Zur sexuellen Aufklärung der Kinder 1907-003/1931
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    ZUR SEXUELLEN AUFKLARUNG
    DER KINDER

    Offener Brief an Dr. M. Fürst
    (1997)
    Geehrter Herr Kollege!

    Wenn Sie von mir eine Außerung über die „sexuelle Auf-
    klårung der Kinder verlangen, so nehme ich an, daß Sie
    keine regelrechte und fórmliche Abhandlung mit Beriicksichti-
    gung der ganzen, über Gebühr angewachsenen Literatur er-
    warten, sondern das selbständige Urteil eines einzelnen Arztes
    hören wollen, dem seine Berufstätigkeit besondere Anregung
    geboten hat, sich mit den sexuellen Problemen zu beschäftigen.
    Ich weiß, daß Sie meine wissenschaftlichen Bemühungen mit
    Interesse verfolgt haben und mich nicht wie viele andere
    Kollegen darum ohne Prüfung abweisen, weil ich in der
    psychosexuellen Konstitution und in Schädlichkeiten des Sexual-
    lebens die wichtigsten Ursachen der so häufigen neurotischen
    Erkrankungen erblicke; auch meine „Drei Abhandlungen zur
    Sexualtheorie“, in denen ich die Zusammensetzung des Ge-
    schlechtstriebes und die Störungen in der Entwicklung des
    Geschlechtstriebes zur Sexualfunktion darlege, haben kürzlich
    eine freundliche Erwähnung in Ihrer Zeitschrift gefunden.

    Ich soll Ihnen also die Fragen beantworten, ob man den
    Kindern überhaupt Aufklärungen über die "Tatsachen des
    Geschlechtslebens geben darf, in welchem Alter dies ge-

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    schehen kann und in welcher Weise. Nehmen Sie nun gleich
    zu Anfang mein Geständnis entgegen, daß ich eine Dis-
    kussion über den zweiten und dritten Punkt ganz begreiflich

    . finde, daß es aber für meine Einsicht völlig unfaßbar ist, wie

    der erste dieser Fragepunkte ein Gegenstand von Meinungs-
    verschiedenheit werden konnte. Was will man denn erreichen,
    wenn man den Kindern — oder sagen wir der Jugend —
    solche Aufklirungen über das menschliche Geschlechtsleben
    vorenthålt? Fiirchtet man, ihr Interesse fiir diese Dinge vor-
    zeitig zu wecken, che es sich in ihnen selbst regt? Hofft man,
    durch solche Verhehlung den Geschlechtstrieb überhaupt
    zuriickzuhalten bis zur Zeit, da er in die ihm von der biirger-
    lichen Gesellschaftsordnung allein geöffneten Bahnen einlenken
    kann? Meint man, daß die Kinder fiir die Tatsachen und
    Ritsel des Geschlechtslebens kein Interesse oder kein Ver-
    stindnis zeigten, wenn sie nicht von fremder Seite darauf
    hingewiesen würden? Hilt man es fiir möglich, daß ihnen die
    Kenntnis, welche man ihnen versagt, nicht auf anderen Wegen
    zugeführt wird? Oder verfolgt man wirklich und ernsthaft die
    Absicht, daß sie späterhin alles Geschlechtliche als etwas
    Niedriges und Verabscheuenswertes beurteilen mögen, von dem
    ihre Eltern und Erzieher sie so lange als möglich fernhalten
    wollten?

    Ich weiß wirklich nicht, in welcher dieser Absichten ich
    das Motiv fiir das tatsächlich geübte Verstecken des Sexuellen
    vor den Kindern erblicken soll; ich weiß nur, daß sie alle
    gleich tôricht sind, und daß es mir schwer fällt, sie durch
    ernsthafte Widerlegungen auszuzeichnen. Ich erinnere mich
    aber, daß ich in den Familienbriefen des großen Denkers
    und Menschenfreundes Multatuli einige Zeilen gefunden
    habe, die als Antwort mehr als bloß genügen kënnen.!

    1) Multatuli-Briefe, herausgegeben von W. Spohr, 1906,
    Bd. I, S. 26.

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    der Kinder 9

    „Im allgemeinen werden einzelne Dinge nach meinem
    Gefühl zu sehr umschleiert. Man tut recht, die Phantasie der
    Kinder reinzuhalten, aber diese Reinheit wird nicht bewahrt
    durch Unwissenheit. Ich glaube eher, daß das Verdecken von
    etwas den Knaben und das Mädchen um so mehr die Wahrheit
    argwöhnen läßt. Man spürt aus Neugierde Dingen nach, die
    uns, wenn sie uns ohne viel Umstände mitgeteilt würden,
    wenig oder kein Interesse einflößen würden. Wäre diese Un-
    wissenheit noch zu bewahren, so könnte ich mich damit ver-
    söhnen, aber das ist nicht möglich; das Kind kommt in Be-
    rührung mit anderen Kindern, es bekommt Bücher in die
    Hände, die es zum Nachdenken bringen; gerade die Geheim-
    tuerei, womit das dennoch Begriffene von den Eltern behandelt
    wird, erhöht das Verlangen, mehr zu wissen. Dieses Verlangen,
    nur zum Teil, nur heimlich befriedigt, erhitzt das Herz und
    verdirbt die Phantasie, das Kind sündigt bereits, und die
    Eltern meinen noch, daß es nicht weiß, was Sünde ist.“

    Ich weiß nicht, was man hierüber Besseres sagen könnte,
    aber vielleicht 1406 sich einiges hinzufügen. Es ist gewiß nichts
    anderes als die gewohnte Prüderie und das eigene schlechte
    Gewissen in Sachen der Sexualität, was die Erwachsenen zur
    »Geheimtuerei^ vor den Kindern veranlaßt; aber möglicher-
    weise wirkt da auch ein Stück theoretischer Unwissenheit mit,
    dem man durch die Aufklärung der Erwachsenen entgegen-
    treten kann. Man meint nämlich, daß den Kindern der Ge-
    schlechtstrieb fehle und sich erst zur Pubertätszeit mit der
    Reife der Geschlechtsorgane bei ihnen einstelle. Das ist ein
    grober, für die Kenntnis wie für die Praxis folgenschwerer
    Irrtum. Es ist so leicht, ihn durch die Beobachtung zu kor-
    rigieren, daß man sich verwundern muß, wie er überhaupt
    entstehen konnte. In Wahrheit bringt das Neugeborene
    Sexualität mit auf die Welt, gewisse Sexualempfindungen
    begleiten seine Entwicklung durch die Säuglings- und Kinder-

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    10 Zur sexuellen Aufklirung

    zeiten, und die wenigsten Kinder dürften sexuellen Betiti-
    gungen und Empfindungen vor ihrer Pubertit entgehen. Wer
    die ausführliche Darlegung dieser Behauptungen kennen-
    lernen will, möge sie in meinen erwähnten „Drei Abhand-
    lungen zur Sexualtheorie (Wien 1905) aufsuchen. Er wird
    dort erfahren, daß die eigentlichen Reproduktionsorgane nicht
    die einzigen Körperteile sind, welche sexuelle Lustemp-
    findungen vermitteln, und daß die Natur es recht zwingend so
    eingerichtet hat, daß selbst Reizungen der Genitalien während
    der Kinderzeit unvermeidlich sind. Man bezeichnet diese
    Lebenszeit, in welcher durch die Erregung verschiedener Haut-
    stellen (erogener Zonen), durch die Betitigung gewisser
    biologischer Triebe und als Miterregung bei vielen affektiven
    Zustinden ein gewisser Betrag von sicher sexueller Lust erzeugt
    wird, mit einem von Havelock Ellis eingeführten Aus-
    drucke als die Periode des Autoerotismus. Die Pubertit
    leistet nichts anderes, als daß sie unter allen lusterzeugenden
    Zonen und Quellen den Genitalien das Primat verschafft und
    dadurch die Erotik in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion
    zwingt, ein Prozeß, der natürlich gewissen Hemmungen unter-
    liegen kann und sich bei vielen Personen, den späteren Per-
    versen und Neurotikern, nur in unvollkommener Weise voll-
    zieht. Anderseits ist das Kind der meisten psychischen
    Leistungen des Liebeslebens (der Zärtlichkeit, der Hingebung,
    der Eifersucht) lange vor erreichter Pubertät fähig, und oft
    genug stellt sich auch der Durchbruch dieser seelischen Zustände
    zu den körperlichen Empfindungen der Sexualerregung her,
    so daß das Kind über die Zusammengehörigkeit der beiden
    nicht in Zweifel bleiben kann. Kurz gesagt, das Kind ist
    lange vor der Pubertät ein bis auf die Fortpflanzungs-
    fähigkeit fertiges Liebeswesen, und man darf es aussprechen,
    daß man ihm mit jener „Geheimtuerei“ nur die Fähigkeit
    zur intellektuellen Bewältigung solcher Leistungen vorent-

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    hält, fiir die es psychisch vorbereitet und somatisch ein-
    gestellt ist.

    Das intellektuelle Interesse des Kindes fiir die Råtsel des
    Geschlechtslebens, seine sexuelle Wifbegierde äußert sich denn
    auch zu einer unvermutet frühen Lebenszeit. Es muß wohl so
    zugehen, daß die Eltern fiir dieses Interesse des Kindes wie
    mit Blindheit geschlagen sind oder sich sofort bemiihen, es
    zu ersticken, falls sie es nicht übersehen können, wenn Beob-
    achtungen wie die nun mitzuteilende nicht håufiger gemacht
    werden können. Ich kenne da einen prächtigen Jungen von
    jetzt vier Jahren, dessen verstindige Eltern darauf verzichten,
    ein Stück der Entwicklung des Kindes gewaltsam zu unter-
    drücken. Der kleine Hans, der sicherlich keinem verführenden
    Einflusse von seiten einer Warteperson unterlegen ist, zeigt
    schon seit einiger Zeit das lebhafteste Interesse fiir jenes Stiick
    seines Körpers, das er als ,, Wiwimacher“ zu bezeichnen pflegt.
    Schon mit drei Jahren hat er die Mutter gefragt: ,Mama,
    hast du auch einen Wiwimacher?" Worauf die Mama ge-
    antwortet: „Natürlich, was hast du denn gedacht?“ Dieselbe
    Frage hat er zu wiederholten Malen an den Vater gerichtet.
    Im selben Alter zuerst in einen Stall gefiihrt, hat er beim
    Melken einer Kuh zugeschaut und dann verwundert aus-
    gerufen: „Schau, aus dem Wiwimacher kommt Milch.“ Mit
    dreidreiviertel Jahren ist er auf dem Wege, durch seine Beob-
    achtungen selbståndig richtige Kategorien zu entdecken. Er
    sieht, wie aus einer Lokomotive Wasser ausgelassen wird und
    sagt: ,,Schau, die Lokomotive macht Wiwi; wo hat sie denn
    den Wiwimacher?" Später setzt er nachdenklich hinzu: „Ein
    Hund und ein Pferd hat einen Wiwimacher; ein Tisch und ein
    Sessel nicht.“ Vor kurzem hat er zugesehen, wie man sein
    einwöchiges Schwesterchen badet, und dabei bemerkt: „Aber
    ihr Wiwimacher ist noch klein. Wenn sie wächst, wird er schon
    größer werden.“ (Dieselbe Stellung zum Problem der Ge-

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    12 Zur sexuellen Aufklärung

    schlechtsunterschiede ist mir auch von anderen Knaben gleichen
    Alters berichtet worden.) Ich möchte ausdrücklich bestreiten,
    daß der kleine Hans ein sinnliches oder gar ein pathologisch
    veranlagtes Kind sei; ich meine nur, er ist nicht eingeschüchtert
    worden, wird nicht vom Schuldbewußtsein geplagt und gibt
    darum arglos von seinen Denkvorgängen Kunde.?

    Das zweite große Problem, welches dem Denken der Kinder
    — wohl erst in etwas späteren Jahren — Aufgaben stellt, ist
    die Frage nach der Herkunft der Kinder, die zumeist an die
    unerwünschte Erscheinung eines neuen kleinen Bruders oder
    Schwesterchens anknüpft. Es ist dies die älteste und die bren-
    nendste Frage der jungen Menschheit; wer Mythen und Uber-
    lieferungen zu deuten versteht, kann sie aus dem Råtsel
    heraushóren, welches die thebaische Sphinx dem Odipus auf-
    gibt. Durch die in der Kinderstube gebråuchlichen Antworten
    wird der ehrliche Forschertrieb des Kindes verletzt, meist auch
    dessen Vertrauen zu seinen Eltern zum erstenmal erschüttert;
    von da an beginnt es zumeist den Erwachsenen zu mißtrauen
    und seine intimsten Interessen vor ihnen geheimzuhalten. Ein
    kleines Dokument mag zeigen, wie quälend sich gerade diese
    Wißbegierde oft bei älteren Kindern gestaltet, der Brief eines
    mutterlosen, elfeinhalbjährigen Mädchens, welches über das
    Problem mit seiner jüngeren Schwester spekuliert hat:

    „Liebe Tante Mali!“

    „Ich bitte Dich, sei so gut und schreibe mir, wie Du die Christel
    oder den Paul bekommen hast. Du mußt es ja wissen, da Du ver-
    heiratet bist. Wir haben uns nämlich gestern abend darüber ge-
    stritten und wünschen die Wahrheit zu wissen. Wir haben ja sonst
    niemanden, den wir fragen könnten. Wann kommt Ihr denn nach
    Salzburg? Weißt Du, liebe Tante Mali, wir können halt nicht be-
    greifen, wie der Storch die Kinder bringt. Trudel hat geglaubt, der

    2) [Zusatz 1924:] Über die spätere neurotische Erkrankung und
    Herstellung dieses „kleinen Hans“ siehe „Analyse der Phobie eines
    fünfjährigen Knaben“ [Ges. Schriften, Bd. VIII].

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    Storch bringt sie im Hemde. Dann möchten wir auch wissen, ob er

    sie aus dem Teiche nimmt und warum man die Kinder nie im

    Teich sieht. Ich bitte Dich, sag’ mir auch, wieso man vorher weiß,

    wann man sic bekommt. Schreibe mir darüber ausführlich Antwort.
    Mit tausend Grüßen und Küssen von uns allen

    Deine neugierige Lilli.“

    Ich glaube nicht, daß dieser rührende Brief den beiden
    Schwestern die geforderte Aufklärung brachte. Die Schreiberin
    ist später an jener Neurose erkrankt, die sich von unbeant-
    worteten unbewußten Fragen ableitet, an Zwangsgriibelsucht.*

    Ich glaube nicht, daß nur ein einziger Grund vorliegt, um
    Kindern die Aufklärung, nach der ihre Wißbegierde verlangt,
    zu verweigern. Freilich, wenn es die Absicht der Erzieher ist,
    die Fähigkeit der Kinder zum selbständigen Denken möglichst
    frühzeitig zugunsten der so hochgeschätzten ,,Bravheit“ zu er-
    sticken, so kann dies nicht besser als durch Irreführen auf
    sexuellem und durch Einschüchterung auf religiösem Gebiete
    versucht werden. Die stärkeren Naturen widerstehen allerdings
    diesen Beeinflussungen und werden zu Rebellen gegen die
    elterliche und später gegen jede andere Autorität. Erhalten
    die Kinder jene Aufklärungen nicht, um die sie sich an Altere
    gewendet haben, so quälen sie sich im geheimen mit dem
    Problem weiter und bringen Läsungsversuche zustande, in
    denen das geahnte Richtige auf die merkwürdigste Weise mit
    grotesk Unrichtigem vermengt ist, oder sie flüstern einander
    Mitteilungen zu, in welchen zufolge des Schuldbewußtseins
    der jugendlichen Forscher dem Sexualleben das Gepräge des
    Gräßlichen und Ekelhaften aufgedrückt wird. Diese kindlichen
    Sexualtheorien wären wohl einer Sammlung und Würdigung
    wert. Meist haben die Kinder von diesem Zeitpunkte an die
    einzig richtige Stellung zu den Fragen des Geschlechts ver-
    loren, und viele unter ihnen finden sie überhaupt nicht wieder,

    3) Die Grübelsucht machte aber nach Jahren einer Dementia
    praecox Platz.

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    14 Zur sexuellen Aufklärung

    Es scheint, daß die überwiegende Mehrheit männlicher und
    weiblicher Autoren, welche über die sexuelle Aufklärung der
    Jugend geschrieben haben, sich im bejahenden Sinn ent-
    scheiden. Aber aus dem Ungeschick der meisten Vorschläge,
    wann und wie dies zu geschehen hat, ist man versucht zu
    schließen, daß dies Zugeständnis den Betreffenden nicht leicht
    geworden ist. Ganz vereinzelt steht nach meiner Literatur-
    kenntnis jener reizende Aufklärungsbrief da, den eine Frau
    Emma Eckstein an ihren etwa zehnjährigen Sohn zu
    schreiben vorgibt. Wie man es sonst macht, daß man den
    Kindern die längste Zeit jede Kenntnis des Sexuellen vor-
    enthält, um ihnen dann einmal in schwülstig-feierlichen Worten
    eine auch nur halb aufrichtige Eröffnung zu schenken, die
    überdies meist zu spät kommt, das ist offenbar nicht ganz
    das Richtige. Die meisten Beantwortungen der Frage „wie sag’
    ich’s meinem Kinde?“ machen mir wenigstens einen so klåglichen
    Eindruck, daß ich vorziehen würde, wenn die Eltern sich über-
    haupt nicht um die Aufklärung bekümmern würden. Es kommt
    vielmehr darauf an, daß die Kinder niemals auf die Idee
    geraten, man wolle ihnen aus den Tatsachen des Geschlechts-
    lebens eher ein Geheimnis machen als aus anderem, was ihrem
    Verständnisse noch nicht zugänglich ist. Und um dies zu er-
    zielen, ist es erforderlich, daß das Geschlechtliche von allem
    Anfange an gleich wie anderes Wissenswerte behandelt werde.
    Vor allem ist es Aufgabe der Schule, der Erwähnung des
    Geschlechtlichen nicht auszuweichen, die großen Tatsachen der
    Fortpflanzung beim Unterrichte über die Tierwelt in ihre Be-
    deutung einzusetzen und sogleich zu betonen, daß der Mensch
    alles Wesentliche seiner Organisation mit den höheren Tieren
    teilt. Wenn dann das Haus nicht auf Denkabschreckung hin-
    arbeitet, wird es sich wohl öfter ereignen, was ich einmal in

    4) E. Eckstein, Die Sexualfrage in der Erziehung des Kindes.
    1904.

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    der Kinder 15

    einer Kinderstube belauscht habe, daß ein Knabe seinem
    jüngeren Schwesterchen vorhält: ,,Aber wie kannst du denken,
    daß der Storch die kleinen Kinder bringt. Du weißt ja, daß
    der Mensch ein Siugetier ist, und glaubst du denn, daß der
    Storch den anderen Säugetieren die Jungen bringt?“ Die
    Neugierde des Kindes wird dann nie einen hohen Grad er-
    reichen, wenn sie auf jeder Stufe des Lernens die ent-
    sprechende Befriedigung findet. Die Aufklärung über die
    spezifisch menschlichen Verhältnisse des Geschlechtslebens und
    der Hinweis auf die soziale Bedeutung desselben hätte sich
    dann am Schlusse des Volksschulunterrichtes (und vor Eintritt
    in die Mittelschule), also nicht nach dem Alter von zehn
    Jahren, anzuschließen. Endlich würde sich der Zeitpunkt der
    Konfirmation wie kein anderer dazu eignen, dem bereits über
    alles Körperliche aufgeklärten Kinde die sittlichen Ver-
    pflichtungen, welche an die Ausübung des Triebes geknüpft
    sind, darzulegen. Eine solche stufenweise fortschreitende und
    eigentlich zu keiner Zeit unterbrochene Aufklärung über das
    Geschlechtsleben, zu welcher die Schule die Initiative ergreift,
    erscheint mir als die einzige, welche der Entwicklung des
    Kindes Rechnung trägt und darum die vorhandene Gefahr
    glücklich vermeidet.

    Ich halte es für den bedeutsamsten Fortschritt in der Kinder-
    erziehung, daß der französische Staat an Stelle des Katechismus
    ein Elementarbuch eingeführt hat, welches dem Kinde die
    ersten Kenntnisse seiner staatsbürgerlichen Stellung und der
    ihm dereinst zufallenden ethischen Pflichten vermittelt. Aber
    dieser Elementarunterricht ist in arger Weise unvollständig,
    wenn er nicht das Gebiet des Geschlechtslebens mit umschließt.
    Hier ist die Lücke, deren Ausfüllung Erzieher und Reformer
    in Angriff nehmen sollten! In Staaten, welche die Kinder-
    erziehung ganz oder teilweise in den Händen der Geistlichkeit
    belassen haben, darf man allerdings solche Forderung nicht

  • S.

    16 Zur sexuellen Aufklärung

    erheben. Der Geistliche wird die Wesensgleichheit von Mensch
    und Tier nie zugeben, da er auf die unsterbliche Seele nicht
    verzichten kann, die er braucht, um die Moralforderung zu
    begründen. So bewährt es sich denn wieder einmal, wie unklug
    es ist, einem zerlumpten Rock einen einzigen seidenen Lappen
    aufzunähen, wie unmöglich es ist, eine vereinzelte Reform
    durchzuführen, ohne an den Grundlagen des Systems zu
    ändern!