Zur Onanie-Diskussion der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1912-061/1931
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    ZUR ONANIE-DISKUSSION
    [)E e_
    WIENER PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGENG

    (1911)

    Zur Einleitung

    Die Diskussionen in der „Wiener Psydmanalytisdnen Vereinigung“
    verfolgen niemals die Absicht, Gegensätze aufzuheben oder Ent-
    scheidungen zu gewinnen. Durch die gleidiartige Grundauffassung
    der nämlidien Tatsachen zusammengehalten, genauen sich die ein-
    zelnen Redner der sd15rfsten Ausprägung ihrer individuellen Va-
    riationen ohne Rücksicht auf die Wahrsdreinlid1keit, den anders
    dcnkenden Hörer zu ihrer Meinung zu bekehren. Es mag dabei
    viel vorbeigeredel: und vorbeigehört werden; die Endwirkung ist
    doch, daß jeder einzelne den klanten Eindrudr von abweichenden
    Anschauungen empfangen und selbst anderen vermittelt hat.

    Die Diskussion über 0nanie, von der hier eigentlidi nur Bruch-
    stüdxe veröfientlidn werden,’dauerte mehrere Monate und spielte
    sich in der Weise al), daß jeder Redner ein Referat erstattete, an
    weldnes sid: eine ausführliche Debatte anschluß. In diese Publi-
    kationen sind nur die Referate aufgenommen worden, nid“: audi
    die an Anregung reichen Debatten, in denen die Gegensätze aus-
    gesprochen und verfochten wurden, Dies Heft hätte sonst einen
    Umfang annehmen müssen, der seiner Verbreitung und Wirkung
    sicherlich im Wege gestanden wäre.

    Die Wahl des Themas bedarf in unserer Zeit, in der endlich
    der Versuch gemadit wird, audi die Probleme des menschlichen
    Sexualiebens wissensdnafllicher Ergründung zu unterziehen. keiner

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    Onanie-Dirleum'on 219

    Enad1uldiéung. Mehrfache Wiederholungen derselben Gedanken und
    Behauptungen waren unvermeidlid'l; sie entsprechen in Überein-
    Stimmungen. Die vielen Widersprüche zwischen den Auffassungen
    der Vurtragcnden zu lösen, konnte ebensowenig eine Aufgabe der
    Redaktion sein wie ein Versuch, sie zu verheimlichen. Wir hoffen,
    daß weder die Wiederholungen noch die Widersprüche das Interesse
    der Leser abstoßcn werden.

    Unsere Absicht war, diesmal zu zeigen, auf weld1e Wege die
    Forschung über die Probleme der Onanie durch das Auftauchen der
    psyrhoanalytisdien Arbeitsweise gedrängt werden ist. Witweit uns
    diese Absicht gelungen ist, wird sich aus den: Beifall und vielleicht
    noch deutlidxer aus dern Tadel der Leser ergeben.

    Wien, im Sommer 1912.

    SJulußwort

    Meine Herren! Die älteren Mitglieder dieses Kreises werden sid!
    zu erinnern wissen, daß wir sdxon vor mehreren jahren den
    Versuch einer soläen Sammeldiskussion — eine; Symposions
    nach dem Ausdrud; amerikanischer Kollegen — iiber das Thema
    der Onanie unternommen haben. Damals ergaben sich so bedeu—
    rende Abweichungen der gainßerten Meinungen, daß wir uns nicht
    genauen konnten, unsere Verhandlungen der Uflentlichkeit vor—
    zulegen. Seither haben wir —- dieselben Personen wie auch neu
    hinzugekommcne — in unausgesetzter Berührung mit den Tat—
    sachen der Erfahrung und in furtlaufendem Gedankenaustausd1
    untereinander unsere Ansichten so weit geklärt und auf gemein-
    samen Boden gehoben, daß uns das damals unterlassene Wagnis
    nicht mehr so groß erscheinen muß. _

    Id] habe Wirklich den Eindruds, daß die Übereinstimmungen
    unter uns über das Thema der Onanie jetzt stärker und tief—
    gehender sind als die -— sonst nicht zu verleugnenden — Uneinig-
    keiten. Manier Anschein eines Widersprudnes wird nur durch die
    Vielseitigkeit der Gesichtspunkte, die Sie enewidrelt haben, hervor-
    gerufen, während es sid: in Wahrheit um Ansid1teri handelt, die
    gut nebeneinander Raum Enden.

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    1 30 Onmie-Di;kuuion

    Geetacten Sie mir, daß idi Ihnen ein Raum? vurführe, über
    welche Punkte wir einig oder uneinig zu sein sd1einen.

    Einig sind wir wohl alle:

    a} über die Bedeutung der den onlnistisd1en Akt begleitenden

    oder ihn vertretenden Phantasien,

    b) über die Bedeutung des mit der Onanic verknüpften Schuld-
    bewußtseins, Woher immer dieser stammen mag,

    c) über die Unmöglichkeit, eine qualitative Bedingung für die
    Sehädlidxkeit der Quali: anzugeben (Hieriiber nicht ohne
    Ausnahme einig)

    Unausgeglichene Meinungsverschiedenheinen
    haben sich gezeigt:

    d) in betrefi der Leugnung des sometiscben Faktors der Onanie-
    wirkung,

    b) in betrefl der Abweisung der Onaniesd1'ädliehkeit überhaupt,

    c) in hell-lg auf die Herkunfl: des Sehuldgefiihls, das die einen
    von Ihnen direkt aus der Unbefriedigung ableiten wollen,
    während andere soziale Faktoren oder die jeweilige Einstellung
    der Persönlichkeit mit heranziehen,

    d) in bezug auf die Ublquität der Kinderonanie.

    Endlich bestehen hedeulungsvolie Unsi ch erh eit en:

    a) über den Mechanismus der sdiädlichen Wirkung der Onanie‚
    falls eine soldxe anzuerken.uen ist,

    17) über die ätiologisdre Beziehung der Onanie zu den Aktual-
    neuroscn.

    In den meisten der zwischen uns strittigen Punkte danken wir
    die Infragestellung der auf starke und selbständige Erfahrung ge-
    seützten Kritik unseres Kollegen W. Stekel. Gewiß haben wir
    einer künftigen Schar von Beobachtern und Forschern noch sehr
    viel zur Feststellung und Klärung übriggelassen. aber wir wollen
    uns damit m'isten, daß wir ehrlidi und nicht engl1erzig gearbeitet
    und dabei Rid1tungen cingcsdzrlagen haben, auf denen sich auch die
    spätere Forschung bewegen wird.

    Von meinen eigenen Beiträgen zu den uns besdiäftigenden Fragen
    dürfen Sie nun nid": viel erwarten, Sie kennen meine Vorliebe
    für die fragmentarische Behandlung eines Gegenstandes zugunsten

  • S.

    Onanie-Ditkurrion 131

    der Hervorhebung jener Punkte, die mir die gesid-rertsten scheinen.
    1a. habe nichts Neues zu geben, keine Lösungen, bloß einige Wieder-
    holungen von Dingen, die ich sd1on früher einmal behauptet, einige
    Verteidigungen dieser alten Aufstellungen gegen Angriffe aus Ihrer
    Mitte, und dazu noch wenige Bemerkungen, wie sie sich dem Zu-
    hörer bei Ihren Vorträgen aufdrängen mußten.

    Id] habe bekanntlich die Onnnie nach den Lebensaltern ge—
    schieden in x) die Säuglingsonanie, unter der alle automatischen,
    der sexuellen Befriedigung dien-den Vornahmen verstanden sind,
    z} die Kinderonanie, die aus ersterer unmittelbar hervorgebt und
    sich bereits an bestimmten erogenen Zonen fixiert hat, und 3) die
    Pubertärsonanie, weldie entweder an die Kinderonmie ansd1ließt
    oder durd1 die Latenzzeit von ihr getrennt ist. In manchen der
    Darstellungen, die im von Ihnen gehört habe, ist diese zeitlidie
    Scheidung nicht ganz zu ihrem Red1t gekommen. Die du:-d: den
    medizinischen Sprad1gebraueb nahegelegte angebliche Einheit der
    Onanie hat manche allgemeine Behauptung veranlaßt, wo die
    Differenzierung nad1 jenen drei Lebensepochen eher berechtigt ge—
    wesen wäre. Id] habe es au& bedauert, daß wir die 0nanie des
    Weibcs nicht in ähnlidiem Maße wie die des Mannes beriid-rsid1tigen
    konnten, und meine, die weiblid1e Onanie sei einer besonderen
    Studiums wert, und gerade bei ihr fiel: ein starker Akzent auf die
    durdi das Lebensalter bedingten Modifikationen.

    Ich komme nun zu den Einwendungen, die Reitler gegen
    mein teleologisches Argument für die Ubiquität der Säuglingsonanie
    gerid1tet hat. Ich bekenne, daß ich dies Argument preisgebe. Wenn
    die „Sexualtheorie“ noch eine Auflage erleben sollte, so wird diese
    den beanstandeten Satz nidnt mehr enthalten. Ich werde darauf
    verzichten, die Absichten der Natur ernsten zu wollen, und werde
    mich damit begnügen, den Sad1verhalt zu beschreiben.

    Auch Reitlers Bemerkung, daß gewisse nur dem Menschen
    eigentümliehe Einrichtungen am Genitalapparat die Hintanhaltung
    des Sexualverkehrs im Kindesalter anzustreben sd1einen, muß ich
    fiir siunreid1 und bedeutsam erklären. Aber hier knüpfen meine
    Bedenken an. Der Veredeluß der weiblidren Sexualhöblung und
    der Wegfall des die Erektion versiebernden Penisknod1ens sind dod1

  • S.

    13 ; Onanic-Dirleum'an

    nur gegen den Koitus selbst gerichtet, nid1t gegen die sexuellen
    Erregungen überhaupt. Reitler scheint mir die Zielstrebigkeit
    der Natur allzu menschenähnlicl-r zu erfassen, als handle es sieh
    bei ihr wie bei Mensd1enwerk um die konsequente Durdiführung
    einer einzigen Absid1t. Soviel wir sehen, gehen aber in den natür-
    lichen Vorgängen meist eine ganze Reihe von Zielstrehungen neben—
    einander her, ohne einander aufzuheben. Wenn wir schon in mensch-
    lid1en Tcrminis von der Natur sprechen., müssen wir sagen, sie
    ersd-reine uns als das, was wir beim Menschen inkonsequent heißen
    würden. Ich glaube meinerseits, Reitler sollte nicht soviel Ge-
    widit auf seine eigenen teleulogisdien Argumente legen. Die Ver-
    wertung der Teleologie als heuristische Hypoehese hat ihre Bedenken;
    man weiß im einzelnen Falle nie, ob man an eine „Harmonie“
    oder an eine „Disharmonie“ geraten ist. Es ist, wie wenn man
    einen Nagel in eine Zimmerwand einzuseblegen hat; man weiß
    nicht, trifft man auf eine Fuge oder auf den Stein.

    In der Frage des Zusammenhanges der Onanie und der
    Pollutionen mit der Verursaehung der sog. Neuruthenie befinde
    id: mich, wie viele von Ihnen, im Gegensatz zu Stekel und
    halte gegen ihn meine früheren Angaben mit einer später anzu-
    führenden Einschränkung aufrecht. Ich sehe nidxts, was uns nötigen
    könnte, auf die Unterscheidung von Aktualnenrosen und Psyche-
    neurosen zu verzichten, und kann die Genese der Symptome bei
    den ersteren nur als eine toxisd1e hinstellen. Kollege Stekel
    scheint mir hier die Psydrogeneität wirklich sehr zu überspannen.
    Ich sehe es noch immer so, wie es mir zuerst vor mehr als fünf-
    zehn Jahren erschienen ist, daß die beiden Aktualneurosen —
    Neurasthenie und Angstneurnse — (vielleicht ist die eigentlid-re
    Hypoduondrie als dritte Aktualneurose anzuteihen) das sometisd1e
    Entgegenkommen für die Psychoneurosen leisten, das Erregungs—
    material liefern, weld1es dann psychisch ausgewählt und umkleidet
    wird, so daß, allgemein gesprochen, der Kern des psydmneurotischen
    Symptom-15 — das Sandkorn im Zentrum der Perle — von einer
    somatisehen Sexualäußerung gebildet wird. Dies ist für die Angst-
    neurose und ihr Verhältnis zur Hysterie freilid-r deutlicher als für
    die Neureschenie, über welche sorgfältige psychoanalytisehe Unter-

  • S.

    Onanie-Dirleunian 13 3

    sudiungen noch nidit angestellt werden sind. Bei der Angsmeurose
    ist es, wie Sie sid; oflmal: überzeugen konnten, im Grunde ein
    Stückchen der nicht abgeführten Koituserregung, weld1es als Angst—
    sympeom zum Vorsdiciii kommt oder den Kern einer hysterisnäeu
    Symptombildung abgibt.

    Kollege S t e k el teilt mit mehreren außerhalb der Psychoanalyse
    stehenden Autoren die Neigung, die morphologisdien Differen-
    zierungen, die wir innerhalb des Gewines der Neurosm stntuiert
    haben, zu verwerfen und sie alle unter einen Hut — etwa den
    der Psydiasthenie — zu bringen. Wir haben ihm darin oftmals
    widersprechen und halten an der Erwartung fest, daß sich die
    morphologiecb-klinisdren Differenzen als nnd-. unversmndme An-
    zeichen wesensversehiedener Prozesse wertvoll erweisen werden.
    Wenn er uns — rnit Red1t — verhält, daß er bei den sog.
    Neurasthenikern regelmäßig dieselben Komplexe und Konflikte vor—
    gefunden hat wie bei anderen Neurotikern, so triEt dies Argument
    wohl nid“; die Streitfrage. Wir wissen längst, daß wir die näm<
    lichen Komplexe und Konflikte auch bei allen Gesunden und
    Normalen zu erwarten haben. Ja, wir haben uns daran gewöhnt,
    jedem Kultu.rmensd1en ein gewißes Maß von Verdrängung per—
    Verser Regungen, von Analerotik, Homosexualität u. dgl. sowie ein
    Stück Vater— und Mutterkomplex und noch andere Komplexe
    zuzumuten, wie wir bei der Elementaranalyse eines organisdien
    Körpers die Elemente: Koblenstofi, Sauerstoff, Wasserstoff, Stick—
    stoff und etwas Schwefel mit Sicherheit nad:zuweisen boden. Was
    die organisd1en Körper voneinander unterscheidet, ist das Mengen-
    verhälmis dieser Elemente und die Konstitution der Verbindungen,
    die sie miteinander eingeben. So handelt es sich bei den Normalen
    nnd Neurotikem nicht um die Existenz dieser Komplexe und Kon—
    flikte, sondern um die Frage, ob dieselben patbogeu geworden sind,
    und wenn, welche Mechanismen sie dabei inAnsprudx genommen haben.

    Das Wesentlidne meiner seineneit aufgestellten und heute ver.
    teidigten Lehren über die Aktualneurosen liegt in der auf den
    Versud1 gestützten Behauptung. daß deren Symptome nith wie
    die psyduoneurotischen analytisch zu zersetzen sind. Also daß die
    Obstipation‚ der Kapfsd1merz, die Ermiidung der sog. Neumstheniker

  • S.

    ; 34 Onanie-Dirkuuian

    nicht die historisd1e oder symbolische Zuriidrführung auf wirksame
    Erlebnisse gestatten, sich nicht als sexuelle Ersatzbefriedigungen,
    als Kompromisse entgegengesetzter Triebregungen verstehen lassen
    wie die (eventuell selbst gleid;arr.ig ersdieinenden) psyd;oneurotisd;en
    Symptome. Id; glaube nid;t‚ daß es gelingen wird, diesen Satz
    mil: Hilfe der Psychoanalyse umzustürzen. Dagegen räume id; heute
    ein, was ich damals nicht glauben konnte, daß eine analytische
    Behandlung indirekt and; einen heilenden Einfluß auf die Aktual-
    symptume nehmen kann, indem sie entweder dazu führt, daß die
    aktuellen Sebädlichkeiten besser vertragen werden, oder indem sie
    das kranke Individuum in den Stand setzt, sid; durd; Änderung
    des sexuellen Regimes diesen aktuellen Sd;ädlid;keiten zu entziehen.
    Das sind ja gewiß erwünschte Aussid;een für unser therapeutisches
    Interesse.

    Sollte id; aber in der theoretischen Frage der Aktualneurosen
    am Ende des Irrtums überwiesen werden, so werde id; mid; mit
    den; Fortschritt unserer Erkenntnis, der den Standpunkt des Ein-
    zelnen entwerten muß, zu tröscen wissen. Sie werden nun fragen,
    warum id; bei so lobenswerten Einsichten in die notwendige Be—
    grenztheit der eigenen Unfel;lbarkeie nicht lieber gleich den neuen
    Anregungen nad;gebe und es vorziebe, das ofl gesehene Schauspiel
    des alten Mannes zu wiederholen, der starr an seinen Meinungen
    festhält. Id; antworte, weil ich die Evidenz nnd; nid": erkenne,
    der id; nadxgeben soll. In früheren Jahren haben meine Ansichten
    manche Veränderung erfahren, die id; vor der Olfentlid;keit nicht
    verheimlid;r habe. Man hat mir aus diesen Wandlungen Vorwürfe
    gernad;t, wie man sie heute aus meinen Beharmngen machen wird.
    Nid1t, daß mid; diese oder jene Vorwürfe absdirecken würden.
    Aber id; weiß, id:; habe ein Sd;idisal zu erfüllen. Ich kann ihm
    nid;r entkommen und braud;e ibm nid;t entgegenzugehen. Id;
    werde es abwarten und mich unter-des gegen unsere Wissensd;afl
    so verhalten, wie id; es von früher ber erlernt babe.

    Ungern nehme ich Stellung zu der von Ihnen viel behandelten
    Frage nach der Scbädlidlkeit der Onanie, denn dies ist kein ordent-
    lid1er Zugang zu den Problemen, die uns beschäftigen. Aber wir
    müssen es wohl alle. Die Welt sd;einr sid; für nichts anderes an

  • S.

    Gnade-Diskussion 23 5

    der Onanie zu interessieren. Wir hatten, wie Sie sich erinnern, an
    unseren ersten Diskussionsabenden über das Thema einen distin—
    guierten Kinderarzt dieser Stadt als Gast in unserer Mitte. Was
    verlangte er in wiederholten Anfragen von uns zu erfahren? Nur,
    inwiefern die Onanie sd1ädlid1 sei, und warum sie dem einen schade,
    dem anderen nidst. So müssen wir denn unsere Forschung nötigen,
    diesem praktisd1en Bedürfnis Rede zu stehen.

    Ich gestehe es, ich kann audi hierin nicht den Standpunkt
    Stekels teilen, trotz der vielen tapferen und ridttigen Bemer-
    kUngen, die. er uns über diese Frage vorgetragen hat. Für ihn
    ist die Schädlichkeit der Ona.nie eigentlich ein unsinniges Vor-
    urteil, welchem wir nur infolge persönlicher Beengung nicht gründ—
    lich genug abschwören wollen. Ich meine aber, wenn wir das
    Problem sine im et studio -— soweit es eben uns möglidr ist ——
    ins Auge fassen, müssen wir eher aussagen, daß solche Parteinahme
    unseren grundlegenden Ansichten über die Ätiologie der Neurosen
    Widerspridlt. Die Onanie entspricht im wesentlichen der infantilen
    Sexualbetätigung und dann der Festhaltung derselben in reiferen
    Jahren. Die Neurosen leiten wir ab von einem Konflikt zwischen
    den Sexualstrebungen eines Individuum und seinen sonstigen
    (Ich—)Tendenzen. Nun könnte jemand sagen: für mich liegt der
    pathogene Faktor dieses ätiologischen Verhältnisses nur in der
    Reaktion des ld1s gegen seine Sexualität. Er würde damit etwa
    behaupten, jede Person könnte sich frei von Neurose halten, wenn
    sie nur ihre sexuellen Strehungen ohne Einsd1ränkung befriedigen
    wollte. Aber es ist offenbar willkürlich und sichtlid) auch unzweck-
    mäßig, so zu entscheiden und nicht and-1 die Sexualstrehungen
    selbst an der Pathogeneität teilnehmen zu lassen Geben Sie aber
    zu, daß die sexuellen Antriebe pathogen wirken können, so dürfen
    Sie diese Bedeutung nicht mehr der Onanie streitig mad—nn, die ia
    nur in der Ausführung soldier sexuellen Triehregungcn besteht
    Gewiß werden Sie in jedem Falle, der die Onanie als pathogen zu
    beschuldigen scheint, die Wirkung weiter zurüdrführen können, auf
    die Triebe, die sich in der Onanie äußern, und auf die Wider—
    stände, die sich gegen diese Triebe richten; die Onanie ist ja
    weder sometisds nude psydzologisczh etwas Letztel, kein wirkliches

  • S.

    z 3 6 Ouznie-Dir/eunion

    Agens, sondern nur ein Name für gewisse Tätigkeiten, aber trotz
    aller Weiterführungen bleibt das Urteil über die Krankheitsver-
    ursadxung doch mit Red1t an diese Tätigkeit geknüpft. Vergessen
    Sie auch nicht daran, die Onanie ist nicht gleidmzusetzen der Sexual-
    betätigung überhaupt, sondern ist solche Betätigung mit gewissen
    einschränkenden Bedingungen. Es bleibt also audi möglich, daß
    gerade diese Besonderheiten der onanistisd1en Betätigung die Träger
    ihrer pathogenen Wirkung seien.

    Wir werden also vom Argument Weg wieder an die klinische
    Beobachtung gewicsen, und diese mahnt uns, die Rubrik „Schäd-
    lid1e Wirkungen der Onanie“ nicht zu streidzen. Jedenfalls haben
    wir es bei den Neurosen rnit Fällen zu tun, in denen die Onanie
    Sdmden gebrad1t hat.

    Dieser Schaden sd1eint sid-1 auf drei verschiedenen Wegen durch-
    zusetzen:

    a) als organische Schädigung nach unbekanntem Mechanis-
    mus, wobei die von Ihnen oft erwähnten Gesichtspunkte der
    Maßlosigkeit und der inadäquaten Befriedigung in Betracht
    kommen;

    b) auf dem Wege der psychischen Vorbildlichkeit,
    insoferne zur Befriedigung eines großen Bedürfnisses nid1t
    die Veränderung der Außenwelt angestrebt werden muß. W'o
    sid: aber eine ausgiebige Reaktion auf diese Vorhildlichkeit
    entwidselt, können die wertvollsten Chamktereigenschaften
    angebahnt werden;

    c)durd1 die Ermöglidiung der Fixierung infantiler
    Sexualziele und des Verbleibens im psychischen Infanti-
    lismus. Damit ist dann die Disposition für den Verfall in
    Neurose gegeben. Als Psydwana.lytiker müssen wir für diesen
    Erfolg der Onanie — gemeint ist hier natürlich die Pubertäts-
    onanie und die über diese Zeit hinaus fortgesetzte — das
    größte Interesse aufbringen. Halten wir uns vor Augen,
    welehe Bedeutung die 0nanie als Exekutien der Phantasie
    gewinnt, dieses Zwischenreidues, welehe! sich zwischen dem
    Leben nach dem Lust- und dem nach dem Realitätsprinzip
    eingeschaltet hat, wie die Onanie es ermöglidit, in der

  • S.

    Onanic-Dislensrion 2 37

    Phantasie sexuelle Entwiddungen und Sublimierungén zu voll—
    ziehen, die doch keine Fortschritte, sondern nur Sdlädlid'lfl
    Kompromißbildungen sind. Derselbe Kompromiß mad1t aller-
    dings nach Stekels Wichtiger Bemerkung schwere Per-
    versionsneigungen unschädlich und wendet die. ärgsten Folgen
    der Abstinenz ab.

    Eine dauernde Absdnwäd1ung der Potenz kann id] nach meinen
    ärztlichen Erfahrungen» nicht aus der Reihe der Onaniefolgen aus-
    schließen, wenngleich ich Stekel zugebe, daß sie in einer Anzahl
    von Fällen als bloß scheinbare zu entlarven ist. Gerade diese Folge
    der Omnia kann man aber nicht ohne weiteres zu den Schädigungen
    rechnen. Eine gewisse Herabsetzung der männlichen Potenz und
    der mit ihr verknüpften brutalen Initiative ist kulturell recht ver—
    wertbar. Sie erleichtert dern Kulturmenselmen die Einhaltung der
    von ihm geforderten Tugenden der sexuellen Mäßigkeit und Ver-
    läfllichkeit. Tugend bei voller Potenz wird meist als eine sd1wierigc
    Aufgabe erfunden.

    Wenn Ihnen diese Behauptung zynisd1 erscheint, so nehmen Sie
    an, daß sie nid1t als Zynismus gemeint ist. Sie will nichts sein
    als ein Stüd: dürrer Beschreibung, dem es gleich gilt, ob es Wohl-
    gefallen oder Ärgernis erwecken kann. Die Onanie hat eben auch,
    wie so vieles andere, les défauts de se: wenn: untl umgekehrt les
    vertus dc m défauts. Wenn man einen komplizierten sid1li&hen
    Zusammenhang in einseitig praktischem Interesse auf Schaden oder
    Nutzen zerfasert, wird man sich sold1e unliebsame Funde gefallen
    lassen müssen.

    Id1 meine übrigens, daß wir mit Vorteil voneinander trennen
    können, was man die direkten Sdnädigungen durch die Onanie
    heißen kann, und was sich in indirekter Weise aus dem
    Widerstand und der Auflehnung des Ida; gegen diese Sexual-
    betätigung ableitet. Auf diese letzteren Wirkungen bin id“: hier nicht
    eingegangen.

    Nun noch einige notgedrungene Worte zur zweiten der an uns
    gerichteten peinlichen Fragen. Vorausgesetzt, daß die Onanie sdnäd-
    lid-r werden kann, unter weh-hen Bedingungen und bei weldsen
    Individuen erweist sie sich als schädlich?

  • S.

    2 38 Onanie-Dirkuuion

    Ich möd1te mit der Mehrzahl von Ihnen eine allgemeine Beant-
    wortung dieser Frage ablehnen. Sie dedit sich ja zu einem Teil
    mit der anderen umfassenderen Frage, wann die sexuelle Betätigung
    überhaupt für ein Individuum pathogen wird. Ziehen wir dieses
    Stüd: ab, so erübrigt eine Derailfrage, weldme sich auf die
    Charaktere der Onanie bezieht, insoferne sie eine besondere Art
    und Weise der Sexualbefriedigung darstellt. Hier gälte es nun,
    Bekanntes und in anderem Zusammenhange Vorgebradrtes zu
    wiederholen, den Einfluß des quantitativen Faktor: und des Zu-
    sammenwirkens mehrfacher pathogen wirksamer Momente zu wür-
    digen, vor allem aber müßten wir den sog. konstitutionellen
    Dispositionen des Individuums einen großen Platz einriiurnen. Ge-
    stehen wir es aber nur: es ist eine üble Sad1e‚ mit diesen zu
    arbeiten. Wir pflegen die individuelle Disposition nämlid'i ex post
    zu erschließen; nachträglich, wenn die Person bereits erkrankt ist,
    schreiben wir ihr diese oder jene Disposition zu. Wir haben kein
    Mittel zur Hand, sie vorher zu erraten. Wir benehmen uns da
    wie jener sdmttisdre König in einem Roman von Victor Hu g o,
    der sich eines unfehlbaren Mittels rühmte. um die Hexerei zu
    erkennen. Er ließ die Besdruldigte in heißem Wasser abbrühen,
    und dann kostete er die Suppe. Je nach dem Geschmad-t urteilte
    er dann: Ja, das war eine Hexe, oder: Nein, das war keine.

    Ich könnte Sie nod1 auf ein Thema aufmerksam machen,
    weldres in unseren Bespredmngen zu wenig behandelt worden
    ist, das der sog. unbewußten Onanie. Idr meine die Onanie im
    Schlafe, in almormen Zuständen, in Anfällen. Sie erinnern sid-1,
    wieviel hysterische Anfälle den onanistisdnen Akt in versteckter
    oder unkenntlicher Weite wiederbringen, nachdem das Individuum
    auf diese Art der Befriedigung verzichtet hat, und wieviel Sym-
    ptome der Zwangsneurose diese einst verbotene Art der Sexual—
    betätigung zu ersetzen und zu wiederholen suchen. Man kann and-r
    von einer therapeutischen Wiederkehr der Onanie spred1en. Mehrere
    von Ihnen werden bereits wie id1 die Erfahrung gemadrt haben,
    daß es einen großen Fortschritt bedeutet, wenn der Patient sich
    während der Behandlung wiederum der Onanie getraut, wenngleich
    er mm: die Absicht hat, dauernd auf dieser infantilen Station zu

  • S.

    0mmie—Dirkunian 133

    verweilen. Id1 darf Sie dabei aud1 daran mahnen, daß eine an-
    sehnliehe Zahl gerade der sdmersten Neurotiker in den historischen
    Zeiten ihrer Erinnerung die Omanie vermieden hat, während sich
    durch die Psydroanalyse nad1weisen läßt, daß ihnen diese Sexual—
    tätigkeit in vergessenen Frühzeiten keineswegs fremd geblieben wir.

    D0di ich denke, wir brechen hier ab. Wir sind ja alle in dem
    Urteil einig, daß das Thema der Gnade sd1ier unersdmöpflidi ist.

    V 0 R W 0 R T
    zu „Die paleiaJlen Störungen alu männlir]lm Potenz" von
    Dr.Muacbn.Sfeine1-‚ Win. 1915

    Der Autor dieser kleinen Monographie, welehe die Pathologie
    und Therapie der psychischen Impotenz des Mannes behandelt,
    gehört zu jener kleinen Schar von Ärzten. welche frühzeitig die
    Bedeutung der Psydwanalyse für ihr Spezialfaeh erkannt und
    seitdem nicht aufgehört haben, sid; in deren Theorie und Technik
    zu vervollltommnen. Wir wissen ja, daß nur ein kleiner Anteil
    der neurotisdaen Leiden — weld1e wir ietzt als Folgen von Störung
    der Sexualfunktion erkannt haben — in der Neuropathologie selbst
    abgehandelt wird. Der größere Teil derselben fällt unter die Er-
    krankungen des betreffenden 0rgans, welches von der neurotisdien
    Störung heimgesudit wird. Es ist nur zweckmäßig und billig, wenn
    udn die Behandlung dieser Symptome oder Syndrome die Sidi:
    des Spezialarztes wird, welcher allein die Differentialdiagnose
    gegen eine organisdre Afiektion stellen, bei Misd1forrnen den Anteil
    des organisdtien Elements von dem des neurotisdren eingrenzen und
    im allgemeinen Aufschluß über die gegenseitige Förderung von
    heiderlei Krankheitsfaktoren gehen kann. Sollen aber die „nervösen"
    Organkrankheiten nicht als ein Anhang zu den materiellen Er-
    krankungen derselben Organe einer Vernad-dässigung anheimfallen,
    welche sie bei ihrer Häufigkeit und praktisdien Bedeutsamkeit keine?
    wegs verdienen, so muß der Spezialist, sei er Magen-, Herz— oder
    Urogenitalarzt, außer seinen allgemeinen ärztlichen und seinen
    Spezialkenntnissen auch die Gesichtspunkte, Einsichten und Tech-
    niken des Nervenarztel für Sein Gebiet verwerten können.