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ZUR VORGESCHICHTE DER ANALY-
TISCHEN TECHNIK(Zuerst erschienen – ohne Nennung des Verfassers, nur mit F. gezeichnet – in der
„Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“, Bd. VI , 1920)In einem neuen Buche von Havelock Ellis, dem
hochverdienten Sexualforscher und vornehmen Kritiker der
Psychoanalyse, betitelt „The Philosophy of Conflict and
other essays in war-time, second series“, London 1919, ist
ein Aufsatz: „Psycho-Analysis in relation to sex“ enthalten,
der sich nachzuweisen bemüht, daß das Werk des Schöpfers
der Analyse nicht als ein Stück wissenschaftlicher Arbeit,
sondern als eine künstlerische Leistung gewertet werden sollte.
Es liegt uns nahe, in dieser Auffassung eine neue Wendung
des Widerstandes und eine Ablehnung der Psychoanalyse zu sehen,
wenngleich sie in liebenswürdiger, ja in allzu schmeichelhafter
Weise verkleidet ist. Wir sind geneigt, ihr aufs entschiedenste
zu widersprechen.Doch nicht solcher Widerspruch ist das Motiv unserer
Beschäftigung mit dern Essay von Havellock Ellis, son-
dern die Tatsache, daß er durch seine große Belesenheit in
die Lage gekommen ist, einen Autor anzuführen, der die freie
Assoziation als Technik geübt und empfohlen hat, wenngleich
zu anderen Zwecken, und somit ein Recht hat, in dieser
Hinsicht als Vorläufer der Psychoanalytiker genannt zu wer-
den. „Im Jahre 1857“, schreibt Havelock Ellis, „ver-
öffentlichte Dr. J. J. Garth Wilkinson, besser bekannt
als Dichter und Mystiker von der Richtung Sweden-
borgs denn als Arzt, einen Band mystischer Gedichte in
Knüttelversen, durch eine angeblich neue Methode, die er
‚Impression‘ nennt, hervorgebracht.“ „Man wählt ein Thema“,
sagt er, „oder schreibt es nieder; sobald dies geschehen ist,
darf man den ersten Einfall (impression upon the mind), derS.
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sich nach der Niederschrift des Titels ergibt, als den Beginn
der Ausarbeitung des Themas betrachten, gleichgültig wie
sonderbar oder nicht dazu gehörig das betreffende Wort oder
der Satz erscheinen mag.“ „Die erste Regung des Geistes, das
erste Wort, das sich einstellt, ist der Erfolg des Bestrebens,
sich in das gegebene Thema zu vertiefen.“ Man setzt das
Verfahren in konsequenter Weise fort, und Garth Wil-
kinson sagt: „Ich habe immer gefunden, daß es wie in-
folge eines untrüglichen Instinkts ins Innere der Sache führt."
Diese Technik entsprach nach Wilkinsons Ansicht einem
aufs höchste gesteigerten Sich-gehen-lassen, einer Aufforde-
rung an die tiefstliegenden unbewußten Regungen, sich zur
Äußerung zu bringen. Wille und Überlegung, mahnte er, sind
beiseite zu lassen; man vertraut sich der Eingebung (influx)
an und kann dabei finden, daß sich die geistigen Fähigkeiten
auf unbekannte Ziele einstellen.“„Man darf nicht außer acht lassen, daß Wilkinson,
obwohl er Arzt war, diese Technik zu religiösen und litera-
rischen, niemals zu ärztlichen oder wissenschaftlichen
Zwecken in Anwendung zog, aber es ist leicht einzusehen,
daß es im wesentlichen die psychoanalytische Technik ist,
die hier die eigene Person zum Objekt nimmt, ein Beweis
mehr dafür, daß das Verfahren Freuds das eines Künst-
lers (artist) ist.“Kenner der psychoanalytischen Literatur werden sich hier
jener schönen Stelle im Briefwechsel Schillers mit
Körner erinnern,24 in welcher der große Dichter und
Denker (1788) demjenigen, der produktiv sein möchte, die
Beachtung des freien Einfalles empfiehlt. Es ist zu vermuten,
daß die angeblich neue Wilkinsonsche Technik bereits
vielen anderen vorgeschwebt hat, und ihre systematische An-24) Entdeckt von O. Rank und zitiert in der Traumdeutung,
siebente Auflage, 1912, Seite 71. [Ges. Schriften, Bd. II.]S.
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wendung in der Psychoanalyse wird uns nicht so sehr als
Beweis für die künstlerische Artung Freuds erscheinen, wie
als Konsequenz seiner nach Art eines Vorurteils festgehalte-
nen Überzeugung von der durchgängigen Determinierung
alles seelischen Geschehens. Die Zugehörigkeit des freien Ein-
falles zum fixierten Thema ergab sich dann als die nächste
und wahrscheinlichste Möglichkeit, welche auch durch die
Erfahrung in der Analyse bestätigt wird, insofern nicht über-
große Widerstände den vermuteten Zusammenhang unkennt-
lich machen.Indes darf man es als sicher annehmen, daß weder
Schiller noch Garth Wilkinson auf die Wahl der
psychoanalytischen Technik Einfluß geübt haben. Mehr per-
sönliche Beziehung scheint sich von einer anderen Seite her
anzudeuten.Vor kurzem machte Dr. Hugo Dubowitz in Budapest
Dr. Ferenczi auf einen kleinen, nur 4½ Seiten umfassen-
den Aufsatz von Ludwig Börne aufmerksam, der, 1823
verfaßt, im ersten Band seiner Gesammelten Schriften (Aus-
gabe von 1862) abgedruckt ist. Er ist betitelt: „Die Kunst,
in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden“ und trägt
die bekannten Eigentümlichkeiten des Jean Paulschen Stils,
dem Börne damals huldigte, an sich. Er schließt mit den
Sätzen: „Und hier folgt die versprochene Nutzanwendung.
Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hinter-
einander, ohne Falsch und Heuchelei, alles nieder, was euch
durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst,
von euren Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von
Fonks Kriminalprozeß, vom jüngsten Gericht, von euren Vor-
gesetzten – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor
Verwunderung, was ihr für neue unerhörte Gedanken gehabt,
ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen
ein Originalschriftsteller zu werden!“S.
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Als Prof. Freud veranlaßt wurde, diesen Börneschen
Aufsatz zu lesen, machte er eine Reihe von Angaben, die
für die hier berührte Frage nach der Vorgeschichte der
psychoanalytischen Einfallsverwertung bedeutungsvoll sein
können. Er erzählte, daß er Börnes Werke im vierzehnten
Jahr zum Geschenk bekommen habe und dieses Buch heute,
fünfzig Jahre später, noch immer als das einzige aus seiner
Jugendzeit besitze. Dieser Schriftsteller sei der erste gewesen,
in dessen Schriften er sich vertieft habe. An den in Rede ste-
henden Aufsatz könne er sich nicht erinnern, aber andere,
in denselben Band aufgenommene, wie die Denkrede auf Jean
Paul, Der Eßkünstler, Der Narr im weißen Schwan, seien
durch lange Jahre ohne ersichtlichen Grund immer wieder in
seiner Erinnerung aufgetaucht. Er war besonders erstaunt, in
der Anweisung zum Originalschriftsteller einige Gedanken
ausgesprochen zu finden, die er selbst immer gehegt und ver-
treten habe, zum Beispiel: „Eine schimpfliche Feigheit zu
denken, hält uns alle zurück. Drückender als die Zensur der
Regierungen ist die Zensur, welche die öffentliche Meinung
über unsere Geisteswerke ausübt.“ (Hier findet sich übrigens
die „Zensur“ erwähnt, die in der Psychoanalyse als Traum-
zensur wiedergekommen ist . . .) „Nicht an Geist, an Cha-
rakter mangelt es den meisten Schriftstellern, um besser zu
sein, als sie sind . . . Aufrichtigkeit ist die Quelle aller Genia-
lität‚ und die Menschen wären geistreicher, wenn sie sittlicher
wären . . .“Es scheint uns also nicht ausgeschlossen, daß dieser Hin-
weis vielleicht jenes Stück Kryptomnesie aufgedeckt hat, das
in so vielen Fällen hinter einer anscheinenden Originalität
vermutet werden darf.
freud-1931-neurosenlehre
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