S.
Zur psychoanalytischen Bewegung.
Im September 1915 hielt Herr Dr. Johs. Stromme in der Norwegi-
schen Psychiatrischen Vereinigung einen Vortrag über „Die Psychoana-
lyse und ihre Technik“. Der Vortragende erklärte zu Beginn seiner Aus-
fithrungen, daß er sich zur Schule Jungs rechne und sich nur mit dessen
Theorie befassen werde. Demgemäß enthält der Vortrag eine Darstellung der
Libidotheorie Jungs und seiner darauf fuBenden analytischen Technik, ins-
besonders auch der Traumdeutung, doch wird anerkannt, daß die urspriing-
liche und unmodifizierte Methode, wie sie von Freud gelehrt wurde, griind-
licher war und tiefer führte. „Wenn ich tiefergehend sage, muß dies nicht
aufgefaBt werden, als ob Freud mehr oberflächlich sei. Im Gegenteil, nie-
mand hat mehr ausführlich die latenten Traumgedanken bloBlegen können.
Die Methode Jungs hilt sich weit mehr an der Oberfläche. . . .* Zu
therapeutischen Zwecken genügt nach Ansicht des Vortragenden eine solche
oberflächliche Analyse, weil sie „mehr als genügend Assoziationsmaterial
produziert“, Er schließt seine Darlegung mit den Worten: „Wir haben alle
Grund Freud und Jung dankbar zu sein für den genialen Einsatz in
dem Kampf gegen das soziale Übel: Die Neurose = die Faulheit = die
Lebensliige. ** *
*Im Frauenbildungsverein in Wien hielt Frau Dr. H. von Hug-Hell-
muth eine Vortragsreihe iiber „Neue Wege zum Verstindnis der
Kinderseele* mit folgendem Programm :I. Vortrag 18. Februar: Einführungsvortrag: Die Rolle des UnbewuBten
im Seelenleben des Erwachsenen und des Kindes.TI. Vortrag 25. Februar: Das Liebesbediirfnis des Kindes.
III. Vortrag 3. März: Das Triebleben des Kindes; seine Ein- und
Unterordnung.IV. Vortrag 10. März: Die zweifache Lüge der Erwachsenen in der
Kinderstube.M Vortrag 17. März: Kinderlaunen, -unarten und -fehler.
VI. Vortrag 24. März: Vom Fragen der Kinder,
VII, Vortrag 31. Mirz: Das Kinderspiel.
A ei i Kindertråume ; Tagtriume des Kindes.
Е . à - April: Seelische Gesundheit des Kindes: die Vorbe-
dingung zur Erzielung von Edelmenschen.* *
*In der „Wiener Urania“ fand Sonn i
tag den 27, Februar ein Vortrag
von Dr. Hanns Sachs über „Traum und dichterische Phantasie“ statt.* *
*S.
Zur psychoanalytischen Bewegung. 69
Zwei Bücher von Herrn Prof. Freud, nämlich die „Studien über Hy-
sterie (mit Breuer) und „Über Psychoanalyse, fünf Vorlesungen gehalten
zur 20jährigen Gründungsfeier der Clark University in Worcester Mass.“ sind
nunmehr in 3. Auflage im Verlage von F. Deuticke erschienen.* *
*Im selben Verlage wurde ein neues Buch von Leo Kaplan (Zürich) ver-
offentlicht, das den Titel ,Psychoanalytische Probleme“ führt.
* ォ
*Der Seminardirektor Dr. Schneider in Bern wurde von der Unterrichts-
verwaltung seines Postens entsetzt. Die Grundlage dieser MaBregelung bildete
der Bericht einer ,Expertenkommission“, welcher im Berner „Bund“ vom
28. Jänner 1916 abgedruckt wurde. Wir reproduzieren im folgenden jenen
Teil des Berichtes, der sich mit der Psychoanalyse beschäftigt und halten jede
polemische Stellungnahme für überflüssig :„Eine besondere Beurteilung erfordert der Unterricht Dr. Schneiders
in der Psychologie. Schon im Jahre 1912 — wenn nicht vorher — hat im
Psychologieunterricht am Oberseminar die Psychoanalyse einen großen Teil der
Unterrichtszeit fiir sich in Anspruch genommen. Auf das Bedenkliche dieser
Tatsache muß mit allem Nachdruck hingewiesen werden. Beilage I, 18 ff,
führt uns in eine Atmosphäre, von deren Vorhandensein sich kaum jemand
einen Begriff zu machen wagte. Zum Gegenstand selbst bemerken wir fol-
gendes: Ohne Zweifel hat die Psychoanalyse über das UnterbewuBtsein bemer-
kenswerte Untersuchungen und Aufklirungen geliefert. Indessen fällt dem
ruhig Urteilenden auf, daB einzelne Psychoanalytiker eine Formel gefunden
zu haben glauben, mit der sie äußerst verwickelte Seelenvorgünge lösen wollen.
Ferner überrascht das Gesuchte, Gektinstelte in vielen Beispielen, die
Sich auch in den zusammenfassenden Buche von Dr. Pfistor in Zürich vor-
finden. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, daß der Unter-
suchende vielfach Dinge in die Menschen, insbesondere in die Kinder hinein-
analysiert, von deren Richtigkeit er bloB durch theoretische Spekulation
überzeugt worden sei. Beispiele finden sich in der Beilage. Es müßte also
eigentlich überraschen, daB ein Seminardirektor alle diese Behauptungen und
Scheinbeweise kritiklos entgegennimmt und sie zum Gegenstand einer aus-
führlichen Behandlung im Seminarunterricht wählt. Aber Herr Dr. Schneider
verfügt nieht über die Kraft, geistige oder rein praktische Materien zu erfassen
und sie selbstindig zu verarbeiten, was schon in den Bemerkungen über
sein Lehrverfahren eingangs angedeutet worden ist,Gesetzt nun aber den Fall, die Behauptungen der Psychoanalytiker seien
von Anfang bis zu Ende richtig, so erhebt sich dennoch die Frage, ob dieses
Gebiet im Seminarunterricht Verwertung finden solle. In dieser neuen Wissen-
Schaft spielt das Sexuelle eine Hauptrolle. Für uns steht es fest, dab, falls
die Psychoanalyse im Seminarunterrieht überhaupt berührt werden soll, dies
mit demjenigen groBen MaB von Takt geschehen müsse, das wir für die
sexuelle Aufklärung verlangen. "Theoretisch steht Dr. Schneider auf dem
richtigen Boden, sagt doch der Beleg I, 21 u. ff: ,Deshalb sollte man in
der Schule die Sache ganz natürlich erwähnen. . . nicht aufklären wollen, die
Gelegenheit an den Haaren herbeiziehen ; in feiner taktvoller Weise, nicht grob
und allzu naturalistisch sein wollen; denn es ist ein feiner Schleier über das
Sexuelle gelegt, die natürliche Scham, sie ist wie der Staub auf den FlügelnS.
70 Zur psychoanalytischen Bewegung.
des Schmetterlings.* Dr. Schneider vergibt auch hier, wen er vor sich hat,
Was er für den Unterricht in der Schule fordert, das fordern wir auch fiir
den Unterricht im Seminar, wenn auch hier die Aufklärung weiter gehen darf,
Nur fordert das „natürliche Erwähnen“ eben auch feinen Takt; der aber
hat Dr. Schneider völlig gefehlt, Wie hätte er sich sonst monatelang mit
seinen Schülern in diesem Schlamm des UnterbewuDtseins bewegen können?Was nun noch bedenklicher ist: Dr. Schneider hat Seminaristen ana-
lysiert und dabei nicht bemerkt, daß er sich zum Schüler in ein Verhältnis
begab, das beanstündet werden muß, Und was müssen wir halten von einem
Volksschullehrer, der dann gestützt auf seinen Seminarunterricht seelische Re-
gungen des Kindes kurzerhand auf die Sexualität zurückführt ?Ferner hat Dr. Schneider in den Klassen Jahr fiir Jahr einzelne
Schüler hypnotisiert. Welch nachteilige Wirkungen auf die Willenskraft der
Versuchsobjekte eintreten bedarf keines Beweises. Dr. Schneider hat ferner
den Seminaristen die Anschaffung des Buches von Dr. Pfister empfohlen und
erklärt noch jetzt, er sehe nicht ein, warum er das nicht tun solle, Er be-
hauptet auch, was er jetzt treibe, sei gar nicht mehr Psychoanalyse.Wir wollen gern hoffen, daß er die krassen Ausführungen vom Jahre
1912 seither gemieden habe; doch Beleg I, 10—17, beweist uns nur zur
Gentige, daß er sich mit seiner Aussage täuscht und es ist bedenklich und
für einen Seminardirektor endgültig belastend, daß er sich überhaupt jemals
soweit hat gehen lassen und unbelehrbar ist.“Herr Dr. Schneider hat eine Erwiderung publiziert, in welcher er
unter anderem darauf hinwies, daB das Werk Pfisters bei hervorragenden
Fachminnern, wie dem verstorbenen Prof. Dürr, reiche Anerkennung ge-
funden hat.
z419161
68
–70