Zur Psychologie des Gymnasiasten 1914-005/1928
  • S.

    ZUR PSYCHOLOGIE DES GYMNASIASTEN

    Erschien im Oktober 1914 in der Fest-
    schrift, die das „K. k. Erzherzog-Rainer-
    Realgymnasium“ in Wien (ehemals „Leopold-
    städter Communal-Real- und Obergymnasium“,
    heute „Bundesrealgymnasium im II. Bezirk“)
    anläßlich der Vollendung des fünfzigsten
    Jahres seines Bestehens veröffentlichte. (Der
    Verfasser war Schüler der genannten Anstalt
    gewesen.)

    Man hat ein sonderbares Gefühl, wenn man in so vorgerückten Jahren
    noch einmal den Auftrag erhält, einen „deutschen Aufsatz“ für das Gymna-
    sium zu schreiben. Man gehorcht aber automatisch wie jener ausgediente
    Soldat, der auf das Kommando „Halt Acht!“ die Hände an die Hosennäht
    anlegen und seine Päckchen zu Boden fallen lassen muß. Es ist merk-
    würdig, wie bereitwillig man zugesagt hat, als ob sich in dem letzten
    Halbjahrhundert nichts Besonderes geändert hätte. Man ist doch alt ge-
    worden seither, steht knapp vor dem sechzigsten Lebensjahr, und Körper-
    gefühl wie Spiegel zeigen unzweideutig an, wieviel man von seinem
    Lebenslicht bereits heruntergebrannt hat. 
     

    Noch vor zehn Jahren etwa konnte man Momente haben, in denen man
    sich plötzlich wieder ganz jung fühlte. Wenn man, bereits graubärtig und
    mit allen Lasten einer bürgerlichen Existenz beladen, durch die Straßen
    der Heimatstadt ging, begegnete man unversehens dem einen oder anderen
    wohlerhaltenen älteren Herrn, den man fast demütig begrüßte, weil man
    einen seiner Gymnasiallehrer in ihm erkannt hatte. Dann aber blieb man
    stehen und sah ihnen persönlich nach: Ist er das wirklich, oder nur jemand,
    der ihnen so täuschend ähnlich ist? Wie jugendlich sieht er doch aus und
    du bist selbst so alt geworden! Wie alt mag er heute wohl sein? Ist es

  • S.

    288                                                                 Vermischte Schriften

    möglich, daß diese Männer, die uns damals die Erwachsenen repräsentierten,
    um so weniger alt waren als wir? 
     

    Die Gegenwart war dann wie verdunkelt und die Lebensjahre von zehn
    bis achtzehn stiegen aus den Winkeln des Gedächtnisses empor mit ihren
    Ahnungen und Irrungen, ihren schmerzhaften Umbildungen und beseligen-
    den Erfolgen, die ersten Einblicke in eine untergegangene Kulturwelt, die
    wenigstens mir später ein unübertroffener Trost in den Kämpfen des Lebens
    werden sollte, die ersten Berührungen mit den Wissenschaften, unter denen
    man glaubte wählen zu können, welcher man seine – sicherlich unschätz-
    baren – Dienste weihen würde. Und ich glaube mich zu erinnern, daß
    die ganze Zeit von der Ahnung einer Aufgabe durchzogen war, die sich
    zuerst nur leise andeutete, bis ich sie in dem Maturitätsaufsatze in die
    lauten Worte kleiden konnte: ich wollte in meinem Leben zu unserem
    menschlichen Wissen einen Beitrag leisten. 
     

    Ich bin dann Arzt geworden, aber eigentlich doch eher Psychologe, und
    konnte eine neue psychologische Disziplin schaffen, die sogenannte „Psycho-
    analyse“, welche gegenwärtig Ärzte und Forscher in nahen wie in fernen
    fremdsprachigen Ländern in Atem hält und zu Lob und Tadel aufregt, die
    des eigenen Vaterlandes natürlich am geringsten. 
     

    Als Psychoanalytiker muß ich mich mehr für affektive als für intellek-
    tuelle Vorgänge, mehr für das Unbewußte als für das bewußte Seelenleben
    interessieren. Meine Ergriffenheit bei der Begegnung mit meinem früheren
    Gymnasialprofessor mahnt mich, ein erstes Bekenntnis abzulegen: Ich weiß
    nicht, was uns stärker in Anspruch nahm und bedeutsamer für uns wurde,
    die Beschäftigung mit den uns vorgetragenen Wissenschaften oder die mit
    den Persönlichkeiten unserer Lehrer. Jedenfalls galt den letzteren bei uns
    allen eine niemals aussetzende Unterströmung und bei vielen führte der
    Weg zu den Wissenschaften nur über die Personen der Lehrer; manche
    blieben auf diesem Weg stecken und einigen ward er auf solche Weise
    – warum sollen wir es nicht eingestehen? – dauernd verlegt. 
     

    Wir warben um sie oder wandten uns von ihnen ab, imaginierten bei
    ihnen Sympathien oder Antipathien, die wahrscheinlich nicht bestanden,
    studierten ihre Charaktere und bildeten oder verbildeten an ihnen unsere
    eigenen. Sie riefen unsere stärksten Affenhungen hervor und zwangen uns
    zur vollständigen Unterwerfung; wir spähten nach ihren kleinen Schwächen
    und waren stolz auf ihre großen Vorzüge, ihr Wissen und ihre Gerechtig-
    keit. Im Grunde liebten wir sie sehr, wenn sie uns irgendeine Begründung
    dazu gaben; ich weiß nicht, ob alle unsere Lehrer dies bemerkt haben.

  • S.

    Zur Psychologie des Gymnasiasten                                                                                                                                                      289

    Aber es ist nicht zu leugnen, wir waren in einer ganz besonderen Weise
    gegen sie eingestellt, in einer Weise, die ihre Unbequemlichkeiten für die
    Betroffenen haben mochte. Wir waren von vornherein gleich geneigt zur
    Liebe wie zum Haß, zur Kritik wie zur Verehrung gegen sie. Die Psycho-
    analyse nennt eine solche Bereitschaft zu gegensätzlichem Verhalten eine
    ambivalente; sie ist auch nicht verlegen, die Quelle einer solchen Gefühls-
    ambivalenz nachzuweisen. 
     

    Sie hat uns nämlich gelehrt, daß die für das spätere Verhalten des
    Individuums so überaus wichtigen Affekteinstellungen gegen andere Personen
    in ungeahnt früher Zeit fertig gemacht werden. Schon in den ersten sechs
    Jahren der Kindheit hat der kleine Mensch die Art und den Affektsinn
    seiner Beziehungen zu Personen des nämlichen und des anderen Geschlechts
    festgelegt, er kann sie von da an entwickeln und nach bestimmten Richtun-
    gen umwandeln, aber nicht mehr aufheben. Die Personen, an welche er sich
    in solcher Weise fixiert, sind seine Eltern und Geschwister. Alle
    Menschen, die er später kennen lernt, werden ihm zu Ersatzpersonen dieser
    ersten Gefühlsobjekte (etwa noch der Pflegepersonen neben den Eltern)
    und ordnen sich für ihn in Reihen an, die von den „Imaginés“, wie wir
    sagen, des Vaters, der Mutter, der Geschwister usw. ausgehen. Diese späteren
    Bekanntschaften haben also eine Art von Gefühlserbschaft zu übernehmen,
    sie stoßen auf Sympathien und Antipathien, zu deren Erwerbung sie selbst
    nur wenig beigetragen haben; alle spätere Freundschafts- und Liebeswahl
    erfolgt auf Grund von Erinnerungsspuren, welche jene ersten Vorbilder
    hinterlassen haben. 
     

    Von den Imaginés einer gewöhnlich nicht mehr im Gedächtnis bewahrten
    Kindheit ist aber keine für den Jüngling und Mann bedeutungsvoller als
    die seines Vaters. Organische Notwendigkeit hat in dies Verhältnis eine
    Gefühlsambivalenz eingeführt, als deren ergreifendsten Ausdruck wir den
    griechischen Mythus vom König Ödipus erfassen können. Der kleine Knabe
    muß seinen Vater lieben und bewundern, er schemat ihm das stärkste,
    gütigste und weiseste aller Geschöpfe, ist doch Gott selbst nur eine Er-
    höhung dieses Vaterbildes, wie es sich dem frühkindlichen Seelenleben dar-
    stellt. Aber sehr bald tritt die andere Seite dieser Gefühlsrelation hervor.
    Der Vater wird auch als der übermächtige Störer des eigenen Trieblebens
    erkannt, er wird zum Vorbild, das man nicht nur nachahmen, sondern
    auch beseitigen will, um seine Stelle selbst einzunehmen. Die zärtliche
    und die feindselige Regung gegen den Vater bestehen nun nebeneinander
    fort, oft durch das ganze Leben hindurch, ohne daß die eine die andere

    19 
     

  • S.

    290                                                                 Vermischte Schriften

    aufheben könnte. In einem solchen Nebeneinander der Gegensätze liegt der
    Charakter dessen, was wir eine Gefühlsambivalenz heißen. 
     

    In der zweiten Hälfte der Kindheit bereitet sich eine Veränderung dieses
    Verhältnisses zum Vater vor, deren Bedeutung man sich nicht großartig
    genug vorstellen kann. Der Knabe beginnt aus seiner Kinderstube in die
    reale Welt draußen zu schauen, und nun muß er die Entdeckungen machen,
    welche seine ursprüngliche Hochschätzung des Vaters untergraben und seine
    Ablösung von diesem ersten Ideal befördern. Er findet, daß der Vater nicht
    mehr der Mächtigste, Weiseste, Reichste ist, er wird mit ihm unzufrieden,
    lernt ihn kritisieren und sozial einordnen und läßt ihn dann gewöhnlich
    schwer für die Enttäuschung büßen, die jener ihm bereitet hat. Alles
    Hoffnungsvolle, aber auch alles Anstößige, was die neue Generation aus-
    zeichnet, hat diese Ablösung vom Vater zur Bedingung. 
     

    In dieser Phase der Entwicklung des jungen Menschen fällt sein Zusammen-
    treffen mit den Lehrern. Wir verstehen jetzt unser Verhältnis zu unseren
    Gymnasialprofessoren. Diese Männer, die nicht einmal alle selbst Väter
    waren, wurden uns zum Vaterersatz. Darum kamen sie uns, auch wenn
    sie noch sehr jung waren, so gereift, so unerreichbar erwachsen vor. Wir
    übertrugen auf sie den Respekt und die Erwartungen von dem allwissenden
    Vater unserer Kindheitsjahre und dann begannen wir, sie zu behandeln wie
    unsere Väter zu Hause. Wir brachten ihnen die Ambivalenz entgegen, die
    wir in der Familie erworben hatten, und mit Hilfe dieser Einstellung
    rangen wir mit ihnen, wie wir mit unseren leiblichen Vätern zu ringen
    gewohnt waren. Ohne Rücksicht auf die Kinderstube und das Familienhaus
    wäre unser Benehmen gegen unsere Lehrer nicht zu verstehen, aber auch
    nicht zu entschuldigen. 
     

    Noch andere und kaum weniger wichtige Erlebnisse hatten wir als
    Gymnasiasten mit den Nachfahren unserer Geschwister, mit unseren Kame-
    raden, aber diese sollen auf einem anderen Blatt beschrieben werden. Das
    Jubiläum der Schule hält unsere Gedanken bei den Lehrern fest.