Zur Einleitung der Behandlung 1913-003/1931
  • S.

    während der psychoanalytischen Arbeit 359

    „Diese Erinnerung, die mir 一 wie bereits erwähnt 一
    durch ihre Beziehung zu meiner Mutter immer von größter
    Wichtigkeit war, habe ich oft zu deuten versucht: keine
    dieser Deutungen hat mich aber befriedigt. Erst jetzt —
    nach Lektüre Ihrer Schrift — ahne ich eine einfache, befrie-
    digende Lösung des Rätsels.“

    Eine andere Art der fausse reconnaissance kommt zur Be-
    friedigung des Therapeuten nicht selten beim Abschluß einer
    Behandlung vor. Nachdem es gelungen ist, das verdrångte
    Ereignis realer oder psychischer Natur gegen alle Widerstände
    zur Annahme durchzusetzen, es gewissermaßen zu rehabili-
    tieren, sagt der Patient: Jetzt habe ich die Empfin-
    dung ich habe es immer gewußt. Damit ist die
    analytische Aufgabe gelöst.

    ZUR EINLEITUNG DER BEHANDLUNG
    (1913)

    Wer das edle Schachspiel aus Büchern erlernen will, der
    wird bald erfahren, daß nur die Eröffnungen und Endspiele
    eine erschöpfende systematische Darstellung gestatten, während
    die unübersehbare Mannigfaltigkeit der nach der Eröffnung
    beginnenden Spiele sich einer solchen versagt. Eifrigstes Stu-
    dium von Partien, in denen Meister miteinander gekämpft
    haben, kann allein die Lücke in der Unterweisung ausfüllen.
    Ahnlichen Einschränkungen unterliegen wohl die Regeln, die
    man für die Ausübung der psychoanalytischen Behandlung
    geben kann.

    Ich werde im folgenden versuchen, einige dieser Regeln für
    die Einleitung der Kur zum Gebrauche des praktischen
    Analytikers zusammenzustellen. Es sind Bestimmungen darun-

  • S.

    360 Zur Einleitung

    ter, die kleinlich erscheinen mögen und es wohl auch sind.
    Zu ihrer Entschuldigung diene, daß es eben Spielregeln sind,
    die ihre Bedeutung aus dem Zusammenhange des Spielplanes
    schöpfen müssen. Ich tue aber gut daran, diese Regeln als
    „Ratschläge“ auszugeben und keine unbedingte Verbindlich-
    keit fiir sie zu beanspruchen. Die ‚außerordentliche Verschie-
    denheit der in Betracht kommenden psychischen Konstellatio-
    nen, die Plastizität aller seelischen Vorgänge und der Reich-
    tum an determinierenden Faktoren widersetzen sich auch
    einer Mechanisierung der Technik und gestatten es, daß ein
    sonst berechtigtes Vorgehen gelegentlich wirkungslos bleibt
    und ein für gewöhnlich fehlerhaftes einmal zum Ziele führt.
    Diese Verhältnisse hindern indes nicht, ein durchschnittlich
    zweckmäßiges Verhalten des Arztes festzustellen.

    Die wichtigsten Indikationen für die Auswahl der Kranken
    habe ich bereits vor Jahren an anderer Stelle angegeben.‘
    Ich wiederhole sie darum hier nicht; sie haben unterdes die
    Zustimmung. anderer Psychoanalytiker gefunden. Ich füge
    aber hinzu, daß ich mich seither gewöhnt habe, Kranke, von
    denen ich wenig weiß, vorerst nur provisorisch, für die Dauer
    von einer bis zwei Wochen, anzunehmen. Bricht man inner-
    halb dieser Zeit ab, so erspart man dem Kranken den pein-
    lichen Eindruck eines verunglückten Heilungsversuches. Man
    hat eben nur eine Sondierung vorgenommen, um den Fall
    kennen zu lernen und um zu unterscheiden, ob er fiir die
    Psychoanalyse geeignet ist. Eine andere Art der Erprobung
    als einen solchen Versuch hat man nicht zur Verfügung; noch
    so lange fortgesetzte Unterhaltungen und Ausfragungen in
    der Sprechstunde wiirden keinen Ersatz bieten. Dieser Vor-
    versuch aber ist bereits der Beginn der Psychoanalyse und soll
    den Regeln derselben folgen. Man kann ihn etwa dadurch

    16) Uber Psychotherapie, 1905 (Ges. Schriften, Bd. VI, S. 11 ff).

  • S.

    der Behandlung 361

    gesondert halten, daß man hauptsächlich den Patienten
    reden lift und ihm von Aufklårungen nicht mehr mitteilt,
    als zur Fortführung seiner Erzählungen durchaus unerläß-
    lich ist.

    Die Einleitung der Behandlung mit einer solchen für einige
    Wochen angesetzten Probezeit hat übrigens auch eine diagno-
    stische Motivierung. Oft genug, wenn man eine Neurose mit
    hysterischen oder Zwangssymptömen vor sich hat, von nicht
    exzessiver Ausprägung und von kürzerem Bestande, also
    gerade solche Formen, die man als günstig für die Behandlung
    ansehen wollte, muß man dem Zweifel Raum geben, ob der
    Fall nicht einem Vorstadium einer sogenannten Dementia
    praecox (Schizophrenie nach Bleuler, Paraphrenie nach
    meinem Vorschlage) entspricht und nach kürzerer oder
    längerer Zeit ein ausgesprochenes Bild dieser Affektion zeigen
    wird. Ich bestreite es, daß es immer so leicht möglich ist, die
    Unterscheidung zu treffen. Ich weiß, daß es Psychiater gibt,
    die in der Differentialdiagnose seltener schwanken, aber ich
    habe mich überzeugt, daß sie ebenso häufig irren. Der Irrtum
    ist nur für den Psychoanalytiker verhängnisvoller als für den
    sogenannten klinischen Psychiater. Denn der letztere unter-
    nimmt in dem einen Falle so wenig wie in dem anderen etwas
    Ersprießliches; er läuft nur die Gefahr eines theoretischen
    Irrtums und seine Diagnose hat nur akademisches Interesse.
    Der Psychoanalytiker hat aber im ungünstigen Falle einen
    praktischen Mißgriff begangen, er hat einen vergeblichen
    Aufwand verschuldet und sein Heilverfahren diskreditiert. Er
    kann sein Heilungsversprechen nicht halten, wenn der Kranke
    nicht an Hysterie oder Zwangsneurose, sondern an Para-
    phrenie leidet, und hat darum besonders starke Motive, den
    diagnostischen Irrtum zu vermeiden. In einer Probebehand-
    lung von einigen. Wochen wird er oft verdächtige Wahr-
    nehmungen machen, die ihn bestimmen können, den Versuch

  • S.

    362 Zur Einleitung

    nicht weiter fortzusetzen. Ich kann leider nicht behaupten,
    daß ein solcher Versuch regelmäßig eine sichere Entscheidung
    ermöglicht; es ist nur eine gute Vorsicht mehr.”

    Lange Vorbesprechungen vor Beginn der analytischen Be-
    handlung, eine andersartige Therapie vorher, sowie frühere
    Bekanntschaft zwischen dem Arzt und dem zu Analysierenden
    haben bestimmte ungünstige Folgen, auf die man vorbereitet
    sein muß. Sie machen nämlich, daß der Patient dem Arzt in
    einer fertigen Übertragungseinstellung gegenübertritt, die der
    Arzt erst langsam aufdecken muß, anstatt daß er die Gelegen-
    heit hat, das Wachsen und Werden der Übertragung von An-
    fang an zu beobachten. Der Patient hat so eine Zeitlang einen
    Vorsprung, den man ihm in der Kur nur ungern gönnt.

    Gegen alle die, welche die Kur mit einem Aufschube be-
    ginnen wollen, sei man mißtrauisch. Die Erfahrung zeigt, daß
    sie nach Ablauf. der vereinbarten Frist nicht eintreffen, auch
    wenn die Motivierung dieses Aufschubes, also die Rationali-
    sierung. des Vorsatzes, dem Uneingeweihten tadellos erscheint.

    Besondere Schwierigkeiten ergeben sich, wenn zwischen dem
    Arzte und dem in die Analyse eintretenden, Patienten oder
    deren Familien freundschaftliche oder gesellschaftliche Bezie-
    hungen bestanden haben. Der Psychoanalytiker, von dem ver-
    langt wird, daß er die Ehefrau oder das Kind eines Freundes
    in Behandlung nehme, darf sich ‚darauf vorbereiten, daß ihn
    das Unternehmen, wie immer es ausgehe, die Freundschaft

    17) Über das Thema dieser diagnostischen Unsicherheit, über
    die. Chancen der Analyse bei leichten‘ Formen von Paraphrenie
    und über die Begründung der Ahnlichkeit beider Affektionen wire
    sehr viel zu sagen, was ich in diesem Zusammenhange nicht aus-
    führen kann. Gern würde ich nach Jun g Vorgang Hysterie und
    Zwangsneurose als ,Übertragungsneurosen“ den para-
    phrenischen Affektionen als ,lntroversionsneurosen“
    gegenüberstellen, wenn bei diesem Gebrauch der Begriff der
    „Introversion“ (der Libido) nicht seinem einzig berechtigten Sinne
    entfremdet würde.

  • S.

    der Behandlung 363

    kosten wird. Er muß doch das Opfer bringen, wenn er nicht
    einen vertrauenswiirdigen Vertreter stellen kann.

    Laien wie Arzte, welche die Psychoanalyse immer noch
    gern mit einer Suggestivbehandlung verwechseln, pflegen
    hohen Wert auf die Erwartung zu legen, welche der Patient
    der neuen Behandlung entgegenbringt. Sie meinen oft, mit
    dem einen Kranken werde man nicht viel Mithe haben, denn
    er habe ein großes Zutrauen zur Psychoanalyse und sei von
    ihrer Wahrheit. und ihrer Leistungsfåhigkeit voll überzeugt.
    Bei einem anderen werde es wohl schwerer gehen, denn er
    verhalte sich skeptisch und wolle nichts glauben, che er nicht
    den Erfolg an seiner eigenen Person gesehen habe. In Wirk-
    lichkeit hat aber diese Einstellung der Kranken eine recht
    geringe Bedeutung; sein vorläufiges Zutrauen oder Mißtrauen
    kommt gegen die inneren Widerstinde, welche die Neurose
    verankern, kaum in Betracht. Die Vertrauensseligkeit des
    Patienten macht ja den ersten Verkehr mit ihm recht ange-
    nehm; man dankt ihm fiir sie, bereitet ihn aber darauf vor,
    daß seine günstige Voreingenommenheit an der ersten in der
    Behandlung aufrauchenden Schwierigkeit zerschellen wird.
    Dem Skeptiker sagt man, daß die Analyse kein Vertrauen
    braucht, daß er so kritisch und miftrauisch sein dürfe, als
    ihm beliebt, daß man seine Einstellung gar nicht auf die
    Rechnung seines Urteiles setzen wolle, denn er sei ja nicht in
    der Lage, sich ein verläßliches Urteil über diese Punkte zu
    bilden; sein MiBtrauen sei eben ein Symptom wie seine anderen
    Symptome, und es werde sich nicht störend erweisen, wenn
    er nur gewissenhaft befolgen wolle, was die Regel der Behand-
    lung von ihm fordere.

    Wer mit dem Wesen der Neurose vertraut ist, wird nicht
    erstaunt sein zu hören, daß auch derjenige, der sehr wohl
    befähigt ist, die Psychoanalyse an anderen auszuüben, sich
    benehmen kann wie ein anderer Sterblicher und die inten-

  • S.

    364 Zur Einleitung

    sivsten Widerstände zu produzieren imstande ist, sobald er
    selbst zum Objekte der Psychoanalyse gemacht wird. Man
    bekommt dann wieder einmal den Eindruck der psychischen
    Tiefendimension und findet nichts Uberraschendes daran, daß
    die Neurose in psychischen Schichten wurzelt, bis zu denen
    die analytische Bildung nicht hinabgedrungen ist.

    Wichtige Punkte zu Beginn der analytischen Kur sind idie
    Bestimmungen über Zeit und Geld.

    In betreff der Zeit befolge ich ausschließlich das Prinzip
    des Vermietens einer bestimmten Stunde. Jeder Patient er-
    hilt eine gewisse Stunde meincs verfügbaren Arbeitstages zu-
    gewiesen; sie ist die seine und er bleibt für sie haftbar, auch
    wenn er sie nicht benützt. Diese Bestimmung, die für den
    Musik- oder Sprachlehrer in unserer guten Gesellschaft als
    selbstverstindlich gilt, erscheint beim Arzte vielleicht hart
    oder selbst standesunwürdig. Man wird geneigt sein, auf die
    vielen Zufilligkeiten hinzuweisen, die den Patienten hindern
    mögen, jedesmal zu derselben Stunde beim Arzte zu er-
    scheinen, und wird verlangen, daß den zahlreichen inter-
    kurrenten Erkrankungen Rechnung getragen werde, die im
    Verlaufe einer lingeren analytischen Behandlung vorfallen
    kónnen. Allein meine Antwort ist: es geht nicht anders. Bei
    milderer Praxis häufen sich die „gelegentlichen“ Absagen so
    sehr, daß der Arzt seine materielle Existenz gefährdet findet.
    Bei strenger Einhaltung dieser Bestimmung stellt sich dagegen
    heraus, daß hinderliche Zufilligkeiten überhaupt nicht vor-
    kommen und interkurrente Erkrankungen nur sehr selten.
    Man kommt kaum je in die Lage, eine Mufle zu genießen,
    deren man sich als Erwerbender zu schämen hätte; man kann
    die Arbeit ungestórt fortsetzen und entgeht der peinlichen,
    verwirrenden Erfahrung, daß gerade dann immer eine un-
    verschuldete Pause in der Arbeit eintreten muff, wenn sie
    besonders wichtig und inhaltsreich zu werden versprach. Von

  • S.

    der Behandlung 365

    der Bedeutung der Psychogenie im täglichen Leben der
    Menschen, von der Häufigkeit der ,Schulkrankheiten" und
    der Nichtigkeit des Zufalls gewinnt man erst eine ordent-
    liche Uberzeugung, wenn man einige Jahre hindurch Psycho-
    analyse betrieben hat unter strenger Befolgung des Prinzips
    der Stundenmiete. Bei unzweifelhaften organischen Affektio-
    nen, die durch das psychische Interesse doch nicht ausge-
    schlossen werden können, unterbreche ich die Behandlung,
    halte mich für berechtigt, die frei gewordene Stunde anders
    zu vergeben, und nehme den Patienten wieder auf, sobald er
    hergestellt ist, und ich eine andere Stunde frei bekommen habe.

    Ich arbeite mit meinen Patienten täglich mit Ausnahme
    der Sonntage und der großen Festtage, also fiir gewöhnlich
    sechsmal in der Woche. Für leichte Fille oder Fortsetzungen
    von weit gedichenen Behandlungen reichen auch drei Stun-
    den wöchentlich aus. Sonst bringen Einschränkungen an Zeit
    weder dem Arzte noch dem Patienten Vorteil; fiir den An-
    fang sind sie ganz zu verwerfen. Schon durch kurze Unter-
    brechungen wird die Arbeit immer ein wenig verschüttet;
    wir pflegten scherzhaft von einer ,,Montagskruste“ zu spre-
    chen, wenn wir nach der Sonntagsruhe von neuem begannen;
    bei seltener Arbeit besteht die Gefahr, daß man mit dem
    realen Erleben des Patienten nicht Schritt halten kann, daß
    die Kur ‚den Kontakt mit der Gegenwart verliert und auf
    Seitenwege gedrängt wird. Gelegentlich trifft man auch auf
    Kranke, denen man mehr Zeit als das mittlere Maß von
    einer Stunde widmen muß, weil sie den größeren Teil einer
    Stunde verbrauchen, um aufzutauen, überhaupt mitteilsam zu
    werden.

    Eine dem Arzte unliebsame Frage, die der Kranke zu allem
    Anfange an ihn richtet, lautet: Wie lange Zeit wird die Be-
    handlung dauern? Welche Zeit brauchen Sie, um mich von
    meinem Leiden zu befreien? Wenn man eine Probebehandlung

  • S.

    366 Zur Einleitung

    von einigen Wochen vorgeschlagen hat, entzicht man sich der
    direkten Beantwortung dieser Frage, indem man verspricht,
    nach Ablauf. der Probezeit eine zuverlässigere Aussage abgeben
    zu können. Man antwortet gleichsam wie der A s o p der Fabel
    dem Wanderer, der nach der Länge des Weges fragt, mit der
    Aufforderung: Geh, und erläutert den Bescheid durch die
    Begründung, man müsse zuerst. den Schritt des Wanderers
    kennen lernen, ehe man die Dauer seiner Wanderung berech-
    nen könne. Mit dieser Auskunft hilft man sich über die ersten
    Schwierigkeiten hinweg, aber der Vergleich ist nicht gut, denn
    der Neurotiker kann leicht sein Tempo verändern und zu
    Zeiten nur sehr langsame Fortschritte machen. Die Frage nach
    der voraussichtlichen Dauer der Behandlung ist in Wahrheit
    kaum zu beantworten.

    Die Einsichtslosigkeit der Kranken und die Unaufrichtigkeit
    der Arzte vereinigen sich zu dem Effekt, an die Analyse die
    maßlosesten Ansprüche zu stellen und ihr dabei die knappste
    Zeit einzuräumen. Ich teile zum Beispiel aus dem Briefe einer
    Dame in Rußland, der vor wenigen Tagen an mich gekommen
    ist, folgende Daten mit. Sie ist 53 Jahre alt, seit 23 Jahren
    leidend, ‚seit zehn Jahren keiner anhaltenden Arbeit mehr
    fähig. „Behandlung in mehreren Nervenheilanstalten“ hat es
    nicht vermocht, ihr ein „aktives Leben" zu ermöglichen. Sie
    hofft durch die Psychoanalyse, über die sie gelesen hat, ganz
    geheilt zu werden. Aber ihre Behandlung hat ihrer Familie
    schon so viel gekostet, daf sie keinen lingeren Aufenthalt in
    Wien nehmen kann als sechs Wochen oder zwei Monate.
    Dazu. kommt die Erschwerung, daß sie sich von Anfang an
    nur schriftlich „deutlich machen” will, denn Antasten ihrer
    Komplexe wiirde bei ihr eine Explosion hervorrufen oder sie
    „zeitlich verstummen lassen". — Niemand würde sonst erwar-
    ten, dal man einen schweren Tisch mit zwei Fingern heben
    werde wie einen leichten Schemel, oder daß man ein großes

  • S.

    der Behandlung ji 367

    Haus in derselben Zeit bauen könne wie ein Holzhüttchen,
    doch sowie es sich um die Neurosen handelt, die in den Zu-
    sammenhang des menschlichen Denkens derzeit noch nicht
    eingereiht scheinen, vergessen selbst intelligente Personen an
    die notwendige Proportionalitit zwischen Zeit, Arbeit und
    Erfolg. Übrigens eine begreifliche Folge der tiefen Unwissen-
    heit über die Atiologie der Neurosen. Dank dieser Ignoranz
    ist ihnen die Neurose eine Art „Midchen aus der Fremde".
    Man wufite nicht, woher sie kam, und darum erwartet man,
    daß sie eines Tages entschwunden sein wird.

    Die Arzte unterstützen diese Vertrauensseligkeit; auch
    wissende unter ihnen schátzen hiufig die Schwere der neuroti-
    Schen Erkrankungen nicht ordentlich ein. Ein befreundeter
    Kollege, dem ich es hoch anrechne, daß er sich nach mehreren
    Dezennien wissenschaftlicher Arbeit auf anderen Voraussetzun-
    gen zur Würdigung der Psychoanalyse bekehrt hat, schrieb
    mir einmal: Was uns nottut, ist eine kurze, bequeme, ambula-
    torische Behandlung der Zwangsneurosen. Ich konnte damit
    nicht dienen, schåmte mich und suchte mich mit der Bemer-
    kung zu entschuldigen, daß wahrscheinlich auch die Inter-
    nisten mit einer Therapie der Tuberkulose oder des Karzinoms,
    welche diese Vorzüge vereinte, sehr zufrieden sein würden.

    Um es direkter zu sagen, es handelt sich bei der Psycho-
    anlyse immer um lange Zeiträume, halbe oder ganze Jahre,
    um lingere, als der Erwartung des Kranken entspricht. Man
    hat daher die Verpflichtung, dem Kranken diesen Sachver-
    halt zu eróffnen, ehe er sich endgültig für die Behandlung
    entschließt. Ich halte es überhaupt für wiirdiger, aber auch
    für zweckmåfiger, wenn man ihn, ohne gerade auf seine Ab-
    Schreckung hinzuarbeiten, doch von vornherein auf die
    Schwierigkeiten und Opfer der analytischen Therapie auf-
    merksam macht und ihm so jede Berechtigung nimmt, später
    einmal zu behaupten, man habe ihn in die Behandlung, deren

  • S.

    368 Zur Einleitung

    Umfang und Bedeutung er nicht gekannt habe, gelockt. Wer
    sich durch solche Mitteilungen abhalten läßt, der hätte sich
    später doch als unbrauchbar erwiesen. Es ist gut, eine der-
    artige Auslese vor dem Beginne der Behandlung vorzunehmen.
    Mit dem Fortschritte der Aufklirung unter den Kranken
    wächst doch die Zahl derjenigen, welche diese erste Probe
    bestehen.

    Ich lehne es ab, die Patienten auf eine gewisse Dauer des
    Ausharrens in der Behandlung zu verpflichten, gestatte jedem,
    die Kur abzubrechen, wann es ihm beliebt, verhehle ihm aber
    nicht, daß ein Abbruch nach kurzer Arbeit keinen Erfolg zu-
    rücklassen wird und ihn leicht wie eine unvollendete Opera-
    tion in einen unbefriedigenden Zustand versetzen kann. In den
    ersten Jahren meiner psychoanalytischen Tätigkeit fand ich
    die größte Schwierigkeit, die Kranken zum Verbleiben zu be-
    wegen; diese Schwierigkeit hat sich lingst verschoben, ich
    muß jetzt ängstlich bemüht sein, sie auch zum Aufhôren zu
    nötigen.

    Die Abkürzung der analytischen Kur bleibt ein berechtigter
    Wunsch, dessen Erfüllung, wie wir hören werden, auf ver-
    schiedenen Wegen angestrebt wird. Es steht ihr leider ein sehr
    bedeutsames Moment entgegen, die Langsamkeit, mit der sich
    tiefgreifende seelische Veränderungen vollziehen, in letzter
    Linie wohl die „Zeitlosigkeit“ unserer unbewußten Vorgänge,
    Wenn die Kranken vor die Schwierigkeit des großen Zeitauf-
    wandes für die Analyse gestellt werden, so wissen sie nicht selten
    ein gewisses Auskunftsmittel vorzuschlagen. Sie teilen ihre Be-
    schwerden in solche ein, die sie als unerträglich, und andere,
    die sie als nebensichlich beschreiben, und sagen: Wenn Sic
    mich nur von dem einen (zum Beispiel dem Kopfschmerz, der
    bestimmten Angst) befreien, mit dem anderen will ich schon
    selbst im Leben fertig werden. Sie überschätzen dabei aber die
    elektive Macht der Analyse. Gewiß vermag der analytische

  • S.

    der Behandlung ⑧ 369

    Arzt viel, aber er kann nicht genau bestimmen, was cr zu-
    stande bringen wird. Er leitet einen Prozeß ein, den der Auf-
    lösung der bestehenden Verdrängungen, er kann ihn über-
    wachen, fördern, Hindernisse aus dem Wege räumen, gewiß
    auch viel an ihm verderben. Im ganzen aber geht der einmal
    eingeleitete Prozeß seinen eigenen Weg und läßt sich weder
    seine Richtung noch die Reihenfolge der Punkte, die er an-
    greift, vorschreiben. Mit der Macht des Analytikers über die
    Krankheitserscheinungen steht es also ungefähr so wie mit der
    männlichen Potenz. Der kräftigste Mann kann zwar ein ganzes
    Kind zeugen, aber nicht im weiblichen Organismus einen Kopf
    allein, einen Arm oder ein Bein entstehen lassen; er kann nicht
    einmal über das Geschlecht des Kindes bestimmen. Er leitet
    eben auch nur einen höchst verwickelten und durch alte Ge-
    schehnisse determinierten Prozeß ein, der mit der Lösung des
    Kindes von der Mutter endet. Auch die Neurose eines Men-
    schen besitzt die Charaktere eines Organismus; ihre Teil-
    erscheinungen sind nicht unabhängig voneinander, sie bedingen
    einander, pflegen sich gegenseitig zu stützen; man leidet immer
    nur an einer Neurose, nicht an mehreren, die zufällig in einem
    Individuum zusammengetroffen sind. Der Kranke, den man
    nach seinem Wunsche von dem einen unerträglichen Symptome
    befreit hat, könnte leicht die Erfahrung machen, daß nun ein
    bisher mildes Symptom sich zur Unerträglichkeit steigert. Wer
    überhaupt den Erfolg von seinen suggestiven (das heißt Über-
    tragungs-)Bedingungen möglichst. ablösen will, der tut gut
    daran, auch auf die Spuren elektiver Beeinflussung des Heil-
    erfolges, die dem Arzte etwa zustehen, zu verzichten. Dem
    Psychoanalytiker müssen diejenigen Patienten am liebsten sein,
    welche die volle Gesundheit, soweit sie zu haben ist, von ihm
    fordern, und ihm so viel Zeit zur Verfügung stellen, als der
    Prozeß der Herstellung verbraucht. Natürlich sind so günstige
    Bedingungen nur in wenig Fällen zu erwarten.

    24 Freud, Schriften zur Neurosenlehre

  • S.

    370 Zur Einleitung

    Der nächste Punkt, über den zu Beginn einer Kur entschie-
    den werden soll, ist das Geld, das Honorar des Arztes. Der
    Analytiker stellt nicht in Abrede, daß Geld in erster Linie als
    Mittel zur Selbsterhaltung und Machtgewinnung zu betrachten
    ist, aber er behauptet, daß mächtige sexuelle Faktoren an der
    Schätzung des Geldes mitbeteiligt sind. Er kann sich dann
    darauf berufen, daß Geldangelegenheiten von den Kultur-
    menschen in ganz ähnlicher Weise behandelt werden wie
    sexuelle Dinge, mit derselben Zwiespåltigkeit, Priiderie und
    Heuchelei. Er ist also von vornherein entschlossen, dabei nicht
    mitzutun, sondern Geldbeziehungen mit der nåmlichen selbst-
    verståndlichen Aufrichtigkeit vor dem Patienten zu behandeln,
    zu der er ihn in Sachen des Sexuallebens erziehen will. Er
    beweist ihm, daß er selbst eine falsche Scham abgelegt hat,
    indem er unaufgefordert mitteilt, wie er seine Zeit einschåtzt.
    Menschliche Klugheit gebietet dann, nicht große Summen zu-
    sammenkommen zu lassen, sondern nach kürzeren regelmäfi-
    gen Zeiträumen (etwa monatlich) Zahlung zu nehmen. (Man
    erhöht, wie bekannt, die Schätzung der Behandlung beim
    Patienten nicht, wenn man sie schr wohlfeil gibt.) Das ist, wie
    man weiß, nicht die gewöhnliche Praxis des Nervenarztes
    oder des Internisten in unserer europäischen Gesellschaft. Aber
    der Psychoanalytiker darf sich in die Lage des Chirurgen ver-
    setzen, der aufrichtig und kostspielig ist, weil er über Behand-
    lungen verfügt, welche helfen können. Ich meine, es ist doch
    würdiger und ethisch unbedenklicher, sich zu seinen wirk-
    lichen Ansprüchen und Bedürfnissen zu bekennen, als, wie es
    jetzt noch unter Arzten gebräuchlich ist, den uneigennützigen
    Menschenfreund zu agieren, dessen Situation einem doch ver-
    sagt ist, und sich dafür im Stillen über die Riicksichtslosigkeit
    und die Ausbeutungssucht der Patienten zu grimen oder laut
    darüber zu schimpfen. Der Analytiker wird fiir seinen An-
    spruch auf Bezahlung noch geltend machen, daß er bei

  • S.

    der Behandlung 371

    schwerer Arbeit nie so viel erwerben kann wie andere medi-
    zinische Spezialisten.

    Aus denselben Gründen wird er es auch ablehnen dürfen,
    ohne Honorar zu behandeln, und auch zugunsten der Kollegen
    oder ihrer Angehörigen keine Ausnahme machen. Die letzte
    Forderung scheint gegen die ärztliche Kollegialität zu ver-
    stoßen; man halte sich aber vor, daß eine Gratisbehandlung
    für den Psychoanalytiker weit mehr bedeutet als für jeden
    anderen, nämlich die Entzichung eines ansehnlichen Bruch-
    teiles seiner fiir den Erwerb verfiigbaren Arbeitszeit (eines
    Achtels, Siebentels u. dgl.) auf die Dauer von vielen Monaten.
    Eine gleichzeitige zweite Gratisbehandlung raubt ihm bereits
    ein Viertel oder Drittel seiner Erwerbsfåhigkeit, was der Wir-
    kung eines schweren traumatischen Unfalles gleichzusetzen
    wire.

    Es fragt sich dann, ob der Vorteil fiir den Kranken das
    Opfer des Arztes einigermaßen aufwiegt. Ich darf mir wohl
    ein Urteil darüber zutrauen, denn ich habe durch etwa zehn
    Jahre täglich eine Stunde, zeitweise auch zwei, Gratisbehand-
    lungen gewidmet, weil ich zum Zwecke der Orientierung in
    der Neurose möglichst widerstandsfrei arbeiten wollte. Ich
    fand dabei die Vorteile nicht, die ich suchte. Manche der
    Widerstände des Neurotikers werden durch die Gratisbehand-
    lung enorm gesteigert, so beim jungen Weibe die Versuchung,
    die in der Ubertragungsbeziehung enthalten ist, beim jungen
    Manne das aus dem Vaterkomplex stammende Sträuben gegen
    die Verpflichtung der Dankbarkeit, das zu den widrigsten Er-
    schwerungen der ärztlichen Hilfeleistung gehört. Der Wegfall
    der Regulierung, die doch durch die Bezahlung an den Arzt
    gegeben ist, macht sich sehr peinlich fühlbar; das ganze Ver-
    hältnis rückt aus der realen Welt heraus; ein gutes Motiv; die
    Beendigung der Kur anzustreben, wird dem Patienten ent- .
    zogen.

    24

  • S.

    372 Zur Einleitung

    Man kann der asketischen Verdammung des Geldes ganz
    ferne stehen und darf es doch bedauern, daß die analytische
    Therapie aus äußeren wie aus inneren Gründen den Armen
    fast unzugänglich ist. Es ist wenig dagegen zu tun. Vielleicht
    hat die viel verbreitete Behauptung recht, daß der weniger
    leicht der Neurose verfällt, wer durch die Not des Lebens
    zu harter Arbeit gezwungen ist. Aber ganz unbestreitbar
    steht die andere Erfahrung da, daß der Arme, der einmal eine
    Neurose zustande gebracht hat, sich dieselbe nur sehr schwer
    entreißen läßt, Sie leistet ihm zu gute Dienste im Kampfe um
    die Selbtbehauptung; der sekundäre Krankheitsgewinn, den sic
    ihm bringt, ist allzu bedeutend. Das Erbarmen, das die Men-
    schen seiner, materiellen Not versagt haben, beansprucht er
    jetzt unter dem Titel seiner Neurose und kann sich von der
    Forderung, seine Armut durch Arbeit zu bekämpfen, selbst
    freisprechen. Wer die Neurose eines Armen mit den Mitteln
    der Psychotherapie angreift, macht also in der Regel die Er-
    fahrung, daß in diesem Falle eigentlich eine Aktualtherapie
    ganz anderer Art von ihm gefordert wird, eine Therapie, wie
    sie nach der bei uns heimischen Sage Kaiser Josef II. zu üben
    pflegte, Natürlich findet man doch gelegentlich wertvolle und
    ohne ihre Schuld hilflose Menschen, bei denen die unentgelt-
    liche Behandlung nicht auf die angeführten Hindernisse stößt
    und schöne Erfolge erzielt.

    Für den Mittelstand ist der für die Psychoanalyse benötigte
    Geldaufwand nur scheinbar ein übermäßiger. Ganz abgeschen
    davon, daß Gesundheit und Leistungsfähigkeit einerseits, ein
    mäßiger Geldaufwand anderseits überhaupt inkommensurabel
    sind: wenn man die nie aufhörenden Ausgaben für Sanatorien
    und ärztliche Behandlung zusammenrechnet und ihnen die
    Steigerung der Leistungs- und Erwerbsfähigkeit nach glücklich
    beendeter analytischer Kur gegenüberstellt, darf man sagen,
    daß die Kranken einen guten Handel gemacht haben. Es ist

  • S.

    der Behandlung 373

    nichts Kostspieligeres im Leben als die Krankheit und — die
    Dummheit.

    Ehe ich diese Bemerkungen zur Einleitung der analytischen
    Behandlung beschließe, noch ein Wort über ein gewisses Zere-
    moniell der Situation, in welcher die Kur ausgeführt wird.
    Ich halte an dem Rate fest, den Kranken auf einem Ruhebett
    lagern zu lassen, wihrend man hinter ihm, von ihm ungesehen,
    Platz nimmt. Diese Veranstaltung hat einen historischen Sinn,
    sie ist der Rest der hypnotischen Behandlung, aus welcher sich
    die Psychoanalyse entwickelt hat. Sie verdient aber aus mehr-
    fachen Gründen festgehalten zu werden. Zunächst wegen
    cines persönlichen Motivs, das aber andere mit mir teilen
    mögen. Ich vertrage es nicht, acht Stunden täglich (oder
    linger) von anderen angestarrt zu werden. Da ich mich
    wihrend des Zuhórens selbst dem Ablauf meiner unbewufiten
    Gedanken überlasse, will ich nicht, daf meine Mienen dem
    Patienten Stoff zu Deutungen geben oder ihn in seinen Mit-
    teilungen beeinflussen. Der Patient fafit die ihm aufgezwun-
    gene Situation gewóhnlich als Entbehrung auf und stráubt sich
    gegen sie, besonders wenn der Schautrieb (das Voyeurtum) in
    seiner Neurose eine bedeutende Rolle spielt. Ich beharre aber
    auf dieser Maßregel, welche die Absicht und den Erfolg hat, die
    unmerkliche Vermengung der Übertragung mit den Einfållen
    des Patienten zu verhüten, die Übertragung zu isolieren und
    sie zur Zeit als Widerstand scharf umschrieben hervortreten
    zu lassen. Ich weiß, daß viele Analytiker es anders machen,
    aber ich weiß nicht, ob die Sucht, es anders zu machen, oder
    ob ein Vorteil, den sie dabei gefunden haben, mehr Anteil an
    ihrer Abweichung hat.

    Wenn nun die Bedingungen der Kur in solcher Weise ge-
    regelt sind, erhebt sich die Frage, an welchem Punkte und mit
    welchem Materiale soll man die Behandlung beginnen?

    Es ist im ganzen gleichgültig, mit welchem Stoffe man die

  • S.

    374 Zur Einleitung

    Behandlung beginnt, ob mit der Lebensgeschichte, der Kran-
    kengeschichte oder den Kindheitserinnerungen des Patienten.
    Jedenfalls aber so, daß man den Patienten erzählen läßt und
    ihm die Wahl des Anfangspunktes freistellt. Man sagt ihm
    also: Ehe ich Ihnen etwas sagen kann, muß ich viel über Sie
    erfahren haben; bitte teilen Sie mir mit, was Sie von sich
    wissen.

    Nur fiir die Grundregel der psychoanalytischen Technik,
    die der Patient zu beobachten hat, macht man eine Ausnahme.
    Mit dieser macht man ihn von allem Anfang an bekannt:
    Noch eines, ehe Sie beginnen. Ihre Erzählung soll sich doch
    in einem Punkte von einer gewöhnlichen Konversation unter-
    scheiden. Während Sie sonst mit Recht versuchen, in Ihrer
    Darstellung den Faden des Zusammenhanges festzuhalten und
    alle störenden Einfälle und Nebengedanken abweisen, um
    nicht, wie man sagt, aus dem Hundertsten ins Tausendste zu
    kommen, sollen Sie hier anders vorgehen. Sie werden be-
    obachten, daf Ihnen wihrend Ihrer Erzihlung verschiedene
    Gedanken kommen, welche Sie mit gewissen kritischen Ein-
    wendungen zuriickweisen möchten. Sie werden versucht sein,
    sich zu sagen: Dies oder jenes gehört nicht hieher, oder es ist
    ganz unwichtig, oder es ist unsinnig, man braucht es darum
    nicht zu sagen. Geben Sie dieser Kritik niemals nach und
    sagen Sie es trotzdem, ja gerade darum, weil Sie eine Abnei-
    gung dagegen verspüren. Den Grund fiir diese Vorschrift —
    eigentlich die einzige, die Sie befolgen sollen — werden Sie
    später erfahren und einsehen lernen. Sagen Sie also alles, was
    Ihnen durch den Sinn geht. Benehmen Sie sich so, wie zum
    Beispiel ein Reisender, der am Fensterplatze des Eisenbahn-
    wagens sitzt und dem im Innern Untergebrachten beschreibt,
    wie sich vor seinen Blicken die Aussicht verändert. Endlich
    vergessen Sie nie daran, daf Sie volle Aufrichtigkeit ver-
    sprochen haben, und gehen Sie nie über etwas hinweg, weil

  • S.

    der Behandlung 375

    Ihnen dessen” Mitteilung aus irgendeinem Grunde unange-
    nehm ist.”

    18) Über die Erfahrungen mit der psychoanalytischen Grund-
    regel wäre viel zu sagen. Man trifft gelegentlich auf Personen, die
    sich benehmen, als ob sie sich diese Regel selbst gegeben hätten.
    Andere sündigen gegen sie von allem Anfang an. Ihre Mitteilung
    ist in den ersten Stadien der Behandlung unerläßlich, auch nutz-
    bringend; später unter der Herrschaft der Widerstände versagt
    der Gehorsam gegen sie, und für jeden kommt irgend einmal die
    Zeit, sich über sie hinwegzusetzen. Man muß sich aus seiner Selbst-
    analyse daran erinnern, wie unwiderstehlich die Versuchung auf-
    tritt, jenen kritischen Vorwänden zur Abweisung von Einfällen
    nachzugeben. Von der geringen Wirksamkeit solcher Verträge,
    wie man sie durch die Aufstellung der psa. Grundregel mit dem
    Patienten schließt, kann man sich regelmäßig überzeugen, wenn
    sich zum erstenmal etwas Intimes über dritte Personen zur Mit-
    teilung einstellt. Der Patient weiß, daß er alles sagen soll, aber er
    macht aus der Diskretion gegen andere eine neue Abhaltung. „Soll
    ich wirklich alles sagen? Ich habe geglaubt, das gilt nur für Dinge,
    die mich selbst betreffen.“ Es ist natürlich unmöglich, eine analy-
    tische Behandlung durchzuführen, bei der die Beziehungen des
    Patienten zu anderen Personen und seine Gedanken über sie von
    der Mitteilung ausgenommen sind, Poxr faire une omelette il faut
    casser des oeufs. Ein anständiger Mensch vergißt bereitwillig, was
    ihm von solchen Geheimnissen fremder Leute nicht wissenswert
    erscheint. Auch auf die Mitteilung von Namen kann man nicht
    verzichten; die Erzählungen des Patienten bekommen sonst etwas
    Schattenhaftes wie die Szenen der „natürlichen Tochter“
    Goethes, was im Gedächtnis des Arztes nicht haften will; auch
    decken die zurückgehaltenen Namen den Zugang zu allerlei wich-
    tigen Beziehungen. Man kann Namen etwa reservieren lassen, bis
    der Analysierte mit dem Arzt und dem Verfahren vertrauter ge-
    worden ist. Es ist sehr merkwürdig, daß die ganze Aufgabe unlös-
    bar wird, sowie man die Reserve an einer einzigen Stelle gestattet
    hat. Aber man bedenke, wenn bei uns ein Asylrecht, zum Beispiel
    für einen einzigen Platz in der Stadt, bestände, wie lange es
    brauchen würde, bis alles Gesindel der Stadt auf diesem einen
    Platze zusammentrife. Ich behandelte einmal einen hohen Funk-
    tionär, der durch seinen Diensteid genötigt war, gewisse Dinge als
    Staatsgeheimnisse vor der Mitteilung zu bewahren, und scheiterte
    bei ihm an dieser Einschränkung. Die psychoanalytische Behand-
    lung muß sich über alle Rücksichten hinaussetzen, weil die
    Neurose und ihre Widerstände rücksichtslos sind.

  • S.

    376 Zur Einleitung

    Patienten, die ihr Kranksein von einem bestimmten Momente
    an rechnen, stellen sich gewöhnlich auf die Krankheitsveran-
    lassung ein; andere, die den Zusammenhang ihrer Neurose mit
    ihrer Kindheit selbst nicht verkennen, beginnen oft mit der
    Darstellung ihrer ganzen Lebensgeschichte. Eine systematische
    Erzihlung erwarte man auf keinen Fall und tue nichts dazu,
    sie zu fördern. Jedes Stückchen der Geschichte wird später
    von Neuem erzählt werden müssen, und erst bei diesen Wie-
    derholungen werden die Zusätze erscheinen, welche die wichti-
    gen, dem Kranken unbekannten Zusammenhänge vermitteln.

    Es gibt Patienten, die sich von den ersten Stunden an sorg-
    fältig auf ihre Erzählung vorbereiten, angeblich ‚um so die
    bessere Ausnützung der Behandlungszeit zu sichern. Was sich
    so als Eifer drapiert, ist Widerstand. Man widerrate solche
    Vorbereitung, die nur zum Schutze gegen das Auftauchen un-
    erwünschter Einfälle geübt wird." Mag der Kranke noch so
    aufrichtig an seine lóbliche Absicht glauben, der Widerstand
    wird seinen Anteil an der absichtlichen Vorbereitungsart for-
    dern und es durchsetzen, daß das wertvollste Material der
    Mitteilung entschlüpft. Man wird bald merken, daß der
    Patient noch andere Methoden erfindet, um der Behandlung
    das Verlangte zu entziehen. Er wird sich etwa ‚täglich mit
    einem intimen Freunde über die Kur besprechen und in dieser
    Unterhaltung alle die Gedanken unterbringen, die sich ihm im
    Beisein des Arztes aufdrángen sollten. Die Kur hat dann ein
    Leck, durch das gerade das Beste verrinnt. Es wird dann bald
    an der Zeit sein, dem Patienten anzuraten, daß er seine ana-
    lytische Kur als eine Angelegenheit zwischen seinem Arzte und
    ihm selbst behandle und alle anderen Personen, mógen sie
    noch so nahestehend oder noch so neugierig sein, von der Mit-
    wisserschaft ausschlieBe. In späteren Stadien der Behandlung

    19) Ausnahmen lasse man nur zu für Daten wie: Familientafel,
    Aufenthalte, Operationen u. dgl.

  • S.

    der Behandlung 377

    ist der Patient in der Regel solchen Versuchungen nicht unter-
    worfen.

    Kranken, die ihre Behandlung geheim halten wollen, oft
    darum, weil sic auch ihre Neurose geheim gehalten haben,
    lege ich keine Schwierigkeiten in den Weg. Es kommt natiir-
    lich nicht in Betracht, wenn infolge dieser Reservation einige
    der schönsten Heilerfolge ihre Wirkung auf die Mitwelt ver-
    fehlen. Die Entscheidung der Patienten für das Geheimnis
    bringt selbstverståndlich bereits einen Zug ihrer Geheim-
    geschichte ans Licht.

    Wenn man den Kranken einschårft, zu Beginn ihrer Be-
    handlung måglichst wenig Personen zu Mitwissern zu machen,
    so schiitzt man sie dadurch auch einigermaften vor den vielen
    feindseligen Einflüssen, die es versuchen werden, sie der
    Analyse abspenstig zu machen. Solche Beeinflussungen können
    ‏טל‎ Anfang der Kur verderblich werden. Späterhin sind 6
    meist gleichgültig oder selbst nützlich, um Widerstände, die
    sich verbergen wollen, zum Vorscheine zu bringen.

    Bedarf der Patient während der analytischen Behandlung
    voriibergehend einer anderen, internen oder spezialistischen
    Therapie, so ist es weit zweckmifliger, einen nicht analyti-
    schen Kollegen in Anspruch zu nehmen, als diese andere
    Hilfeleistung selbst zu besorgen. Kombinierte Behandlung
    wegen neurotischer Leiden mit starker organischer Anlehnung
    sind meist undurchführbar. Die Patienten lenken ihr Interesse
    von der Analyse ab, sowie man ihnen mehr als einen Weg
    zeigt, der zur Heilung führen soll. Am besten schiebt man die
    organische Behandlung bis nach Abschluß der psychischen auf;
    würde man die erstere voranschicken, so bliebe sie in den
    meisten Fällen erfolglos.

    Kehren wir zur Einleitung der Behandlung zurück. Man
    wird gelegentlich Patienten begegnen, die ihre Kur mit der
    ablehnenden Versicherung beginnen, daß ihnen nichts einfalle,

  • S.

    378 Zur Einleitung

    was sie erzählen könnten, obwohl das ganze Gebiet der
    Lebens- und Krankheitsgeschichte unberührt vor ihnen liegt.
    Auf die Bitte, ihnen doch anzugeben, wovon sie sprechen
    sollen, gehe man nicht ein, dieses erste Mal so wenig wic
    spätere Male. Man halte sich vor, womit man es in solchen
    Fillen zu tun hat. Ein starker Widerstand ist da in die Front
    gerückt, um die Neurose zu verteidigen; man nehme die
    Herausforderung sofort an und riicke ihm an den Leib. Dic
    energisch wiederholte Versicherung, daß es solches Ausbleiben
    aller Einfälle zu Anfang nicht gibt, und daß es sich um einen
    Widerstand gegen die Analyse handle, nötigt den Patienten
    bald zu den vermuteten Geständnissen oder deckt ein erstes
    Stück seiner Komplexe auf. Es ist böse, wenn er gestehen muß,
    daß er sich während des Anhörens der Grundregel die Reser-
    vation geschaffen hat, dies oder jenes werde er doch für sich
    behalten. Minder arg, wenn er nur mitzuteilen braucht, wel-
    ches Mißtrauen er der Analyse entgegenbringt, oder was für
    abschreckende Dinge er über sie gehört habe. Stellt er diese
    und ähnliche Möglichkeiten, die man ihm vorhält, in Abrede,
    so kann man ihn durch Drängen zum Eingeständnis nötigen,
    daß er doch gewisse Gedanken, die ihn beschäftigen, vernach-
    låssigt hat. Er hat an die Kur selbst gedacht, aber an nichts
    Bestimmtes, oder das Bild des Zimmers, in dem er sich be-
    findet, hat ihn beschäftigt, oder er muß an die Gegenstände
    im Behandlungsraum denken, und daß er hier auf einem
    Divan liegt, was er alles durch die Auskunft „Nichts“ ersetzt
    hat. Diese Andeutungen sind wohl verständlich; alles was an
    die gegenwärtige Situation ankniipft, entspricht einer Uber-
    tragung auf den Arzt, die sich zu einem Widerstande geeignet
    erweist. Man ist so genötigt, mit der Aufdeckung dieser Uber-
    tragung zu beginnen; von ihr aus findet sich rasch der Weg
    zum Eingange in das pathogene Material des Kranken. Frauen,
    die nach dem Inhalte ihrer Lebensgeschichte auf eine sexuelle

  • S.

    der Behandlung 379

    Aggression vorbereitet sind, Männer mit überstarker verdräng-
    ter Homosexualität werden am ehesten der Analyse eine
    solche Verweigerung der Einfille vorausschicken.

    Wie der erste Widerstand, so können auch die ersten
    Symptome oder Zufallshandlungen der Patienten ein beson-
    deres Interesse beanspruchen und einen ihre Neurose beherr-
    schenden Komplex verraten. Ein geistreicher junger Philosoph,
    mit exquisiten ästhetischen Einstellungen, beeilt sich, den
    Hosenstreif zurechtzuzupfen, ehe er sich zur ersten Behand-
    lung niederlegt; er erweist sich als dereinstiger Koprophile von
    höchstem Raffinement, wie es fiir den späteren Astheten zu er-
    warten stand. Ein junges Mådchen zieht in der gleichen Situa-
    tion hastig den Saum ihres Rockes iiber den vorschauenden
    Knóchel; sie hat damit das Beste verraten, was die spätere
    Analyse aufdecken wird, ihren narzifitischen Stolz auf ihre
    Korperschonheit und ihre Exhibitionsneigungen.

    Besonders viele Patienten stråuben sich gegen die ihnen
    vorgeschlagene Lagerung, wåhrend der Arzt ungesehen hinter
    ihnen sitzt, und bitten um die Erlaubnis, die Behandlung in
    anderer Position durchzumachen, zumeist, weil sie den An-
    blick des Arztes nicht entbehren wollen. Es wird ihnen regel-
    måfig verweigert; man kann sie aber nicht daran hindern,
    daß sie sich's einrichten, einige Sätze vor Beginn der
    »Sitzung^ zu sprechen oder nach der angekündigten Be-
    endigung derselben, wenn sie sich vom Lager erhoben haben.
    Sie teilen sich so die Behandlung in einen offiziellen Ab-
    Schnitt, während dessen sie sich meist sehr gehemmt benehmen,
    und in einen „gemütlichen“, in dem sie wirklich frei sprechen
    und allerlei mitteilen, was sie selbst nicht zur Behandlung
    rechnen. Der Arzt läßt sich diese Scheidung nicht lange
    gefallen, er merkt auf das vor oder nach der Sitzung Ge-
    sprochene, und indem er es bei nächster Gelegenheit ver-
    wertet, reißt er die Scheidewand nieder, die der Patient auf-

  • S.

    380 Zur Einleitung

    richten wollte. Dieselbe wird wiederum aus dem Material
    eines Ubertragungswiderstandes gezimmert sein.

    Solange nun die Mitteilungen und Ein-
    fille des Patienten ohne Stockung er
    folgen, lasse man das Thema der Uber-
    tragung unberührt. Man warte mit dieser heikelsten
    aller Prozeduren, bis die Ubertragung zum Widerstande ge-
    worden ist.

    Die nächste Frage, vor die wir uns gestellt finden, ist eine
    prinzipielle. Sie lautet: Wann sollen wir mit den Mitteilungen
    an den Analysierten beginnen? Wann ist es Zeit, ihm die
    geheime Bedeutung seiner Einfälle zu enthüllen, ihn in die
    Voraussetzungen: und technischen Prozeduren der Analyse
    einzuweihen?

    Die Antwort hierauf kann nur lauten: Nicht eher, als bis
    sich eine leistungsfähige Übertragung, ein ordentlicher
    Rapport, bei dem Patienten hergestellt hat. Das erste Ziel der
    Behandlung bleibt, ihn an die Kur und an die Person des
    Arztes zu attachieren. Man braucht nichts anderes dazu zu
    tun, als ihm Zeit zu lassen. Wenn man ihm ernstes Interesse
    bezeugt, die anfangs auftauchenden Widerstinde sorgfåltig
    beseitigt und gewisse Mifgriffe vermeidet, stellt der Patient
    ein solches Attachement von selbst her und reiht den Arzt an
    eine der Imagines jener Person an, von denen er Liebes zu
    empfangen gewohnt war. Man kann sich diesen ersten Erfolg
    allerdings verscherzen, wenn man von Anfang an einen
    anderen Standpunkt einnimmt als den der Finfühlung, etwa
    einen moralisierenden, oder wenn man sich als Vertreter oder
    Mandatar einer Partei gebårdet, des anderen Eheteiles etwa
    usw.

    Diese Antwort schließt natürlich die Verurteilung eines
    Verfahrens ein, welches dem Patienten die Übersetzungen
    seiner Symptome mitteilen wollte, sobald man sie selbst er-

  • S.

    der Bebandlung 381

    raten hat, oder gar einen besonderen Triumph darin erblicken
    würde, ihm diese „Lösungen“ in der ersten Zusammenkunft
    ins Gesicht zu schleudern. Es wird einem geiibteren Analytiker
    nicht schwer, die verhaltenen "Wünsche eines Kranken schon
    aus seinen Klagen und seinem Krankenberichte deutlich ver-
    nehmbar herauszuhôren; aber welches Maß von Selbstgefållig-
    keit und von Unbesonnenheit gehört dazu, um einem Frem-
    den, mit allen analytischen Voraussetzungen Unvertrauten,
    nach der kürzesten Bekanntschaft zu eröffnen, er hinge
    inzestuós an seiner Mutter, er hege Todeswiinsche gegen seine
    angeblich geliebte Frau, er trage sich mit der Absicht, seinen
    Chef zu betrügen u. dgl.! Ich habe gehört, daß es Analytiker
    gibt, die sich mit solchen Augenblicksdiagnosen und Schnell-
    behandlungen brüsten, aber ich warne jedermann davor,
    solchen Beispielen zu folgen. Man wird dadurch sich und
    seine Sache um jeden Kredit bringen und die heftigsten
    Widersprüche hervorrufen, ob man nun richtig geraten hat
    oder nicht, ja eigentlich um so heftigeren Widerstand, je eher
    man richtig geraten hat. Der therapeutische Effekt wird in
    der Regel zunichst gleich Null sein, die Abschreckung von
    der Analyse aber eine endgültige. Noch in späteren Stadien
    der Behandlung wird man Vorsicht üben müssen, um eine
    Symptomlósung und Wunschübersetzung nicht eher mitzu-
    teilen, als bis der Patient knapp davor steht, so daff er nur
    noch einen kurzen Schritt zu machen hat, um sich dieser
    Lösung selbst zu bemåchtigen. In früheren Jahren hatte ich
    häufig Gelegenheit zu erfahren, daß die vorzeitige Mitteilung
    einer Lósung der Kur ein vorzeitiges Ende bereitete, sowohl
    infolge der Widerstände, die so plötzlich geweckt wurden, als
    auch auf Grund der Erleichterung, die mit der Lósung ge-
    geben war.

    Man wird hier die Einwendung machen: Ist es denn unsere
    Aufgabe, die Behandlung zu verlingern, und nicht vielmehr,

  • S.

    382 Zur Einleitung

    sie so rasch wie möglich zu Ende zu führen? Leidet der
    Kranke nicht infolge seines Nichtwissens und Nichtverstehens
    und ist es nicht Pflicht, ihn so bald ais möglich wissend zu
    machen, also sobald der Arzt selbst wissend geworden ist?

    Die Beantwortung dieser Frage fordert zu einem kleinen
    Exkurs auf, iiber die Bedeutung des Wissens und tiber den
    Mechanismus der Heilung in der Psychoanalyse.

    In den friihesten Zeiten der analytischen Technik haben
    wir allerdings in intellektualistischer Denkeinstellung das
    Wissen des Kranken um das von ihm Vergessene hoch ein-
    geschåtzt und dabei kaum zwischen unserem Wissen und dem
    seinigen unterschieden. Wir hielten es fiir einen besonderen
    Gliicksfall, wenn es gelang, Kunde von dem vergessenen
    Kindheitstrauma von anderer Seite her zu bekommen, zum
    Beispiel von Eltern, Pflegepersonen oder dem Verführer
    selbst, wie es in einzelnen Fällen möglich wurde, und be-
    eilten uns, dem Kranken die Nachricht und die Beweise fiir
    ihre Richtigkeit zur Kenntis zu bringen in der sicheren Er-
    wartung, so Neurose und Behandlung zu einem schnellen
    Ende zu führen. Es war eine schwere Enttäuschung, als der
    erwartete Erfolg ausblieb. Wie konnte es nur zugehen, daß
    der Kranke, der jetzt von seinem traumatischen Erlebnis
    wußte, sich doch benahm, als wisse er nicht mehr davon als
    früher? Nicht einmal die Erinnerung an das verdringte
    Trauma wollte infolge der Mitteilung und Beschreibung des-
    selben auftauchen.

    In einem bestimmten Falle hatte mir die Mutter eines
    hysterischen Mädchens das homosexuelle Erlebnis verraten,
    dem auf die Fixierung der Anfälle des Mädchens ein großer
    Einfluß zukam. Die Mutter hatte die Szene selbst überrascht,
    die Kranke aber dieselbe völlig vergessen, obwohl sie bereits
    den Jahren der Vorpubertät angehörte. Ich konnte nun eine
    lehrreiche Erfahrung machen. Jedesmal, wenn ich die Er-

  • S.

    der Behandlung 383

    zählung der Mutter vor dem Mädchen. wiederholte, reagierte
    dieses mit einem hysterischen Anfalle und nach diesem war
    die Mitteilung wieder vergessen. Es war kein Zweifel, daß die
    Kranke den heftigsten Widerstand gegen ein ihr aufgedrängtes
    Wissen äußerte; sie simulierte endlich Schwachsinn und vollen
    Gedächtnisverlust, um sich ‘gegen meine Mitteilungen zu
    schützen. So mußte man sich denn entschließen, dem Wissen
    an sich die ihm vorgeschriebene Bedeutung zu entziehen und
    den Akzent auf die Widerstinde zu legen, welche das Nicht-
    wissen seinerzeit verursacht hatten und jetzt noch bereit
    waren, es zu verteidigen. Das bewufite Wissen aber war gegen
    diese Widerstände, auch wenn es nicht wieder ausgestofen
    wurde, ohnmichtig.

    Das befremdende Verhalten der Kranken, die ein be-
    wufites Wissen mit dem Nichtwissen zu vereinigen verstehen,
    bleibt für die sogenannte Normalpsychologie unerklärlich.
    Der Psychoanalyse bereitet es auf Grund ihrer Anerkennung
    des Unbewuften keine Schwierigkeit; das beschriebene
    Phänomen gehört aber zu den besten Stützen einer Auf-
    fassung, welche sich die seelischen Vorgänge topisch differen-
    ziert nüher bringt. Die Kranken wissen nun von dem ver-
    drängten Erlebnis in ihrem Denken, aber diesem fehlt die
    Verbindung mit jener Stelle, an welcher die verdringte
    Erinnerung in irgend einer Art enthalten ist. Eine Verånde-
    rung kann erst eintreten, wenn der bewufte Denkprozef bis
    zu dieser Stelle vorgedrungen ist und dort die Verdrángungs-
    widerstinde überwunden hat. Es ist gerade so, als ob im
    Justizministerium ein Erla& verlautbart worden wire, dafs
    man jugendliche Vergehen in einer gewissen milden Weise
    richten solle. Solange dieser Erlaf nicht zur Kenntnis der
    einzelnen Bezirksgerichte gelangt ist, oder für den Fall, daß
    die Bezirksrichter nicht die Absicht haben, diesen Erlaf zu
    befolgen, vielmehr auf eigene Hand judizieren, kann an der

  • S.

    384 Zur Einleitung

    Behandlung der einzelnen jugendlichen Delinquenten nichts
    geändert sein. Fügen wir noch zur Korrektur hinzu, daß die
    bewußte Mitteilung des Verdringten an den Kranken doch
    nicht wirkungslos bleibt. Sie wird nicht die gewünschte Wir-
    kung äußern, den Symptomen ein Ende zu machen, sondern
    andere Folgen haben. Sie wird zunächst Widerstände, dann
    aber, wenn deren Überwindung erfolgt ist, einen Denkprozeß
    anregen, in dessen Ablauf sich endlich die erwartete Beein-
    flussung der unbewußten Erinnerung herstellt.

    Es ist jetzt an der Zeit, eine Übersicht des Kräftespieles zu
    gewinnen, welches wir durch die Behandlung in Gang bringen.
    Der nächste Motor der Therapie ist das Leiden des Patienten
    und sein daraus entspringender Heilungswunsch. Von der
    Größe dieser Triebkraft zieht sich mancherlei ab, was erst im
    Laufe der Analyse aufgedeckt wird, vor allem der sekundäre
    Krankheitsgewinn, aber die Triebkraft selbst muß bis zum Ende
    der Behandlung erhalten bleiben; jede Besserung ruft eine Ver-
    ringerung derselben hervor. Für sich allein ist sie aber unfähig,
    die Krankheit zu beseitigen; es fehlt ihr zweierlei dazu: sie
    kennt die Wege nicht, die zu diesem Ende einzuschlagen sind,
    und sie bringt die notwendigen Energiebetráge gegen die
    Widerstände nicht auf. Beiden Mängeln hilft die analytische
    Behandlung ab. Die zur Überwindung der Widerstände er-
    forderten Affektgrößen stellt sie durch die Mobilmachung der
    Energien bei, welche für die Übertragung: bereit liegen; durch
    die rechtzeitigen Mitteilungen zeigt sie dem Kranken die
    Wege, auf welche er diese Energien leiten soll. Die Uber-
    tragung kann häufig genug die Leidenssymptome allein be-
    seitigen, aber dann nur vorübergehend, solange sie eben selbst
    Bestand hat. Das ist dann eine Suggestivbehandlung, keine
    Psychoanalyse. Den letzteren Namen verdient die Behandlung
    nur dann, wenn die Ubertragung ihre Intensitit zur Uber-
    windung der Widerstinde verwendet hat. Dann allein ist das

  • S.

    der Behandlung 385

    Kranksein unmöglich geworden, auch wenn die Übertragung
    wieder aufgelöst worden ist, wie ihre Bestimmung es verlangt.

    Im Laufe der Behandlung wird noch ein anderes fördern-
    des Moment wachgerufen, das intellektuelle Interesse und
    Verständnis des Kranken. Allein dies kommt gegen die anderen
    miteinander ringenden Kräfte kaum in Betracht; es droht
    ihm beständig die Entwertung infolge der Urteilstrübung,
    welche von den Widerständen ausgeht. Somit erübrigen Über-
    tragung und Unterweisung (durch Mitteilung) als die neuen
    Kraftquellen, welche der Kranke dem Analytiker verdankt.
    Der Unterweisung bedient er sich aber nur, insofern er durch
    die Übertragung dazu bewogen wird, und darum soll die
    erste Mitteilung abwarten, bis sich eine starke Übertragung
    hergestellt hat, und fügen wir hinzu, jede spätere, bis die
    Störung der Übertragung durch die der Reihe nach auf-
    tauchenden Übertragungswiderstände beseitigt ist.

    ERINNERN, WIEDERHOLEN UND
    DURCHARBEITEN
    (1914)

    Es scheint mir nicht überflüssig, den Lernenden immer
    wieder daran zu mahnen, welche tiefgreifenden Veränderungen
    die psychoanalytische Technik seit ihren ersten Anfängen er-
    fahren hat. Zuerst, in der Phase der B r e u e r schen Katharsis,
    die direkte Einstellung des Moments der Symptombildung und
    das konsequent festgehaltene Bemiihen, die psychischen Vor-
    gånge jener Situation reproduzieren zu lassen, um sie zu einem
    Ablauf durch bewufte Tätigkeit zu leiten. Erinnern und Ab-
    reagieren waren damals die mit Hilfe des hypnotischen Zu-
    standes zu erreichenden Ziele. Sodann, nach dem Verzicht auf
    die Hypnose, drångte sich die Aufgabe vor, aus den freien

    25 Freud, Schriften zur Neurosenlehre