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ZUR PSYCHOLOGIE DES GYMNASIASTEN.
VON PROFESSOR SIGMUND FREUD.
Man hat ein sonderbares Gefühl, wenn man in so vorgerückten
Jahren noch einmal den Auftrag erhält, einen „deutschen
Aufsatz“ für das Gymnasium zu schreiben. Man gehorcht
aber automatisch wie jener ausgediente Soldat, der auf das Kom-
mando „Hat Acht!“ die Hände an die Hosennäht anlegen und
seine Päckchen zu Boden fallen lassen muß. Es ist merkwürdig,
wie bereitwillig man zugesagt hat, als ob sich in dem letzten Halb-
jahrhundert nichts Besonderes geändert hätte. Man ist doch alt ge-
worden seither, steht knapp vor dem sechzigsten Lebensjahr, und
Körpergefühl wie Spiegel zeigen unzweideutig an, wieviel man von
seinem Lebenslicht bereits heruntergebrannt hat.
Noch vor zehn Jahren etwa konnte man Momente haben, in
denen man sich plötzlich wieder ganz jung fühlte. Wenn man, be-
reits graubärtig und mit allen Lasten einer bürgerlichen Existenz
beladen, durch die Straßen der Heimatstadt ging, begegnete man
unversehens dem einen oder anderen wohlerhaltenen älteren Herrn,
den man fast demütig begrüßte, weil man einen seiner Gymnasial-
lehrer in ihm erkannt hatte. Dann aber blieb man stehen und sah
ihm versonnen nach: Ist er das wirklich oder nur jemand, der ihm
so täuschend ähnlich ist? Wie jugendlich sieht er doch aus und
du bist selbst so alt geworden! Wie alt mag er heute wohl sein? Ist es
möglich, daß diese Männer, die uns damals die Erwachsenen
repräsentierten, um so weniger älter waren als wir?
Die Gegenwart war dann wie verdunkelt und die Lehrjahre
von 10 bis 18 stiegen aus den Winkeln des Gedächtnisses empor
mit ihren Ahnungen und Irrungen, ihren schmerzhaften Um-
bildungen und beseligenden Erfolgen, die ersten Einblicke in
eine untergegangene Kulturwelt, die wenigstens mir später
ein unübertroffener Trost in den Kämpfen des Lebens werdenS.
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sollte, die ersten Berührungen mit den Wissenschaften, unter
denen man glaubte wählen zu können, welcher man seine –
sicherlich unschätzbaren – Dienste weihen würde. Und ich glaubte
mich zu erinnern, daß die ganze Zeit von der Ahnung einer Auf-
gabe durchzogen war, die sich zuerst nur leise andeutete, bis ich
sie in dem Maturitätsaufsatze in die lauten Worte kleiden konnte,
ich wollte in meinem Leben zu unserem menschlichen Wissen einen
Beitrag leisten.
Ich bin dann Arzt geworden, aber eigentlich doch eher
Psychologe, und konnte eine neue psychologische Disziplin schaffen,
die sogenannte **„Psychoanalyse“**, welche gegenwärtig Ärzte und
Forscher in nahen wie in fernen fremdsprachigen Ländern in Atem
hält und zu Lob und Tadel aufregt, die des eigenen Vaterlandes
natürlich am geringsten.
Als Psychoanalytiker muß ich mich mehr für affektive als für
intellektuelle Vorgänge, mehr für das unbewußte als für das be-
wußte Seelenleben interessieren. Meine Ergriffenheit bei der Be-
gegnung mit meinem früheren Gymnasialprofessor mahnt mich, ein
erstes Bekenntnis abzulegen: Ich weiß nicht, was uns stärker in
Anspruch nahm und bedeutsamer für uns wurde, die Beschäftigung
mit den uns vorgetragenen Wissenschaften oder die mit den Per-
sönlichkeiten unserer Lehrer. Jedenfalls galt den letzteren bei uns
allen eine niemals aussetzende Unterströmung, und bei vielen führte
der Weg zu den Wissenschaften nur über die Personen der Lehrer;
manche blieben auf diesem Wege stecken, und einigen ward er
auf solche Weise – warum sollen wir es nicht eingestehen? –
dauernd verlegt.
Wir warben um sie oder wandten uns von ihnen ab, imagi-
nierten bei ihnen Sympathien und Antipathien, die wahrscheinlich
nicht bestanden, studierten ihre Charaktere und bildeten oder ver-
bildeten an ihnen unsere eigenen. Sie riefen unsere stärksten Affek-
tathungen hervor und zwangen uns zur vollständigsten Unter-
werfung; wir spähten nach ihren kleinen Schwächen und waren
stolz auf ihre großen Vorzüge, ihr Wissen und ihre Gerechtigkeit.
Im Grunde liebten wir sie sehr, wenn sie uns irgendeine Be-
gründung dazu gaben; ich weiß nicht, ob alle unsere Lehrer dies
bemerkt haben. Aber es ist nicht zu leugnen, wir waren in einer
ganz besonderen Weise gegen sie eingestellt, in einer Weise, die
ihre Unbequemlichkeiten für die Betroffenen haben mochte. Wir
waren von vornherein gleich geneigt zur Liebe wie zum Haß, zur
Kritik wie zur Verehrung gegen sie. Die Psychoanalyse nennt eineS.
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solche Bereitschaft zu gegensätzlichem Verhalten eine ambivalente;
sie ist auch nicht verlegen, die Quelle einer solchen Gefühlsambi-
valenz nachzuweisen.Sie hat uns nämlich gelehrt, daß die für das spätere Ver-
halten des Individuums so überaus wichtigen Affekteinstellungen
gegen andere Personen in ungeahnt früher Zeit fertig gemacht
werden. Schon in den ersten sechs Jahren der Kindheit hat der
kleine Mensch die Art und den Affektsinn seiner Beziehungen zu
Personen des nämlichen und des anderen Geschlechts festgelegt,
er kann sie von da an entwickeln und nach bestimmten Rich-
tungen umwandeln, aber nicht mehr aufheben. Die Personen,
an
welche er sich in solcher Weise fixiert, sind seine Eltern und Ge-
schwister. Alle Menschen, die er später kennen lernt, werden ihm
zu Ersatzpersonen dieser ersten Gefühlsobjekte (etwa noch der
Pflegepersonen neben den Eltern) und ordnen sich für ihn in
Reihen an, die von den „Imaginés“, wie wir sagen, des Vaters,
der Mutter, der Geschwister usw. ausgehen. Diese späteren Bekannt-
schaften haben also eine Art von Gefühlserbschaft zu übernehmen,
sie stoßen auf Sympathien und Antipathien, zu deren Erwerbung
sie selbst nur wenig beigetragen haben; alle spätere Freundschafts-
und Liebeswahl erfolgt auf Grund von Erinnerungsspuren, welche
jene ersten Vorbilder hinterlassen haben.Von den Imaginés einer gewöhnlich nicht mehr im Gedächtnis
bewahrten Kindheit ist aber keine für den Jüngling und Mann be-
deutungsvoller als die seines Vaters. Organische Notwendigkeit hat
in dies Verhältnis eine Gefühlsambivalenz eingeführt, als deren er-
greifendsten Ausdruck wir den griechischen Mythus vom König
Oedipus erfassen können. Der kleine Knabe muß seinen Vater
lieben und bewundern, er scheint ihm das stärkste, gütigste und
weiseste aller Geschöpfe; ist doch Gott selbst nur eine Erhöhung
dieses Vaterbildes, wie es sich dem frühkindlichen Seelenleben
darstellt. Aber sehr bald tritt die andere Seite dieser Gefühlsrelation
hervor. Der Vater wird auch als der übermächtige Störer des
eigenen Trieblebens erkannt, er wird zum Vorbild, das man nicht
nur nachahmen, sondern auch beseitigen will, um seine Stelle selbst
einzunehmen. Die zärtliche und die feindselige Regung gegen den
Vater bestehen nun nebeneinander fort, oft durchs ganze Leben
hindurch, ohne daß die eine die andere aufheben könnte. In einem
solchen Nebeneinander der Gegensätze liegt der Charakter dessen,
was wir eine Gefühlsambivalenz heißen.In der zweiten Hälfte der Kindheit bereitet sich eine Ver-
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änderung dieses Verhältnisses zum Vater vor, deren Bedeutung
man sich nicht großartig genug vorstellen kann. Der Knabe be-
ginnt aus seiner Kinderstube in die reale Welt draußen zu schauen,
und nun muß er die Entdeckungen machen, welche seine ursprüng-
liche Hochschätzung des Vaters untergraben und seine Ablösung
von diesem ersten Ideal befördern. Er findet, daß der Vater nicht
mehr der Mächtigste, Weiseste, Reichste ist, er wird mit ihm un-
zufrieden, lernt ihn kritisieren und sozial einordnen und läßt
ihn
dann gewöhnlich schwer für die Enttäuschung büßen, die jener
ihm bereitet hat. Alles Hoffnungsvolle, aber auch alles Anstößige,
was die neue Generation auszeichnet hat diese Ablösung vom
Vater zur Bedingung.In dieser Phase der Entwicklung des jungen Menschen fällt
sein Zusammentreffen mit den Lehrern. Wir verstehen jetzt unser
Verhältnis zu unseren Gymnasialprofessoren. Diese Männer, die
nicht einmal alle selbst Väter waren, wurden uns zum Vaterersatz.
Darum kamen sie uns, auch wenn sie noch sehr jung waren, so
gereift, so unerreichbar erwachsen vor. Wir übertrugen auf sie
den Respekt und die Erwartungen von dem allwissenden Vater
unserer Kindheitsjahre und dann begannen wir, sie zu behandeln
wie unsere Väter zu Hause. Wir brachten ihnen die Ambivalenz
entgegen, die wir in der Familie erworben hatten, und mit Hilfe
dieser Einstellung ringen wir mit ihnen, wie wir mit unseren
leiblichen Vätern zu ringen gewohnt waren. Ohne Rücksicht auf
die Kinderstube und das Familienhaus wäre unser Benehmen
gegen
unsere Lehrer nicht zu verstehen, aber auch nicht zu entschuldigen.Noch andere und kaum weniger wichtige Erlebnisse hatten
wir als Gymnasiasten mit den Nachfahren unserer Geschwister, mit
unseren Kameraden, aber diese sollen auf einem anderen Blatt be-
schrieben werden. Das Jubiläum der Schule hält unsere Gedanken
bei den Lehrern fest.***
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