausaler Art, nach
    inhaltlicher Ähnlichkeit usw.) und auf welche psychologische Charakteristik die ein-
    zelnen „Erinnerungen“ (bewußte oder unbewußte) Anspruch haben.

  • S.

    Zur Ätiologie der Hysterie 411

    Momenten, von denen ich eines unmittelbar anfithren kann. Die
    wirklichen Beispiele sind alle unvergleichlich komplizierter; eine
    einzige ausführliche Mitteilung würde diese Vortragsstunde aus-
    füllen. Die Assoziationskette besteht immer aus mehr als zwei
    Gliedern, die traumatischen Szenen bilden nicht etwa einfache,
    perlschnurartige Reihen, sondern verzweigte, stammbaumartige Zu-
    sammenhänge, indem bei einem neuen Erlebnis zwei und mehr
    frühere als Erinnerungen zur Wirkung kommen; kurz, die Auf-
    lösung eines einzelnen Symptoms mitteilen, fällt eigentlich zu-
    sammen mit der Aufgabe, eine Krankengeschichte vollstindig dar-
    zustellen.

    Wir wollen es nun aber nicht versäumen, den einen Satz
    nachdrücklich hervorzuheben, den die analytische Arbeit längs
    dieser Erinnerungsketten unerwarteterweise gegeben hat. Wir haben
    erfahren, daß kein hysterisches Symptom aus einem realen
    Erlebnis allein hervorgehen kann, sondern daß alle Male
    die assoziativ geweckte Erinnerung an frühere Erlebnisse
    zur Verursachung des Symptoms mitwirkt. Wenn dieser Satz
    — wie ich meine — ohne Ausnahme richtig ist, so bezeichnet
    er uns aber auch das Fundament, auf dem eine psychologische
    Theorie der Hysterie aufzubauen ist.

    Sie könnten meinen, jene seltenen Fälle, in welchen die Ana-
    lyse das Symptom sofort auf eine traumatische Szene von guter
    determinierender Eignung und traumatischer Kraft zurückführt
    und es durch solche Zurückführung gleichzeitig wegschafft, wie
    dies in Breuers Krankengeschichte der Anna O. geschildert
    wird, seien doch mächtige Einwände gegen die allgemeine Geltung
    des eben aufgestellten Satzes. Das sieht in der Tat so aus; allein
    ich muß Sie versichern, ich habe die triftigsten Gründe, anzu-
    nehmen, daß selbst in diesen Fällen eine Verkettung wirksamer
    Erinnerungen vorliegt, die weit hinter die erste traumatische
    Szene zurückreicht, wenngleich die Reproduktion der letzteren
    allein die Aufhebung des Symptoms zur Folge haben kann.

  • S.

    412 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    Ich meine, es ist wirklich überraschend, daß hysterische Sym-
    ptome nur unter Mitwirkung von Erinnerungen entstehen können,
    zumal wenn man erwägt, daß diese Erinnerungen nach allen
    Aussagen der Kranken ihnen im Momente, da das Symptom zu-
    erst auftrat, nicht zum Bewußtsein gekommen waren. Hier ist
    Stoff fiir sehr viel Nachdenken gegeben, aber diese Probleme
    sollen uns fiir jetzt nicht verlocken, unsere Richtung nach der
    Atiologie der Hysterie zu verlassen. Wir miissen uns vielmehr
    fragen: Wohin gelangen wir, wenn wir den Ketten assoziierter
    Erinnerungen folgen, welche die Analyse uns aufdeckt? Wie weit
    reichen sie? Haben sie irgendwo ein natiirliches Ende? Fiihren
    sie uns etwa zu Erlebnissen, die irgendwie gleichartig sind, dem
    Inhalte oder der Lebenszeit nach, so daß wir in diesen überall
    gleichartigen Faktoren die gesuchte Ätiologie der Hysterie er-
    blicken könnten?

    Meine bisherige Erfahrung gestattet mir bereits, diese Fragen
    zu beantworten. Wenn man von einem Falle ausgeht, der mehrere
    Symptome bietet, so gelangt man mittels der Analyse von jedem
    Symptom aus zu einer Reihe von Erlebnissen, deren Erinne-
    rungen in der Assoziation miteinander verkettet sind. Die ein-
    zelnen Erinnerungsketten verlaufen zunächst distinkt voneinander
    nach rückwärts, sind aber, wie bereits erwähnt, verzweigt; von
    einer Szene aus sind gleichzeitig zwei oder mehr Erinnerungen
    erreicht, von denen nun Seitenketten ausgehen, deren einzelne
    Glieder wieder mit Gliedern der Hauptkette assoziativ verknüpft
    sein mögen. Der Vergleich mit dem Stammbaum einer Familie,
    deren Mitglieder auch untereinander geheiratet haben, paßt hier
    wirklich nicht übel. Andere Komplikationen der Verkettung er-
    geben sich daraus, daß eine einzelne Szene in derselben Kette
    mehrmals erweckt werden kann, so daß sie zu einer späteren
    Szene mehrfache Beziehungen hat, eine direkte Verknüpfung mit
    ihr aufweist und eine durch Mittelglieder hergestellte. Kurz, der
    Zusammenhang ist keineswegs ein einfacher und die Aufdeckung

  • S.

    Zur Ätiologie der Hysterie 413

    der Szenen in umgekehrter chronologischer Folge (die eben den
    Vergleich mit der Aufgrabung eines geschichteten Triimmerfeldes
    rechtfertigt) trägt zum rascheren Verständnis des Herganges ge-
    wiB nichts bei.

    Neue Verwicklungen ergeben sich, wenn man die Analyse weiter
    fortsetzt. Die Assoziationsketten fir die einzelnen Symptome be-
    ginnen dann in Beziehung zueinander zu treten; die Stammbäume
    verflechten sich. Bei einem gewissen Erlebnis der Erinnerungs-
    kette, z. B. für das Erbrechen, ist außer den rückläufigen Gliedern
    dieser Kette eine Erinnerung aus einer andern Kette erweckt
    worden, die ein anderes Symptom, etwa Kopfschmerz, begriindet.
    Jenes Erlebnis gehört darum beiden Reihen an, es stellt also einen
    Knotenpunkt dar, wie deren in jeder Analyse mehrere aufzu-
    finden sind. Sein klinisches Korrelat mag etwa sein, daB von
    einer gewissen Zeit an die beiden Symptome zusammen auftreten,
    symbiotisch, eigentlich ohne innere Abhängigkeit voneinander.
    Knotenpunkte anderer Art findet man noch weiter rückwärts.
    Dort konvergieren die einzelnen Assoziationsketten; es finden sich
    Erlebnisse, von denen zwei oder mehrere Symptome ausgegangen
    sind. An das eine Detail der Szene hat die eine Kette, an ein
    anderes Detail die zweite Kette angeknüpft.

    Das wichtigste Ergebnis aber, auf welches man bei solcher
    konsequenten Verfolgung der Analyse stößt, ist dieses: Von welchem
    Fall und von welchem Symptom immer man seinen Ausgang ge-
    nommen. hat, endlich gelangt man unfehlbar auf das Ge-
    biet des sexuellen Erlebens. Hiemit wire also zuerst eine
    ätiologische Bedingung hysterischer Symptome aufgedeckt.

    Ich kann nach früheren Erfahrungen voraussehen, daß gerade
    gegen diesen Satz oder gegen die Allgemeingültigkeit dieses Satzes
    Ihr Widerspruch, meine Herren, gerichtet sein “wird. Ich sage
    vielleicht besser: Ihre Widerspruchsneigung, denn es stehen wohl
    noch keinem von Ihnen Untersuchungen zu Gebote, die, mit dem-
    selben Verfahren angestellt, ein anderes Resultat ergeben håtten.

  • S.

    414 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    Zur Streitsache selbst will ich nur bemerken, daB die Auszeich-
    nung des sexuellen Moments in der Atiologie der Hysterie bei
    mir mindestens keiner vorgefaBten Meinung entstammt. Die beiden
    Forscher, als deren Zügling ich meine Arbeiten über Hysterie
    begonnen habe, Charcot wie Breuer, standen einer derartigen
    Voraussetzung ferne, ja sie brachten ihr eine persönliche Abneigung
    entgegen, von der ich anfangs meinen Anteil übernahm, Erst die
    mühseligsten Detailuntersuchungen haben‘ mich, und zwar lang-
    sam genug, zu der Meinung bekehrt, die ich heute vertrete. Wenn
    Sie meine Behauptung, die Ätiologie auch der Hysterie läge im
    Sexualleben, der strengsten Prüfung unterziehen, so erweist sie
    sich als vertretbar durch die Angabe, daß ich in etwa achtzehn
    Fällen von Hysterie diesen Zusammenhang für jedes einzelne Sym-
    ptom erkennen und, wo es die Verhältnisse gestatteten, durch den
    therapeutischen Erfolg bekräftigen konnte. Sie können mir dann
    freilich einwenden, die neunzehnte und die zwanzigste Analyse
    werden vielleicht eine Ableitung hysterischer Symptome auch aus
    anderen Quellen kennen lehren und damit die Gültigkeit der
    sexuellen Ätiologie von der Allgemeinheit auf achtzig Prozent
    einschränken. Wir wollen es gerne abwarten, aber da jene acht-
    zehn Fälle gleichzeitig alle sind, an denen ich die Arbeit der
    Analyse unternehmen konnte, und da niemand diese Fälle mir
    zum Gefallen ausgesucht hat, werden Sie es begreiflich finden,
    daß ich jene Erwartung nicht teile, sondern bereit bin, mit meinem
    Glauben über die Beweiskraft meiner bisherigen Erfahrungen
    hinauszugehen. Dazu bewegt mich übrigens noch ein anderes
    Motiv von einstweilen bloß subjektiver Geltung. In dem einzigen
    Erklärungsversuch für den physiologischen und psychischen Mecha-
    nismus der Hysterie, den ich mir zur Zusammenfassung meiner
    Beobachtungen gestalten konnte, ist mir die Einmengung sexueller
    Triebkráfte zur unentbehrlichen Voraussetzung geworden.

    Also man gelangt endlich, nachdem die Erinnerungsketten kon-
    vergiert haben, auf sexuelles Gebiet und zu einigen wenigen Er-

  • S.

    Zur Ätiologie der Hysterie 415

    lebnissen, die zumeist in die nåmliche Lebensperiode, in das Alter
    der Pubertåt fallen. Aus diesen Erlebnissen soll man die Åtiologie
    der Hysterie entnehmen und durch sie die Entstehung hysterischer
    Symptome verstehen lernen. Hier erlebt man aber eine neue und
    schwerwiegende Enttäuschung! Die mit so viel Mühe aufgefun-
    denen, aus allem Erinnerungsmaterial extrahierten, anscheinend
    letzten traumatischen Erlebnisse haben zwar die beiden Charaktere:
    Sexualität und Pubertätszeit gemein, sind aber sonst so sehr dis-
    parat und ungleichwertig. In einigen Fällen handelt es sich
    wohl um Erlebnisse, die wir als schwere Traumen anerkennen
    miissen, um einen Versuch der Vergewaltigung, der dem unreifen
    Mädchen mit einem Schlage die ganze Brutalität der Geschlechts-
    lust enthüllt, um eine unfreiwillige Zeugenschaft bei sexuellen
    Akten der Eltern, die in einem ungeahntes HåBliches aufdeckt
    und das kindliche wie das moralische Gefühl verletzt u. dgl. In
    anderen Fällen sind diese Erlebnisse von erstaunlicher Gering-
    fügigkeit. Eine meiner Patientinnen zeigte zugrunde ihrer Neurose
    das Erlebnis, daß ein ihr befreundeter Knabe zärtlich ihre Hand
    streichelte und ein andermal seinen Unterschenkel an ihr Kleid
    drängte, während sie nebeneinander bei Tische saßen, wobei noch
    seine Miene sie erraten ließ, es handle sich um etwas Unerlaubtes.
    Bei einer andern jungen Dame hatte gar das Anhören einer
    Scherzfrage, die eine obszöne Beantwortung ahnen ließ, hingereicht,
    den ersten Angstanfall hervorzurufen und damit die Erkrankung
    zu eröffnen. Solche Ergebnisse sind offenbar einem Verständnis für
    die Verursachung hysterischer Symptome nicht günstig. Wenn
    es ebensowohl schwere wie geringfügige Erlebnisse, ebensowohl
    Erfahrungen am eigenen Leib wie visuelle Eindrücke und durch
    das Gehör empfangene Mitteilungen sind, die sich als die letzten
    Traumen der Hysterie erkennen lassen, so kann man etwa die
    Deutung versuchen, die Hysterischen seien besonders geartete
    Menschenkinder, — wahrscheinlich infolge erblicher Veranlagung
    oder degenerativer Verkümmerung, — bei denen die Scheu vor

  • S.

    416 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    der Sexualität, die im Pubertätsalter normalerweise eine gewisse
    Rolle spielt, ins Pathologische gesteigert und dauernd festgehalten
    wird; gewissermaßen Personen, die den Anforderungen der Sexualität
    psychisch nicht Geniige leisten können. Man vernachlässigt bei
    dieser Aufstellung allerdings die Hysterie der Männer; aber auch,
    wenn es derartige grobe Einwände nicht gäbe, wire die Ver-
    suchung kaum sehr groß, bei dieser Lösung stehen zu bleiben.
    Man verspürt hier nur zu deutlich die intellektuelle Empfindung
    des Halbverstandenen, Unklaren und Unzureichenden.

    Zum Glück für unsere Aufklärung zeigen einzelne der sexuellen
    Pubertätserlebnisse eine weitere Unzulänglichkeit, die geeignet ist,
    zur Fortsetzung der analytischen Arbeit anzuregen. Es kommt
    nämlich vor, daß auch diese Erlebnisse der determinierenden Eig-
    nung entbehren, wenngleich dies hier viel seltener ist als bei den
    traumatischen Szenen aus späterer Lebenszeit. So z. B. hatten sich
    bei den beiden Patientinnen, die ich vorhin als Fälle mit eigentlich

    armlosen Pubertätserlebnissen angeführt habe, im Gefolge dieser
    Erlebnisse eigentümliche schmerzhafte Empfindungen in den Geni-
    talien eingestellt, die sich als Hauptsymptome der Neurose fest-
    gesetzt hatten, deren Determinierung weder aus den Pubertäts-
    szenen noch aus späteren abzuleiten war, die aber sicherlich nicht
    zu den normalen Organenempfindungen oder zu den Zeichen
    sexueller Aufregung gehörten. Wie nahe lag es nun, sich hier zu
    sagen, man müsse die Determinierung dieser Symptome in noch
    anderen, noch weiter zurückreichenden Erlebnissen suchen, man
    müsse hier zum zweiten Male jenem rettenden Einfall folgen, der
    uns vorhin von den ersten traumatischen Szenen zu den Erinne-
    rungsketten hinter ihnen geleitet? Man kommt damit freilich in
    die Zeit der ersten Kindheit, die Zeit vor der Entwicklung des
    sexuellen Lebens, womit ein Verzicht auf die sexuelle Ätiologie
    verbunden scheint. Aber hat man nicht ein Recht anzunehmen,
    daß es auch dem Kindesalter an leisen sexuellen Erregungen nicht
    gebricht, ja, daß vielleicht die spätere sexuelle Entwicklung durch

  • S.

    Zur Ätiologie der Hysterie 417

    Kindererlebnisse in entscheidender Weise beeinflußt wird? Schådi-
    gungen, die das unausgebildete Organ, die in Entwicklung begriffene
    Funktion, treffen, verursachen ja so håufig schwerere und nachhalti-
    gere Wirkungen, als sie im reiferen Alter entfalten könnten. Vielleicht
    liegen der abnormen Reaktion gegen sexuelle Eindrücke, durch
    welche uns die Hysterischen in der Pubertiitszeit überraschen, ganz
    allgemein solche sexuelle Erlebnisse der Kindheit zugrunde, die dann
    von gleichfčrmiger und bedeutsamer Art sein müßten? Man ge-
    winne so eine Aussicht, als frühzeitig erworben aufzuklären, was
    man bisher einer durch die Heredität doch nicht verständlichen
    Prädisposition zur Last legen mußte. Und da infantile Erlebnisse
    sexuellen Inhalts doch nur durch ihre Erinnerungsspuren eine
    psychische Wirkung äußern könnten, wire dies nicht eine will-
    kommene Ergånzung zu jenem Ergebnis der Analyse, daB hysteri-
    sche Symptome immer nur unter der Mitwirkung von Er-
    innerungen entstehen?

    1

    Sie erraten es wohl, meine Herren, daB ich jenen letzten
    Gedankengang nicht so weit ausgesponnen hätte, wenn ich Sie
    nicht darauf vorbereiten wollte, daB er allein es ist, der uns nach
    so vielen Verzógerungen zum Ziele führen wird. Wir stehen
    nämlich wirklich am Ende unserer langwierigen und beschwer-
    lichen analytischen Arbeit und finden hier alle bisher festgehaltenen
    Ansprüche und Erwartungen erfüllt. Wenn wir die Ausdauer haben,
    mit der Analyse bis in die frühe Kindheit vorzudringen, so weit
    zurück nur das Erinnerungsvermågen eines Menschen reichen kann,
    so veranlassen wir in allen Fällen den Kranken zur Reproduktion
    von Erlebnissen, die infolge ihrer Besonderheiten sowie ihrer Be-
    ziehungen zu den späteren Krankheitssymptomen als die gesuchte
    Atiologie der Neurose betrachtet werden müssen. Diese infantilen
    Erlebnisse sind wiederum sexuellen Inhalts, aber weit gleich-

    formigerer Art als die letztgefundenen Pubertåtsszenen; es handelt

    Freud, I 27

  • S.

    418 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    sich bei ihnen nicht mehr um die Erweckung des sexuellen Themas
    durch einen beliebigen Sinneseindruck, sondern um sexuelle Erfah-
    rungen am eigenen Leib, um geschlechtlichen Verkehr (im weiteren
    Sinne). Sie gestehen mir zu, daB die Bedeutsamkeit solcher Szenen
    keiner weiteren Begründung bedarf; fügen Sie nun noch hinzu, daß
    Sie in den Details derselben jedesmal die determinierenden
    Momente auffinden können, die Sie etwa in den anderen, später
    erfolgten und früher reproduzierten Szenen noch vermißt hätten.

    Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von
    Hysterie befinden sich — durch die analytische Arbeit reprodu-
    zierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalles — ein
    oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Er-
    fahrung, die der frühesten Jugend angehören.‘ Ich halte dies für
    eine wichtige Enthüllung, für die Auffindung eines caput Nili
    der Neuropathologie, aber ich weiß kaum, wo anzuknüpfen, um
    die Erörterung dieser Verhältnisse fortzuführen. Soll ich mein aus
    den Analysen gewonnenes tatsächliches Material vor Ihnen aus-
    breiten, oder soll ich nicht lieber vorerst der Masse von Ein-
    wänden und Zweifeln zu begegnen suchen, die jetzt von Ihrer
    Aufmerksamkeit Besitz ergriffen haben, wie ich wohl mit Recht
    vermuten darf? Ich wähle das letztere; vielleicht können wir dann
    um so ruhiger beim Tatsächlichen verweilen:

    a) Wer der psychologischen Auffassung der Hysterie überhaupt
    feindlich entgegensteht, die Hoffnung nicht aufgeben möchte, daß
    es einst gelingen wird, ihre Symptome auf „feinere anatomische
    Veränderungen“ zurückzuführen, und die Einsicht abgewiesen hat,
    daß die materiellen Grundlagen der hysterischen Veränderungen nicht
    anders als gleichartig sein können mit jenen unserer normalen Seelen-
    vorgänge, der wird selbstverständlich für die Ergebnisse unserer
    Analysen kein Vertrauen übrig haben; die prinzipielle Verschieden-
    heit seiner Voraussetzungen von den unserigen entbindet uns aber
    auch der Verpflichtung, ihn in einer Einzelfrage zu überzeugen.

    1) [Zusatz 1924:) Siehe die Bemerkung auf 5. 419.

  • S.

    Zur Ätiologie der Hysterie 419

    Aber auch ein anderer, der sich minder abweisend gegen die
    psychologischen Theorien der Hysterie verhält, wird angesichts
    unserer analytischen Ergebnisse die Frage aufzuwerfen versucht
    sein, welche Sicherheit die Anwendung der Psychoanalyse mit sich
    bringt, ob es denn nicht sehr wohl möglich sei, daß entweder der
    Arzt solche Szenen als angebliche Erinnerung dem gefälligen
    Kranken aufdrängt, oder daß der Kranke ihm absichtliche Erfin-
    dungen und freie Phantasien vorträgt, die jener für echt annimmt,
    Nun, ich habe darauf zu erwidern, die allgemeinen Bedenken
    gegen die Verläßlichkeit der psychoanalytischen Methode können
    erst gewürdigt und beseitigt werden, wenn eine vollständige
    Darstellung ihrer Technik und ihrer Resultate vorliegen wird;
    die Bedenken gegen die Echtheit der infantilen Sexualszenen
    aber kann man bereits heute durch mehr als ein Argument ent-
    kräften. Zunächst ist das Benehmen der Kranken, während sie
    diese infantilen Erlebnisse reproduzieren, nach allen Richtungen
    hin unvereinbar mit der Annahme, die Szenen seien etwas anderes
    als peinlich empfundene und höchst ungern erinnerte Realität.
    Die Kranken wissen vor Anwendung der Analyse nichts von
    diesen Szenen, sie pflegen sich zu empören, wenn man ihnen
    etwa das Auftauchen derselben ankündigt; sie können nur durch
    den stärksten Zwang der Behandlung bewogen werden, sich in
    deren Reproduktion einzulassen, sie leiden unter den heftigsten
    Sensationen, deren sie sich schämen und die sie zu verbergen
    trachten, während sie sich diese infantilen Erlebnisse ins Be-
    wußtsein rufen, und noch, nachdem sie dieselben in so über-
    zeugender Weise wieder durchgemacht haben, versuchen sie es,
    ihnen den Glauben zu versagen, indem sie betonen, daß sich
    hiefür nicht wie bei anderem Vergessenen ein Erinnerungsgefühl
    eingestellt hat."

    1) [Zusatz 1924:) All dies ist richtig, aber es ist zu bedenken, daß ich mich damals
    von der Überschätzung der Realität und der Geringschätzung der Phantasie noch nicht
    frei gemacht hatte,

    ap

  • S.

    420 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    Letzteres Verhalten scheint nun absolut beweiskråftig zu sein.
    Wozu sollten die Kranken mich so entschieden ihres Unglaubens
    versichern, wenn sie aus irgend einem Motiv die Dinge, die sie
    entwerten wollen, selbst erfunden haben?

    Daß der Arzt dem Kranken derartige Reminiszenzen aufdränge,
    ihn zu ihrer Vorstellung und Wiedergabe suggeriere, ist weniger
    bequem zu widerlegen, erscheint mir aber ebenso unhaltbar. Mir
    ist es noch nie gelungen, einem Kranken eine Szene, die ich er-
    wartete, derart aufzudrängen, daß er sie mit allen zu ihr ge-
    hörigen Empfindungen zu durchleben schien; vielleicht treffen es
    andere besser.

    Es gibt aber noch eine ganze Reihe anderer Bürgschaften für
    die Realität der infantilen Sexualszenen. Zunächst deren Uni-
    formität in gewissen Einzelheiten, wie sie sich aus den gleich-
    artig wiederkehrenden Voraussetzungen dieser Erlebnisse ergeben
    muß, während man sonst geheime Verabredungen zwischen den
    einzelnen Kranken für glaubhaft halten müßte. Sodann, daß die
    Kranken gelegentlich wie harmlos Vorgänge beschreiben, deren
    Bedeutung sie offenbar nicht verstehen, weil sie sonst entsetzt sein
    müßten, oder daß sie, ohne Wert darauf zu legen, Einzelheiten
    berühren, die nur ein Lebenserfahrener kennt und als feine
    Charakterzüge des Realen zu schätzen versteht.

    Verstürken solche Vorkommnisse den Eindruck, daß die Kranken
    wirklich erlebt haben müssen, was sie unter dem Zwang der
    Analyse als Szene aus der Kindheit reproduzieren, so entspringt
    ein anderer und michtigerer Beweis hiefür aus der Beziehung der
    Infantilszenen zum Inhalt der ganzen übrigen Krankengeschichte.
    Wie bei den Zusammenlegbildern der Kinder sich nach mancherlei
    Probieren schlieBlich eine absolute Sicherheit herausstellt, welches
    Stück in die freigelassene Lücke gehórt — weil nur dieses eine
    gleichzeitig das Bild ergänzt und sich mit seinen unregelmäßigen
    Zacken zwischen die Zacken der anderen so einpassen läßt, daß
    kein freier Raum bleibt und kein Übereinanderschieben notwendig

  • S.

    Zur Ätiologie der Hysterie 421

    wird, — so erweisen sich die Infantilszenen inhaltlich als unab-
    weisbare Ergänzungen fiir das assoziative und logische Gefüge der
    Neurose, nach deren Einfügung erst der Hergang verständlich —
    man möchte oftmals sagen: selbstverståndlich — wird.

    Daß auch der therapeutische Beweis für die Echtheit der In-
    fantilszenen in einer Reihe von Fållen zu erbringen ist, flige ich
    hinzu, ohne diesen in den Vordergrund drången zu wollen. Es
    gibt Fille, in denen ein vollstindiger oder partieller Heilerfolg zu
    erreichen ist, ohne daß man bis zu den Infantilerlebnissen herab-
    steigen muß; andere, in welchen jeder Erfolg ausbleibt, ehe die
    Analyse ihr natürliches Ende mit der Aufdeckung der frühesten
    Traumen gefunden hat. Ich meine, im ersteren Falle sei man vor
    Rezidiven nicht gesichert; ich erwarte, daß eine vollständige Psycho-
    analyse die radikale Heilung einer Hysterie bedeutet. Indes, greifen
    wir hier den Lehren der Erfahrung nicht vor!

    Es gibe noch einen, einen wirklich unantastbaren Beweis fiir
    die Echtheit der sexuellen Kindererlebnisse, wenn nämlich die
    Angaben der einen Person in der Analyse durch die Mitteilung
    einer anderen Person in oder außerhalb einer Behandlung bestätigt.
    würden. Diese beiden Personen müßten in ihrer Kindheit an dem-
    selben Erlebnis Anteil genommen haben, etwa in einem sexuellen
    Verhältnis zueinander gestanden sein. Solche Kinderverhältnisse
    sind, wie Sie gleich hören werden, gar nicht selten; es kommt
    auch häufig genug vor, daß beide Beteiligte später an Neurosen
    erkranken, und doch, meine ich, ist es ein Glücksfall, daß mir
    eine solche objektive Bestätigung unter achtzehn Fällen zweimal
    gelungen ist. Einmal war es der gesund gebliebene Bruder, der
    mir unaufgefordert zwar nicht die frühesten Sexualerlebnisse mit
    seiner kranken Schwester, aber wenigstens solche Szenen aus ihrer
    späteren Kindheit und die Tatsache von weiter zurückreichenden
    sexuellen Beziehungen bekräftigte. Ein andermal traf es sich, daß
    zwei in Behandlung stehende Frauen als Kinder mit der nämlichen
    männlichen Person sexuell verkehrt hatten, wobei einzelne Szenen

  • S.

    422 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    à trois zustande gekommen waren. Ein gewisses Symptom, das
    sich von diesen Kindererlebnissen ableitete, war, als Zeuge dieser
    Gemeinschaft, in beiden Fillen zur Ausbildung gelangt.

    b) Sexuelle Erfahrungen der Kindheit, die in Reizungen der
    Genitalien, koitusihnlichen Handlungen usw. bestehen, sollen also
    in letzter Analyse als jene Traumen anerkannt werden, von denen
    die hysterische Reaktion gegen Pubertitserlebnisse und die Ent-
    wicklung hysterischer Symptome ausgeht. Gegen diesen Ausspruch
    werden sicherlich von verschiedenen Seiten zwei zueinander gegen-
    såtzliche Einwendungen erhoben werden. Die einen werden sagen,
    derartige sexuelle MiBbrauche, an Kindern veriibt oder von Kindern
    untereinander, kåmen zu selten vor, als daB man mit ihnen die Be-
    dingtheit einer so häufigen Neurose wie der Hysterie decken könnte;
    andere werden vielleicht geltend machen, dergleichen Erlebnisse seien
    im Gegenteil sehr häufig, allzu häufig, als daß man ihrer Feststellung
    eine ätiologische Bedeutung zusprechen könnte. Sie werden ferner
    anführen, daß es bei einiger Umfrage leicht fällt, Personen auf-
    zufinden, die sich an Szenen von sexueller Verführung und
    sexuellem MiBbrauche in ihren Kinderjahren erinnern, und die
    doch niemals hysterisch gewesen sind. Endlich werden wir als
    schwerwiegendes Argument zu hören bekommen, daß in den
    niederen Schichten der Bevölkerung die Hysterie gewiß nicht
    häufiger vorkommt als in den höchsten, während doch alles dafür
    spricht, daß das Gebot der sexuellen Schonung des Kindesalters an
    den Proletarierkindern ungleich häufiger übertreten wird.

    Beginnen wir unsere Verteidigung mit dem leichteren Teil der
    Aufgabe. Es scheint mir sicher, daß unsere Kinder weit häufiger
    sexuellen Angriffen ausgesetzt sind, als man nach der geringen,
    von den Eltern hierauf verwendeten Fürsorge erwarten sollte. Bei
    den ersten Erkundigungen, was über dieses Thema bekannt sei,
    erfuhr ich von Kollegen, daß mehrere Publikationen von Kinder-
    ärzten vorliegen, welche die Häufigkeit sexueller Praktiken selbst
    an Säuglingen von seiten der Ammen und Kinderfrauen anklagen,

  • S.

    Zur Atiologie der Hysterie 423

    und aus den letzten Wochen ist mir eine von Dr. Stekel in
    Wien herrührende Studie in die Hand geraten, die sich mit
    dem „Koitus im Kindesalter“ beschäftigt (Wiener medizinische
    Blätter, 18. April 1896). Ich habe nicht Zeit gehabt, andere lite-
    rarische Zeugnisse zu sammeln, aber selbst, wenn diese sich nur
    vereinzelt finden, dürfte man erwarten, daß mit der Steigerung
    der Aufmerksamkeit für dieses Thema sehr bald die große Häufig-
    keit von sexuellen Erlebnissen und sexueller Betätigung im Kindes-
    alter bestätigt werden wird.

    Schließlich sind die Ergebnisse meiner Analyse imstande, für
    sich selbst zu sprechen. In sämtlichen achtzehn Fällen (von reiner
    Hysterie und Hysterie mit Zwangsvorstellungen kombiniert, sechs
    Männer und zwölf Frauen) bin ich, wie erwähnt, zur Kenntnis
    solcher sexueller Erlebnisse des Kindesalters gelangt. Ich kann
    meine Fälle in drei Gruppen bringen, je nach der Herkunft der
    sexuellen Reizung. In der ersten Gruppe handelt es sich um
    Attentate, einmaligen oder doch vereinzelten Mißbrauch meist
    weiblicher Kinder von seiten erwachsener, fremder Individuen (die
    dabei groben, mechanischen Insult zu vermeiden verstanden),
    wobei die Einwilligung der Kinder nicht in Frage kam und als
    nächste Folge des Erlebnisses der Schreck überwog. Eine zweite
    Gruppe bilden jene weit zahlreicheren Fälle, in denen eine das Kind
    wartende erwachsene Person — Kindermädchen, Kindsfrau, Gou-
    vernante, Lehrer, leider auch allzuhäufig ein naher Verwandter —
    das Kind in den sexuellen Verkehr einführte und ein — auch
    nach der seelischen Richtung ausgebildetes — förmliches Liebes-
    verhältnis, oft durch Jahre, mit ihm unterhielt. In die dritte
    Gruppe endlich gehören die eigentlichen Kinderverhältnisse, sexuelle
    Beziehungen zwischen zwei Kindern verschiedenen Geschlechtes,
    zumeist zwischen Geschwistern, die oft über die Pubertät hinaus
    fortgesetzt werden, und die nachhaltigsten Folgen für das be-
    treffende Paar mit sich bringen. In den meisten meiner Fälle er-
    gab sich kombinierte Wirkung von zwei oder mehreren solcher

  • S.

    424 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    Atiologien; in einzelnen war die Häufung der sexuellen Erlebnisse
    von verschiedenen Seiten her geradezu erstaunlich. Sie verstehen
    aber diese Eigentümlichkeit meiner Beobachtungen leicht, wenn
    Sie in Betracht ziehen, daß ich durchweg Fälle von schwerer
    neurotischer Erkrankung, die mit Existenzunfähigkeit drohte, zu
    behandeln hatte.

    Wo ein Verhältnis zwischen zwei Kindern vorlag, gelang nun
    einige Male der Nachweis, daß der Knabe — der auch hier die
    aggressive Rolle spielt — vorher von einer erwachsenen weiblichen
    Person verführt worden war, und daß er dann unter dem Drucke
    seiner vorzeitig geweckten Libido und infolge des Erinnerungs-
    zwanges an dem kleinen Mädchen genau die nämlichen Praktiken
    zu wiederholen suchte, die er bei der Erwachsenen erlernt hatte,
    ohne daß er selbständig eine Modifikation in der Art der sexuellen
    Betätigung vorgenommen hätte.

    Ich bin daher geneigt anzunehmen, daß ohne vorherige Ver-
    führung Kinder den Weg zu Akten sexueller Aggression nicht
    zu finden vermögen. Der Grund zur Neurose würde demnach im
    Kindesalter immer von seiten Erwachsener gelegt, und die Kinder
    selbst übertragen einander die Disposition, später an Hysterie zu
    erkranken. Ich bitte, verweilen Sie noch einen Moment bei der
    besonderen Häufigkeit sexueller Beziehungen im Kindesalter gerade
    zwischen Geschwistern und Vettern infolge der Gelegenheit zu
    häufigem Beisammensein, stellen Sie sich vor, daß zehn oder fünf-
    zehn Jahre später in dieser Familie mehrere Individuen der jungen
    Generation krank gefunden werden, und fragen Sie sich, ob dieses
    familiäre Auftreten der Neurose nicht geeignet ist, zur Annahme
    einer erblichen Disposition zu verleiten, wo doch nur eine Pseudo-
    heredität vorliegt und in Wirklichkeit eine Übertragung, eine
    Infektion in der Kindheit stattgefunden hat.

    Nun wenden wir uns zu dem andern Einwand, welcher gerade
    auf der zugestandenen Häufigkeit infantiler Sexualerlebnisse und
    auf der Erfahrung fußt, daß viele Personen sich an solche Szenen

  • S.

    Zur Atiologie der Hysterie 425

    erinnern, die nicht hysterisch geworden sind. Dagegen sagen wir
    zunächst, daß die übergroße Häufigkeit eines åtiologischen Moments
    unmöglich zum Vorwurf gegen dessen åtiologische Bedeutung ver-
    wendet werden kann. Ist der Tuberkelbazillus nicht allgegenwårtig
    und wird von weit mehr Menschen eingeatmet, als sich an Tuber-
    kulose erkrankt zeigen? Und wird seine ätiologische Bedeutung
    durch die Tatsache geschädigt, daß er offenbar der Mitwirkung
    anderer Faktoren bedarf, um die Tuberkulose, seinen spezifischen
    Effekt, hervorzurufen? Es reicht für seine Würdigung als spezifische
    Ätiologie aus, daß Tuberkulose nicht möglich ist ohne seine Mit-
    wirkung. Das gleiche gilt wohl auch für unser Problem. Es stört
    nicht, wenn viele Menschen infantile Sexualszenen erleben ohne
    hysterisch zu werden; wenn nur alle, die hysterisch werden, solche
    Szenen erlebt haben. Der Kreis des Vorkommens eines ätiologi-
    schen Faktors darf gerne ausgedehnter sein als der seines Effekts,
    nur nicht enger. Es erkranken nicht alle an Blattern, die einen
    Blatternkranken berühren oder ihm nahe kommen, und doch ist
    Übertragung von einem Blatternkranken fast die einzige uns be-
    kannte Ätiologie der Erkrankung.

    Freilich, wenn infantile Betätigung der Sexualität ein fast all-
    gemeines Vorkommnis wäre, dann fiele auf deren Nachweis in
    allen Fällen kein Gewicht. Aber erstens wäre eine derartige Be- |
    hauptung sicherlich eine arge Übertreibung, und zweitens ruht
    der ätiologische Anspruch der infantilen Szenen nicht allein auf
    der Beständigkeit ihres Vorkommens in der Anamnese der Hyste-
    rischen, sondern vor allem auf dem Nachweis der assoziativen und
    logischen Bande zwischen ihnen und den hysterischen Symptomen,
    der Ihnen aus einer vollständig mitgeteilten Krankengeschichte
    sonnenklar einleuchten würde.

    Welches mögen die anderen Momente sein, deren die „spezi-
    fische Ätiologie“ der Hysterie noch bedarf, um die Neurose wirk-
    lich zu produzieren? Dies, meine Herren, ist eigentlich ein Thema
    für sich, das ich zu behandeln nicht vorhabe; ich brauche heute

  • S.

    426 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    bloß die Kontaktstelle aufzuzeigen, an welcher die beiden Teil-
    stücke des Themas — spezifische und Hilfsätiologie — ineinander
    greifen. Es wird wohl eine ziemliche Anzahl von Faktoren in
    Betracht kommen, die erbliche und persönliche Konstitution, die
    innere Bedeutsamkeit der infantilen Sexualerlebnisse, vor allem
    deren Häufung; ein kurzes Verhältnis mit einem fremden, später
    gleichgültigen Knaben wird an Wirksamkeit zurückstehen gegen
    mehrjährige, innige, sexuelle Beziehungen zum eigenen Bruder. Es
    sind in der Ätiologie der Neurosen quantitative Bedingungen
    ebensowohl bedeutsam wie qualitative; es sind Schwellenwerte zu
    überschreiten, wenn die Krankheit manifest werden soll. Ich halte
    die obige ätiologische Reihe übrigens selbst nicht für vollzählig
    und das Rätsel, warum die Hysterie in den niederen Ständen
    nicht häufiger ist, durch sie noch nicht erledigt. (Erinnern Sie
    sich übrigens, welche überraschend große Verbreitung Charcot
    für die männliche Hysterie des Arbeiterstandes behauptete.) Ich
    darf Sie aber auch daran mahnen, daß ich selbst vor wenigen
    Jahren auf ein bisher wenig gewürdigtes Moment hingewiesen
    habe, für welches ich die Hauptrolle in der Hervorrufung der
    Hysterie nach der Pubertät in Anspruch nehme. Ich habe damals
    ausgeführt, daß sich der Ausbruch der Hysterie fast regelmäßig
    auf einen psychischen Konflikt zurückführen läßt, indem eine
    unvertrågliche Vorstellung die Abwehr des Ichs rege mache und
    zur Verdrängung auffordere. Unter welchen Verhältnissen dieses
    Abwehrbestreben den pathologischen Effekt hat, die dem Ich
    peinliche Erinnerung wirklich ins UnbewuDte zu drängen und
    an ihrer Statt ein hysterisches Symptom zu schaffen, das konnte
    ich damals nicht angeben. Ich ergänze es heute: Die Abwehr
    erreicht dann ihre Absicht, die unvertrågliche Vorstel-
    lung aus dem Bewußtsein zu drängen, wenn bei der be-
    treffenden, bis dahin gesunden Person infantile Sexual-
    szenen als unbewuBte Erinnerungen vorhanden sind, und
    wenn die zu verdrångende Vorstellung in logischen oder

  • S.

    Zur Atiologie der Hysterie 427

    assoziativen Zusammenhang mit einem solchen infantilen
    Erlebnis gebracht werden kann.

    Da das Abwehrbestreben des Ichs von der gesamten moralischen |
    und intellektuellen Ausbildung der Person abhängt, sind wir nun
    nicht mehr ohne jedes Verständnis für die "Tatsache, daß die
    Hysterie beim niederen Volk so viel seltener ist als ihre spezifische
    Ätiologie gestatten würde.

    Meine Herren, kehren wir noch einmal zurück zu jener letzten
    Gruppe von Einwänden, deren Beantwortung uns so weit geführt
    hat. Wir haben gehört und anerkannt, daß es zahlreiche Personen
    gibt, die infantile Sexualerlebnisse sehr deutlich erinnern, und die
    doch nicht hysterisch sind. Dieser Einwand ist ganz ohne Gewicht,
    er wird uns aber Anlaß zu einer wertvollen Bemerkung bieten.
    Personen dieser Art dürfen nach unserem Verständnis der Neurose
    gar nicht hysterisch sein, oder wenigstens nicht hysterisch infolge
    der Szenen, die sie bewußt erinnern. Bei unseren Kranken sind
    diese Erinnerungen niemals bewußt; wir heilen sie aber von ihrer
    Hysterie, indem wir ihnen die unbewußten Erinnerungen der
    Infantilszenen in bewußte verwandeln. An der Tatsache, daß sie
    solche Erlebnisse gehabt haben, konnten und brauchten wir nichts
    zu ändern, Sie ersehen daraus, daß es auf die Existenz der infan-
    tilen Sexualerlebnisse allein nicht ankommt, sondern daß eine
    psychologische Bedingung noch dabei ist. Diese Szenen müssen
    als unbewußte Erinnerungen vorhanden sein; nur solange und
    insofern sie unbewußt sind, können sie hysterische Symptome er-
    zeugen und unterhalten. Wovon es aber abhängt, ob diese Erleb-
    nisse bewußte oder unbewußte Erinnerungen ergeben, ob die Be-
    dingung hiefür im Inhalt der Erlebnisse, in der Zeit, zu der sie vor-
    fallen, oder in späteren Einflüssen liegt, dies ist ein neues Problem,
    dem wir behutsam aus dem Wege gehen wollen. Lassen Sie sich
    bloß daran mahnen, daß uns die Analyse als erstes Resultat den
    Satz gebracht hat: Die hysterischen Symptome sind Ab-
    kömmlinge unbewußt wirkender Erinnerungen.

  • S.

    428 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    c) Wenn wir daran festhalten, infantile Sexualerlebnisse seien
    die Grundbedingung, sozusagen die Disposition der Hysterie, sie
    erzeugen die hysterischen Symptome aber nicht unmittelbar,
    sondern bleiben zunächst wirkungslos und wirken pathogen erst
    später, wenn sie im Alter nach der Pubertät als unbewuBte Er-
    innerungen geweckt werden, so haben wir uns mit den zahl-
    reichen Beobachtungen auseinanderzusetzen, welche das Auftreten
    hysterischer Erkrankung bereits im Kindesalter und vor der
    Pubertät erweisen. Indes löst sich die Schwierigkeit wieder, wenn
    wir die aus den Analysen gewonnenen Daten über die zeitlichen
    Umstände der infantilen Sexualerlebnisse naher betrachten. Man
    erfährt dann, daß in unseren schweren Fällen die Bildung hyste-
    rischer Symptome nicht etwa ausnahmsweise, sondern eher regel-
    mäßig mit dem achten Jahr beginnt, und daß die Sexualerleb-
    nisse, die keine unmittelbare Wirkung äußern, jedesmal weiter
    zurückreichen, ins dritte, vierte, selbst ins zweite Lebensjahr. Da

    ` in keinem einzigen Fall die Kette der wirksamen Erlebnisse mit
    dem achten Jahr abbricht, muß ich annehmen, daß diese Lebens-
    periode, in welcher der Wachstumsschub der zweiten Dentition
    erfolgt, für die Hysterie eine Grenze bildet, von welcher an ihre
    Verursachung unmöglich wird. Wer nicht frühere Sexualerlebnisse
    hat, kann von da an nicht mehr zur Hysterie disponiert werden;
    wer solche hat, kann nun bereits hysterische Symptome entwickeln.
    Das vereinzelte Vorkommen von Hysterie auch jenseits dieser
    Altersgrenze (vor acht Jahren) ließe sich noch als Erscheinung der
    Frühreife deuten, Die Existenz dieser Grenze hängt sehr wahr-
    scheinlich mit Entwicklungsvorgängen im Sexualsystem zusammen.
    Verfrühung der somatischen Sexualentwicklung kommt häufig zur
    Beobachtung, und es ist selbst denkbar, daß sie durch vorzeitige
    sexuelle Reizung befördert werden kann.

    Man gewinnt so einen Hinweis darauf, daß ein gewisser in-
    fantiler Zustand der psychischen Funktionen wie des Sexual-
    systems erforderlich ist, damit eine in diese Periode fallende

  • S.

    Zur Atiologie der Hysterie 429

    sexuelle Erfahrung spater als Erinnerung pathogene Wirkung ent-
    falte. Ich getraue mich indes noch nicht, über die Natur dieses
    psychischen Infantilismus und über seine zeitliche Begrenzung
    Näheres auszusagen.

    d) Eine weitere Einwendung könnte etwa daran Anstoß nehmen,
    daß die Erinnerung der infantilen Sexualerlebnisse so großartige
    pathogene Wirkung äußern soll, während das Erleben derselben
    selbst wirkungslos geblieben ist. Wir sind ja in der Tat nicht
    daran gewöhnt, daß von einem Erinnerungsbild Kräfte ausgehen,
    welche dem realen Eindruck gefehlt haben. Sie bemerken hier
    übrigens, mit welcher Konsequenz bei der Hysterie der Satz
    durchgeführt ist, daß Symptome nur aus Erinnerungen hervor-
    gehen können. Alle die späteren Szenen, bei denen die Symptome
    entstehen, sind nicht die wirksamen, und die eigentlich wirk-
    samen Erlebnisse erzeugen zunächst keinen Effekt. Wir stehen
    aber hier vor einem Problem, welches wir mit gutem Recht von
    unserem Thema sondern können. Man fühlt sich freilich zu einer
    Synthese aufgefordert, wenn man die Reihe von auffälligen Be-
    dingungen überdenkt, zu deren Kenntnis wir gelangt sind: daß,
    um ein hysterisches Symptom zu bilden, ein Abwehrbestreben
    gegen eine peinliche Vorstellung vorhanden sein muß; daß diese
    eine logische oder assoziative Verknüpfung aufweisen muß mit
    einer unbewußten Erinnerung durch wenige oder zahlreiche
    Mittelglieder, die in diesem Moment gleichfalls unbewußt bleiben;
    daß jene unbewußte Erinnerung nur sexuellen Inhalts sein kann;
    daß sie ein Erlebnis zum Inhalt hat, welches sich in einer gewissen
    infantilen Lebensperiode zugetragen hat; und man kann nicht umhin,
    sich zu fragen, wie es zugeht, daß diese Erinnerung an ein seiner-
    zeit harmloses Erlebnis posthum die abnorme Wirkung äußert, einen
    psychischen Vorgang wie das Abwehren zu einem pathologischen
    Resultat zu leiten, während sie selbst dabei unbewußt bleibt?

    Man wird sich aber sagen müssen, dies sei ein rein psycho-
    logisches Problem, dessen Lösung vielleicht bestimmte Annahmen

  • S.

    430 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    über die normalen psychischen. Vorgänge und über die Rolle des
    Bewuftseins dabei notwendig macht, das aber einstweilen unge-
    løst bleiben kann, ohne unsere bisher gewonnene Einsicht in die
    Ätiologie der hysterischen Phänomene zu entwerten.

    III

    Meine Herren, das Problem, dessen Ansätze ich soeben formu-
    liert habe, betrifft den Mechanismus der hysterischen Symptom-
    bildung. Wir sind aber genötigt, die Verursachung dieser Sym-
    ptome darzustellen, ohne diesen Mechanismus in Betracht zu
    ziehen, was eine unvermeidliche Einbuße an Abrundung und
    Durchsichtigkeit unserer Erörterung mit sich bringt. Kehren wir
    zur Rolle der infantilen Sexualszenen zurück, Ich fürchte, ich
    könnte Sie zur Überschätzung von deren symptombildender Kraft
    verleitet haben. Ich betone darum nochmals, daß jeder Fall von
    Hysterie Symptome aufweist, deren Determinierung nicht aus in-
    fantilen, sondern aus späteren, oft aus rezenten Erlebnissen her-
    stammt, Ein anderer Anteil der Symptome geht freilich auf die
    allerfrühesten Erlebnisse zurück, ist gleichsam von ältestem Adel.
    Dahin gehören vor allem die so zahlreichen und mannigfaltigen
    Sensationen und Parästhesien an den Genitalien und anderen
    Körperstellen, die einfach dem Empfindungsinhalt der Infantilszenen
    in halluzinatorischer Reproduktion, oft auch in schmerzhafter Ver-
    stårkung, entsprechen.

    Eine andere Reihe überaus gemeiner hysterischer Phänomene,
    der schmerzhafte Harndrang, die Sensation bei der Defåkation,
    Störungen der Darmtitigkeit, das Wiirgen und Erbrechen, Magen-
    beschwerden und Speiseekel, gab sich in meinen Analysen gleich-
    falls — und zwar mit überraschender RegelmiBigkeit — als
    Derivat derselben Kindererlebnisse zu erkennen und erklårte sich
    mühelos aus konstanten Eigentiimlichkeiten derselben. Die infan-
    tilen Sexualszenen sind nämlich arge Zumutungen fiir das Ge-

  • S.

    Zur Atiologie der Hysterie 431

    fühl eines sexuell normalen Menschen; sie enthalten alle Aus-
    schreitungen, die von Wiistlingen und Impotenten bekannt sind,
    bei denen Mundhöhle und Darmausgang mißbräuchlich zu sexueller
    Verwendung gelangen. Die Verwunderung hierüber weicht beim
    Arzte alsbald einem völligen Verständnis. Von Personen, die
    kein Bedenken tragen, ihre sexuellen Bedürfnisse an Kindern zu
    befriedigen, kann man nicht erwarten, daß sie an Nuancen in
    der Weise dieser Befriedigung Anstoß nehmen, und die dem
    Kindesalter anhaftende sexuelle Impotenz drängt unausbleiblich
    zu denselben Surrogathandlungen, zu denen sich der Erwachsene
    im Falle erworbener Impotenz erniedrigt. Alle die seltsamen Be-
    dingungen, unter denen das ungleiche Paar sein Liebesverhältnis
    fortführt: der Erwachsene, der sich seinem Anteil an der gegen-
    seitigen Abhängigkeit nicht entziehen kann, wie sie aus einer
    sexuellen Beziehung notwendig hervorgeht, der dabei doch mit
    aller Autorität und dem Rechte der Züchtigung ausgerüstet ist
    und zur ungehemmten Befriedigung seiner Launen die eine Rolle
    mit der anderen vertauscht; das Kind, dieser Willkür in seiner
    Hilflosigkeit preisgegeben, vorzeitig zu allen Empfindlichkeiten er-
    weckt und allen Enttäuschungen ausgesetzt, häufig in der Aus-
    übung der ihm zugewiesenen sexuellen Leistungen durch seine
    unvollkommene Beherrschung der natürlichen Bedürfnisse unter-
    brochen — alle diese grotesken und doch tragischen Mißverhält-
    nisse prägen sich in der ferneren Entwicklung des Individuums
    und seiner Neurose in einer Unzahl von Dauereffekten aus, die
    der eingehendsten Verfolgung würdig wären. Wo sich das Ver-
    hältnis zwischen zwei Kindern abspielt, bleibt der Charakter der
    Sexualszenen doch der nämliche abstoBende, da ja jedes Kinder-
    verhältnis eine vorausgegangene Verführung des einen Kindes
    durch einen Erwachsenen postuliert. Die psychischen Folgen eines
    solchen Kinderverhältnisses sind ganz außerordentlich tiefgreifende;
    die beiden Personen bleiben für ihre ganze Lebenszeit durch ein
    unsichtbares Band miteinander verknüpft.

  • S.

    432 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    Gelegentlich sind es Nebenumstinde dieser infantilen Sexual-
    szenen, welche in spiteren Jahren zu determinierender Macht fiir
    die Symptome der Neurose gelangen. So hat in einem meiner
    Fälle der Umstand, daß das Kind abgerichtet wurde, mit seinem
    FuB die Genitalien der Erwachsenen zu erregen, hingereicht, um
    Jahre hindurch die neurotische Aufmerksamkeit auf die Beine
    und deren Funktion zu fixieren und schlieBlich eine hysterische
    Paraplegie zu erzeugen. In einem andern Falle wäre es rätselhaft
    geblieben, warum die Kranke in ihren Angstanfillen, die ge-
    wisse Tagesstunden bevorzugten, gerade eine einzige von ihren
    zahlreichen Schwestern zu ihrer Beruhigung nicht von ihrer Seite
    lassen wollte, wenn die Analyse nicht ergeben hätte, daß der
    Attentäter sich seinerzeit bei jedem seiner Besuche erkundigt
    hatte, ob diese Schwester zu Hause sei, von der er eine Störung
    befürchten mußte.

    Es kommt vor, daß die determinierende Kraft der Infantilszenen
    sich so sehr verbirgt, daß sie bei oberflächlicher Analyse über-
    sehen werden muß. Man vermeint dann, man habe die Erklärung
    eines gewissen Symptoms im Inhalt einer der späteren Szenen
    gefunden und stößt im Verlaufe der Arbeit auf denselben Inhalt
    in einer der Infantilszenen, so daß man sich schließlich sagen
    muß, die spätere Szene verdanke ihre Kraft, Symptome zu deter-
    minieren, doch nur ihrer Übereinstimmung mit der früheren. Ich
    will darum die spätere Szene nicht als bedeutungslos hinstellen; wenn
    ich die Aufgabe hätte, die Regeln der hysterischen Symptombildung
    vor Ihnen zu erörtern, würde ich als eine dieser Regeln anerkennen
    müssen, daß zum Symptom jene Vorstellung auserwählt wird, zu
    deren Hebung mehrere Momente zusammenwirken, die von ver-
    schiedenen Seiten her gleichzeitig geweckt wird, was ich an anderer
    Stelle durch den Satz auszudrücken versucht habe: Die hysteri-
    schen Symptome seien überdeterminiert.

    Noch eines, meine Herren; ich habe zwar vorhin das Ver-
    hältnis der rezenten Ätiologie zur infantilen als ein besonderes

  • S.

    Zur Ätiologie der Hysterie 433

    Thema beiseite gerückt; aber ich kann doch den Gegenstand nicht
    verlassen, ohne diesen Vorsatz wenigstens durch eine Bemerkung
    zu übertreten. Sie gestehen mir zu, es ist vor allem eine Tat-
    sache, die uns am psychologischen Verständnis der hysterischen
    Phänomene irre werden läßt, die uns zu warnen scheint, psychische
    Akte bei Hysterischen und bei Normalen mit gleichem Maß zu
    messen. Es ist dies das Mißverhältnis zwischen psychisch er-
    regendem Reiz und psychischer Reaktion, das wir bei den Hyste-
    rischen antreffen, welches wir durch die Annahme einer allge-
    meinen abnormen Reizbarkeit zu decken suchen und häufig phy-
    siologisch zu erklären bemüht sind, als ob gewisse, der Übertragung
    dienende Hirnorgane sich bei den Kranken in einem besonderen
    chemischen Zustand befänden, etwa wie die Spinalzentren des
    Strychninfrosches, oder sich dem Einflusse höherer hemmender
    Zentren entzogen hätten, wie im vivisektorischen Tierexperiment,
    Beide Auffassungen mögen hie und da zur Erklärung der
    hysterischen Phänomene vollberechtigt sein; das stelle ich nicht in
    Abrede, Aber der Hauptanteil des Phänomens, der abnormen,
    übergroßen, hysterischen Reaktion auf psychische Reize, läßt eine
    andere Erklärung zu, die durch zahllose Beispiele aus den Ana-
    lysen gestützt wird. Und diese Erklärung lautet: Die Reaktion
    der Hysterischen ist eine nur scheinbar übertriebene;
    sie muß uns so erscheinen, weil wir nur einen kleinen |
    Teil der Motive kennen, aus denen sie erfolgt.

    In Wirklichkeit ist diese Reaktion proportional dem erregenden
    Reiz, also normal und psychologisch verständlich. Wir sehen dies
    sofort ein, wenn die Analyse zu den manifesten, dem Kranken
    bewußten Motiven jene anderen. Motive hinzugefügt hat, die ge-
    wirkt haben, ohne daß der Kranke um sie wußte, die er uns
    also nicht mitteilen konnte.

    Ich könnte Stunden damit ausfüllen, Ihnen diesen wichtigen
    Satz für den ganzen Umfang der psychischen Tätigkeit bei Hyste-
    rischen zu erweisen, muß mich aber hier auf wenige Beispiele

    Freud, I. 28

  • S.

    434 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    beschränken. Sie erinnern sich an die so häufige seelische „Emp-
    findlichkeit“ der Hysterischen, die sie auf die leiseste Andeutung
    einer Geringschätzung reagieren läßt, als seien sie tödlich be-
    leidigt worden. Was würden Sie nun denken, wenn Sie eine
    solche hochgradige Verletzbarkeit bei geringfügigen Anlässen
    zwischen zwei gesunden Menschen, etwa Ehegatten, beobachten
    würden? Sie würden gewiß den Schluß ziehen, die eheliche Szene,
    der Sie beigewohnt, sei nicht allein das Ergebnis des letzten klein-
    lichen Anlasses, sondern da habe sich durch lange Zeit Zündstoff
    angehäuft, der nun in seiner ganzen Masse durch den letzten An-
    stoß zur Explosion gebracht worden sei.

    Bitte, übertragen Sie denselben Gedankengang auf die Hyste-
    rischen. Nicht die letzte, an sich minimale Kränkung ist es, die
    den Weinkrampf, den Ausbruch von Verweiflung, den Selbstmord-
    versuch erzeugt, mit MiBachtung des Satzes von der Proportio-
    nalität des Effekts und der Ursache, sondern diese kleine aktuelle
    Kränkung hat die Erinnerungen so vieler und intensiverer früherer
    Kränkungen geweckt und zur Wirkung gebracht, hinter denen
    allen noch die Erinnerung an eine schwere, nie verwundene
    Kränkung im Kindesalter steckt. Oder: wenn ein junges Mädchen
    sich die entsetzlichsten Vorwürfe macht, weil sie geduldet, daß
    ein Knabe zärtlich im geheimen über ihre Hand gestrichen, und
    von da ab der Neurose verfällt, so können Sie zwar dem Rätsel
    mit dem Urteil begegnen, das sei eine abnorme, exzentrisch an-
    gelegte, hypersensitive Person; aber Sie werden anders denken,
    wenn Ihnen die Analyse zeigt, daß jene Berührung an eine an-
    dere, ähnliche, erinnerte, die in sehr früher Jugend vorfiel und
    die ein Stück aus einem minder harmlosen Ganzen war, so daß
    eigentlich die Vorwürfe jenem alten Anlaß gelten. Schließlich ist
    das Rätsel der hysterogenen Punkte auch kein anderes; wenn Sie
    die eine ausgezeichnete Stelle berühren, tun Sie etwas, was Sie
    nicht beabsichtigt haben; Sie wecken eine Erinnerung auf, die
    einen Krampfanfall auszulösen vermag, und da Sie von diesem

  • S.

    Zur Atiologie der Hysterie 435

    psychischen Mittelglied nichts wissen, beziehen Sie den Anfall als
    Wirkung direkt auf Ihre Berührung als Ursache. Die Kranken
    befinden sich in derselben Unwissenheit und verfallen darum in
    ähnliche Irrtümer, sie stellen beständig „falsche Verknüpfungen“
    her zwischen dem letztbewuBten Anlaß und dem von so viel
    Mittelgliedern abhingigen Effekt. Ist es dem Arzte aber måglich
    geworden, zur Erklårung einer hysterischen Reaktion die be-
    wuBten und die unbewuBten Motive zusammenzufassen, so muB
    er diese scheinbar übermäßige Reaktion fast immer als eine an-
    gemessene, nur in der Form abnorme anerkennen.

    Sie werden nun gegen diese Rechtfertigung der hysterischen
    Reaktion auf psychische Reize mit Recht einwenden, sie sei doch
    keine normale, denn warum benehmen die Gesunden sich anders;
    warum wirken bei ihnen nicht alle långst verflossenen Erregungen
    neuerdings mit, wenn eine neue Erregung aktuell ist? Es macht
    ja den Eindruck, als blieben bei den Hysterischen alle alten Er-
    lebnisse wirkungskräftig, auf die schon so oft, und zwar in stür-
    mischer Weise reagiert wurde, als seien diese Personen unfähig,
    psychische Reize zu erledigen. Richtig, meine Herren, etwas Der-
    artiges muß man tatsächlich als wahr annehmen. Vergessen Sie
    nicht, daß die alten Erlebnisse der Hysterischen bei einem aktu-
    ellen Anlasse als unbewußte Erinnerungen ihre Wirkung
    äußern. Es scheint, als ob die Schwierigkeit der Erledigung, die
    Unmöglichkeit, einen aktuellen Eindruck in eine machtlose Er-
    innerung zu verwandeln, gerade an dem Charakter des psychisch
    Unbewußten hinge. Sie sehen, der Rest des Problems ist wiederum
    Psychologie, und zwar Psychologie von einer Art, für welche uns
    die Philosophen wenig Vorarbeit geleistet haben.

    Auf diese Psychologie, die für unsere Bedürfnisse erst zu er-
    schaffen ist, — auf die zukünftige Neurosenpsychologie — muß
    ich Sie auch verweisen, wenn ich Ihnen zum Schluß eine Mit-
    teilung mache, von der Sie zunächst eine Störung unseres be-
    ginnenden Verståndnisses für die Ätiologie der Hysterie besorgen

    28º

  • S.

    436 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre

    werden. Ich muß es nämlich aussprechen, daß die åtiologische
    Rolle der infantilen Sexualerlebnisse nicht auf das Gebiet der
    Hysterie eingeschränkt ist, sondern in gleicher Weise fiir die merk-
    wiirdige Neurose der Zwangsvorstellungen, ja vielleicht auch får
    die Formen der chronischen Paranoia und andere funktionelle
    Psychosen Geltung hat. Ich drücke mich hiebei minder bestimmt
    aus, weil die Anzahl meiner Analysen von Zwangsneurosen noch
    weit hinter der von Hysterien zurücksteht; von Paranoia habe ich
    gar nur eine einzige ausreichende und einige fragmentarische Ana-
    lysen zur Verfiigung. Aber was ich da gefunden, schien mir ver-
    läBlich und hat mich mit sicheren Erwartungen fiir andere Fille
    erfüllt. Sie erinnern sich vielleicht, daß ich får die Zusammen-
    fassung von Hysterie und Zwangsvorstellungen unter dem Titel
    »Abwehrneurosen“ bereits früher eingetreten bin, ehe mir noch
    die Gemeinsamkeit der infantilen Ätiologie bekannt war. Nun muß
    ich hinzufügen, — was man freilich nicht allgemein zu erwarten
    braucht, — daß meine Fälle von Zwangsvorstellungen sämtlich einen
    Untergrund von hysterischen Symptomen, meist Sensationen und
    Schmerzen, erkennen ließen, die sich gerade auf die ältesten Kinder-
    erlebnisse zurückleiteten. Worin liegt nun die Entscheidung, ob
    aus den unbewußt gebliebenen infantilen Sexualszenen später
    Hysterie oder Zwangsneurose oder gar Paranoia hervorgehen soll,
    wenn sich die anderen pathogenen Momente hinzugesellt haben?
    Diese Vermehrung unserer Erkenntnisse scheint ja dem åtiolo-
    gischen Wert dieser Szenen Eintrag zu tun, indem sie die Spezi-
    fität der ätiologischen Relation aufhebt.

    Ich bin noch nicht in der Lage, meine Herren, eine verlåBliche
    Antwort auf diese Frage zu geben. Die Anzahl meiner analysierten
    Fille, die Mannigfaltigkeit der Bedingungen in ihnen, ist nicht
    groß genug hiefür, Ich merke bis jetzt, daß die Zwangsvorstellun-
    gen bei der Analyse regelmiBig als verkappte und verwandelte
    Vorwürfe wegen sexueller Aggressionen im Kindesalter
    zu entlarven sind, daß sie darum bei Männern häufiger gefunden

  • S.

    Zur Ätiologie der Hysterie 437

    werden als bei Frauen, und häufiger bei ihnen sich entwickeln als
    Hysterie. Ich könnte daraus schließen, daß der Charakter der In-
    fantilszenen, ob sie mit Lust oder nur passiv erlebt werden, einen
    bestimmenden Einfluß auf die Auswahl der späteren Neurose hat,
    aber ich möchte auch den Einfluß des Alters, in dem diese Kinder-
    aktionen vorfallen, und anderer Momente nicht unterschätzen.
    Hierüber muß erst die Diskussion weiterer Analysen Aufschluß
    geben; wenn es aber klar sein wird, welche Momente die Ent-
    scheidung zwischen den möglichen Formen der Abwehr-Neuro-
    psychosen beherrschen, wird es wiederum ein rein psychologisches
    Problem sein, kraft welches Mechanismus die einzelne Form ge-
    staltet wird.

    Ich bin nun zum Ende meiner heutigen Erörterungen gelangt.
    Auf Widerspruch und Unglauben gefaßt, möchte ich meiner Sache
    nur noch eine Befürwortung mit auf den Weg geben, Wie immer
    Sie meine Resultate aufnehmen mögen, ich darf Sie bitten, die-
    selben nicht für die Frucht wohlfeiler Spekulation zu halten. Sie
    ruhen auf mühseliger Einzelerforschung der Kranken, die bei den
    meisten Fällen hundert Arbeitsstunden und darüber verweilt hat.
    Wichtiger noch als Ihre Würdigung der Ergebnisse ist mir Ihre
    Aufmerksamkeit für das Verfahren, dessen ich mich bedient habe,
    das neuartig, schwierig zu handhaben und doch unersetzlich für
    wissenschaftliche und therapeutische Zwecke ist. Sie sehen wohl
    ein, man kann den Ergebnissen, zu denen diese modifizierte
    Breuersche Methode führt, nicht gut widersprechen, wenn man
    die Methode beiseite läßt und sich nur der gewohnten Methode
    des Krankenexamens bedient. Es wäre ähnlich, als wollte man
    die Funde der histologischen Technik mit der Berufung auf
    die makroskopische Untersuchung widerlegen. Indem die neue
    Forschungsmethode den Zugang zu einem neuen Element des
    psychischen Geschehens, zu. den unbewußt gebliebenen, nach
    Breuers Ausdruck „bewußtseinsunfähigen“ Denkvorgingen
    breit eröffnet, winkt sie uns mit der Hoffnung eines neuen,

  • S.

    besseren Ve aller ‏שש‎ psychischen Störungen.
    Ich kann es nicht glauben, daß die Psychiatrie es noch lange
    aufschieben wird, sich dieses neuen mas zur Erkenntnis zu
    bedienen.