S.
Uber den Selbstmord. 19
IT.
Prof. Freud:Meine Herren! Sie haben alle mit hoher Befriedigung das
Plaidoyer des Schulmannes angehört, der die ihm teure Institution nicht
unter dem Drucke einer ungerechtfertigten Anklage lassen will. Ich
weiss aber, Sie waren ohnedies nicht geneigt, die Beschuldigung, dass
die Schule ihre Schüler zum Selbstmord treibe, leichthin fiir glaub-
wiirdig zu halten. Lassen wir uns indess durch die Sympathie fiir den
Teil, dem hier Unrecht geschehen ist, nicht zu weit fortreissen. Nicht
alle Argumente des Herrn Vorredners erscheinen mir stichhaltig. Wenn
die Jugendselbstmorde nicht bloss die Mittelschiiler, sondern auch
Lehrlinge п. a. betreffen, so spricht dieser Umstand an sich die Mittel-
schule nicht frei; er erfordert vielleicht die Deutung, dass die Mittel-
schule ihren Zóglingen die Traumen ersetzt, welche andere Adoleszenten
in ihren anderen Lebensbedingungen finden. Die Mittelschule soll aber
mehr leisten, als dass sie die jungen Leute nicht zum Selbstmord treibt;
sie soll ihnen Lust zum Leben machen und ihnen Stütze und Anhalt
bieten in einer Lebenszeit, da sie durch die Bedingungen ihrer Ent-
wicklung genötigt werden, ihren Zusammenhang mit dem elterlichen
Hause und ihrer Familie zu lockern. Es scheint mir unbestreitbar, dass
sie dies nicht tut, und dass sie in vielen Punkten hinter ihrer Aufgabe
zurückbleibt, Ersatz für die Familie zu bieten und Interesse für das
Leben draussen in der Welt zu erwecken. Es ist hier nicht die Ge-
legenheit zu einer Kritik der Mittelschule in ihrer gegenwiirtigen Ge-
staltung. Vielleicht darf ich aber ein einziges Moment herausheben.
Die Schule darf nie vergessen, dass sie es mit noch unreifen Individuen
zu tun hat, denen ein Recht auf Verweilen in gewissen, selbst uner-
freulichen Entwicklungsstadien nicht abzusprechen ist. Sie darf nicht
die Unerbittlichkeit des Lebens für sich in Anspruch nehmen, darf nicht
mehr sein wollen als ein Lebensspiel.II.
Dr. Rudolf Reitler:Meine Herrn! Wir bekommen wohl kaum einen erwachsenen
Neurotiker in psychoanalytische Behandlung, der nicht schon wiihrend
seiner Studienzeit von Selbstmordimpulsen gequält worden wäre, und
es ist sehr wahrscheinlich, dass die im spiiteren Leben auftretenden
Selbstmordphantasien nur Repetitionen 一 selbstverstiindlich mutatis
mutandis dieser jugendlichen Selbstmord-Zwangsvorstellungen sind.Ich bin berechtigt, von Zwang-Vorstellungen zu reden, denn diese
Selbstmordimpulse haben ohne Zweifel zwanghaften Charakter. Wennox
S.
Diskussionen
Wiener psychoanalytischen Vereins.
Herausgegeben
von der Vereinsleitung.EV I. Heft - — ב
Über den Selbstmord
insbesondere den
Schüler-Selbstmord.
Beiträge von:
h らDr, Alfred Adler, Professor S, Freud, Dr. J. К. Friedjung, Dr. Karl Molitor,
Dr, В. Reitler, Dr. J. Sadger, Dr. W. Stekel, Unus multorum.Wiesbaden.
Verlag von J. F. Bergmann.1910.
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