Zur Selbstmord-Diskussion der Wiener Psychoanalytischer Vereinigung 1910-061/1931
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    Zur Selbstmord-Diskussion 309

    ZUR SELBSTMORD-DISKUSSION

    DER WIENER PSYCHOANALYTISCHEN VEREINIGUNG

    (1919)

    Zur Einleitung

    Meine Herren! Sie haben alle mit hoher Befriedigung das
    Plaidoyer des Schulmannes gehört, der die ihm teure Institution
    nicht unter dem Drucke einer ungerechtfertigten Anklage lassen
    will. Ich weiß aber, Sie waren ohnedies nicht geneigt, die
    Beschuldigung, daß die Schule ihre Schüler zum Selbstmord treibe,
    leichthin für glaubwürdig zu halten. Lassen wir uns indes durch
    die Sympathie fiir den Teil, dem hier unrecht geschehen ist, nicht
    zu weit fortreiBen。 Nicht alle Argumente des Herrn Vorredners
    erscheinen mir stichhaltig. Wenn die Jugendselbstmorde nicht bloß
    die Mittelschüler, sondern auch Lehrlinge u. a. betreffen, so spricht
    dieser Umstand an sich die Mittelschule nicht frei; er erfordert
    vielleicht die Deutung, daß die Mittelschule ihren Zôglingen die
    Traumen ersetzt, welche andere Adoleszenten in ihren anderen
    Lebensbedingungen finden. Die Mittelschule soll aber mehr leisten,
    als daß sie die jungen Leute nicht zum Selbstmord treibt; sie soll
    ihnen Lust zum Leben machen und ihnen Stütze und Anhalt
    bieten in einer Lebenszeit, da sie durch die Bedingungen ihrer
    Entwicklung genötigt werden, ihren Zusammenhang mit dem
    elterlichen Hause und ihrer Familie zu lockern. Es scheint mir
    unbestreitbar, daß sie dies nicht tut, und daß sie in vielen Punkten
    hinter ihrer Aufgabe zuriickbleibr, Ersatz für die Familie zu
    bieten und Interesse fiir das Leben draußen in der Welt zu
    erwecken. Es ist hier nicht die Gelegenheit zu einer Kritik der
    Mittelschule in ihrer gegenwirtigen Gestaltung. Vielleicht darf ich
    aber ein einziges Argument herausheben. Die Schule darf nie ver-
    gessen, daß sie es mit noch unreifen Individuen zu tun hat, denen
    ein Recht auf Verweilen in gewissen, selbst unerfreulichen Ent-
    wicklungsstadien nicht abzusprechen ist. Sie darf nicht die Un-

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    310 Zur Selbstmord-Diskussion

    erbittlichkeit des Lebens für sich in Anspruch nehmen, darf nicht
    mehr sein wollen als ein Lebensspiel.

    Schlußwort

    Meine Herren, ich habe den Eindruck, daß wir trotz all des
    wertvollen Materials, das hier vorgebracht wurde, zu einer Ent-
    scheidung über das uns interessierende Problem nicht gelangt sind.
    Wir wollten vor allem wissen, wie es möglich wird, den so außer-
    ordentlich starken Lebenstrieb zu überwinden, ob dies nur mit
    Hilfe der enttäuschten Libido gelingen kann, oder ob es einen
    Verzicht des Ichs auf seine Behauptung aus eigenen Ichmotiven
    gibt. Die Beantwortung dieser psychologischen Frage konnte uns
    vielleicht darum nicht gelingen, weil wir keinen guten Zugang
    zu ihr haben. Ich meine, man kann hier nur von dem klinisch
    bekannten Zustand der Melancholie und von deren Vergleich mit
    dem Affekt der Trauer ausgehen. Nun sind uns aber die Affekt-
    vorgänge bei der Melancholie, die Schicksale der Libido in diesem
    Zustande, völlig unbekannt, und auch der Daueraffekt des Trauerns
    ist psychoanalytisch noch nicht verständlich gemacht worden. Ver-
    zögern wir also unser .Urteil, bis die Erfahrung diese Aufgabe
    gelöst hat.

    EINLEITUNG

    zu ZUR PSYCHOANALYSE DER KRIEGSNEUROSEN.
    Diskussion auf dem V. Internationalen Psyhoanalytischen Kongreß
    in Budapest, 28. und 20. September 1918. Beiträge von Freud,
    Ferenczi, Abraham, Simmel, Jones. Internationaler Psydioanaly-
    tischer Verlag, Wien.
    (1918)
    Das Büchlein über die Kriegsneurosen, mit dem der Verlag die
    „Internationale Psychoanalytische Bibliothek" eröffnet, behandelt

    ein Thema, welches bis vor kurzem den Vorzug der höchsten
    Aktualität. genof. Als dasselbe auf dem V. Psychoanalytischen