Zwei Kinderlügen 1913-008/1931
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    16 Die Disposition zur Zwangsneurose

    wir wissen, unter der Herrschaft eines männlichen Leitorgans
    (der Klitoris) und benimmt sich vielfach wie die des Knaben.
    Ein letzter Entwicklungsschub zur Zeit der Pubertät muß
    diese männliche Sexualität wegschaffen und die von der
    Kloake abgeleitete Vagina zur herrschenden erogenen Zone
    erheben. Es ist nun sehr gewöhnlich, daß in der hysterischen
    Neurose der Frauen eine Reaktivierung dieser verdrängten
    männlichen Sexualität statt hat, gegen welche sich dann
    der Abwehrkampf von seiten der ichgerechten Triebe
    richtet. Doch erscheint es mir vorzeitig, an dieser Stelle in
    die Diskussion der Probleme der hysterischen Disposition
    einzutreten.

    ZWEI KINDERLÜGEN
    (1913)

    Es ist begreiflich, daß Kinder lügen, wenn sie damit die
    Lügen der Erwachsenen nachahmen. Aber eine Anzahl von
    Lügen von gut geratenen Kindern haben eine besondere Be-
    deutung und sollten die Erzieher nachdenklich machen,
    anstatt sie zu erbittern. Sie erfolgen unter dem Einfluß über-
    starker Liebesmotive und werden verhängnisvoll, wenn sie
    ein Mißverständnis zwischen dem Kinde und der von ihm
    geliebten Person herbeiführen.

    I

    Das siebenjährige Mädchen (im zweiten Schuljahr) hat
    vom Vater Geld verlangt, um Farben zum Bemalen von
    Ostereiern zu kaufen. Der Vater hat es abgeschlagen mit der
    Begründung, er habe kein Geld. Kurz darauf verlangte es
    vom Vater Geld, um zu einem Kranz für die verstorbene
    Landesfürstin beizusteuern. Jedes der Schulkinder soll fünf-

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    zig Pfennige bringen. Der Vater gibt ihr zehn Mark; sie
    bezahlt ihren Beitrag, legt dem Vater neun Mark auf den
    Schreibtisch und hat für die übrigen fünfzig Pfennige Farben
    gekauft, die sie im Spielschrank verbirgt. Bei Tisch fragt der
    Vater argwóhnisch, was sie mit den fehlenden fünfzig Pfenni-
    gen gemacht, und ob sie dafür nicht doch Farben gekauft
    hat. Sie leugnet es, aber der um zwei Jahre ältere Bruder,
    mit dem gemeinsam sie die Eier bemalen wollte, verrät sie;
    die Farben werden im Schrank gefunden. Der erziirnte Vater
    überläßt die Missetäterin der Mutter zur Ziichtigung, die
    sehr energisch ausfällt. Die Mutter ist nachher selbst er-
    schiittert, als sie merkt, wie sehr das Kind verzweifelt ist.
    Sie liebkost es nach der Ziichtigung, geht mit ihm spazieren,
    um es zu tråsten. Aber die Wirkungen dieses Erlebnisses,
    von der Patientin selbst als „Wendepunkt“ ihrer Jugend be-
    zeichnet, erweisen sich als unaufhebbar. Sie war bis dahin
    ein wildes, zuversichtliches Kind, sie wird von da an scheu
    und zaghaft. In ihrer Brautzeit geråt sie in eine ihr unver-
    stindliche Wut, als die Mutter ihr die Möbel und Aussteuer
    besorgt. Es schwebt ihr vor, es ist doch ihr Geld, dafiir darf
    kein anderer etwas kaufen. Als junge Frau scheut sie sich,
    von ihrem Manne Ausgaben fiir ihren persönlichen Bedarf
    zu verlangen, und scheidet in überflüssiger Weise „ihr“ Geld
    von seinem Geld. Während der Zeit der Behandlung trifft
    es sich einige Male, daß die Geldzusendungen ihres Mannes
    sich verspäten, so daß sie in der fremden Stadt mittellos
    bleibt. Nachdem sie mir dies einmal erzählt hat, will ich ihr
    das Versprechen abnehmen, in der Wiederholung dieser
    Situation die kleine Summe, die sie unterdes braucht, von
    mir zu entlehnen. Sie gibt dieses Versprechen, hält es aber
    bei der nächsten Geldverlegenheit nicht ein und zieht es vor,
    ihre Schmuckstücke zu verpfänden. Sie erklärt, sie kann kein
    Geld von mir nehmen.

    2 Freud, Schriften zur Neurosenlehre

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    18 Zwei Kinderliigen

    Die Aneignung der fiinfzig Pfennige in der Kindheit hatte
    eine Bedeutung, die der Vater nicht ahnen konnte. Einige
    Zeit vor der Schule hatte sie ein merkwiirdiges Stiickchen
    mit Geld aufgeführt. Fine befreundete Nachbarin hatte sie
    mit einem kleinen Geldbetrag als Begleiterin ihres noch jün-
    geren Sóhnchens in einen Laden geschickt, um irgendetwas
    einzukaufen. Den Rest des Geldes nach dem Einkaufe trug
    sie als die ältere nach Hause. Als sie aber auf der Straße dem
    Dienstmiidchen der Nachbarin begegnete, warf sie das Geld
    auf das Strafenpflaster hin. Zur Analyse dieser ihr selbst
    unerklirlichen Handlung fiel ihr Judas ein, der die Silber-
    linge hinwarf, die er fiir den Verrat am Herrn bekommen.
    Sie erklärt es fiir sicher, daß sie mit der Passionsgeschichte
    schon vor dem Schulbesuch bekannt wurde. Aber inwiefern
    durfte sie sich mit Judas identifizieren?

    Im Alter von dreicinhalb Jahren hatte sie ein Kinder-
    mädchen, dem sie sich sehr innig anschloB. Dieses Mädchen
    geriet in erotische Bezichungen zu einem Arzt, dessen Ordi-
    nation sie mit dem Kinde besuchte. Es scheint, daß das
    Kind damals Zeuge verschiedener sexueller Vorginge wurde.
    Ob sie sah, daß der Arzt dem Mädchen Geld gab, ist nicht
    sichergestellt; unzweifelhaft aber, daß das Mädchen dem
    Kinde kleine Münzen schenkte, um sich seiner Verschwie-
    genheit zu versichern, für welche auf dem Heimwege Ein-
    käufe (wohl an Süßigkeiten) gemacht wurden. Es ist auch
    möglich, daß der Arzt selbst dem Kinde gelegentlich Geld
    schenkte. Dennoch verriet das Kind sein Mädchen an die
    Mutter, aus Eifersucht. Es spielte so auffällig mit den heim-
    gebrachten Groschen, daß die Mutter fragen mußte: Woher
    hast du das Geld? Das Mädchen wurde weggeschickt.

    Geld von jemandem nehmen hatte also für sie frühzeitig
    die Bedeutung der körperlichen Hingebung, der Liebesbeziehung
    bekommen. Vom Vater Geld nehmen hatte den Wert einer

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    Liebeserklärung. Die Phantasie, daß der Vater ihr Geliebter
    sei, war so verführerisch, daß der Kinderwunsch nach den
    Farben fiir die Ostereier sich mit ihrer Hilfe gegen das
    Verbot leicht durchsetzte. Eingestehen konnte sie aber die
    Aneignung des Geldes nicht, sie mußte leugnen, weil das
    Motiv der Tat, ihr selbst unbewußt, nicht einzugestehen
    war. Die Züchtigung des Vaters war also eine Abweisung
    der ihm angebotenen Zärtlichkeit, eine Verschmähung, und
    brach darum ihren Mut. In der Behandlung brach ein
    schwerer Verstimmungszustand los, dessen Auflösung zu der
    Erinnerung des hier Mitgeteilten führte, als ich einmal
    genötigt war, die Verschmähung zu kopieren, indem ich sie
    bat, keine Blumen mehr zu bringen.

    Für den Psychoanalytiker bedarf es kaum der Hervor-
    hebung, daß in dem kleinen Erlebnis des Kindes einer jener
    so überaus häufigen Fälle von Fortsetzung der früheren
    Analerotik in das spätere Liebesleben vorliegt. Auch die
    Lust, die Eier farbig zu bemalen, entstammt derselben

    Quelle.
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    Eine heute infolge einer Versagung im Leben schwer-
    kranke Frau war früher einmal ein besonders tüchtiges,
    wahrheitsliebendes, ernsthaftes und gutes Mädchen gewesen
    und dann eine zårtliche Frau geworden. Noch früher aber,
    in den ersten Lebensjahren, war sie ein eigensinniges und
    unzufriedenes Kind gewesen, und während sie sich ziemlich
    rasch zur Übergüte und Ubergewissenhaftigkeit wandelte,
    ereigneten sich noch in ihrer Schulzeit Dinge, die ihr in
    den Zeiten der Krankheit schwere Vorwiirfe einbrachten
    und von ihr als Beweise griindlicher Verworfenheit beurteilt
    wurden. Ihre Erinnerung sagte ihr, daß sie damals oft ge-
    prahlt und gelogen hatte. Einmal rihmte sich auf dem

    זג

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    20 Zwei Kinderlügen

    Schulweg cine Kollegin: Gestern haben wir zu Mittag Eis
    gehabt. Sie erwiderte: Oh, Eis haben wir alle Tage. In
    Wirklichkeit verstand sie nicht, was Eis zur Mittagsmahlzeit
    bedeuten sollte; sie kannte das Eis nur in den langen
    Blöcken, wie es auf Wagen verführt wird, aber sie nahm
    an, es müsse etwas Vornehmes damit gemeint sein, und
    darum wollte sie hinter der Kollegin nicht zuriickbleiben.

    Als sie zehn Jahre alt war, wurde in der Zeichenstunde
    einmal die Aufgabe gegeben, aus freier Hand einen Kreis
    zu ziehen. Sie bediente sich dabei aber des Zirkels, brachte
    so leicht einen vollkommenen Kreis zustande und zeigte
    ihre Leistung triumphierend ihrer Nachbarin. Der Lehrer
    kam hinzu, hörte die Prahlerin, entdeckte die Zirkelspuren
    in der Kreislinie und stellte das Mädchen zur Rede. Dieses
    aber leugnete hartnäckig, ließ sich durch keine Beweise
    überführen und half sich durch trotziges Verstummen. Der
    Lehrer konferierte darüber mit dem Vater; beide ließen sich
    durch die sonstige Bravheit des Midchens bestimmen, dem
    Vergehen keine weitere Folge zu geben.

    Beide Lügen des Kindes waren durch den nåmlichen
    Komplex motiviert. Als ilteste von fiinf Geschwistern ent-
    wickelte die Kleine frühzeitig eine ungewöhnlich intensive
    Anhinglichkeit an den Vater, an welcher dann in reifen
    Jahren ihr Lebensgliick scheitern sollte. Sie mußte aber bald
    die Entdeckung machen, daß dem geliebten Vater nicht die
    Größe zukomme, die sie ihm zuzuschreiben bereit war. Er
    hatte mit Geldschwierigkeiten zu kimpfen, er war nicht
    so michtig oder so vornehm, wie sie gemeint hatte. Diesen
    Abzug von ihrem Ideal konnte sie sich aber nicht gefallen
    lassen. Indem sie nach Art des Weibes ihren ganzen Ehrgeiz
    auf den geliebten Mann verlegte, wurde es zum tiberstarken
    Motiv fiir sie, den Vater gegen die Welt zu stiitzen. Sie
    prahlte also vor den Kolleginnen, um den Vater nicht ver-

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    kleinern zu müssen. Als sie später das Eis beim Mittagessen
    mit ,,Glace" übersetzen lernte, war der Weg gebahnt, auf wel-
    chem dann der Vorwurf wegen dieser Reminiszenz in eine
    Angst vor Glasscherben und Splittern einmiinden konnte.

    Der Vater war ein vorziiglicher Zeichner und hatte durch
    die Proben seines Talents oft genug das Entziicken und die
    Bewunderung der Kinder hervorgerufen. In der Identifizierung
    mit dem Vater zeichnete sie in der Schule jenen Kreis, der
    ihr nur durch betriigerische Mittel gelingen konnte. Es war,
    als ob sie sich riihmen wollte: Schau her, was mein Vater
    kann! Das Schuldbewuftsein, das der überstarken Neigung
    zum Vater anhaftete, fand in dem versuchten Betrug seinen
    Ausdruck; ein Gestindnis war aus demselben Grunde un-
    möglich wie in der vorstehenden Beobachtung, es hätte das
    Geständnis der verborgenen inzestudsen Liebe sein müssen.

    Man måge nicht gering denken von solchen Episoden des
    Kinderlebens. Es wire eine arge Verfehlung, wenn man aus
    solchen kindlichen Vergehen die Prognose auf Entwicklung
    eines unmoralischen Charakters stellen würde. Wohl aber
    hingen sie mit den stårksten Motiven der kindlichen Seele
    zusammen und kiinden die Dispositionen zu spåteren Schick-
    salen oder kiinftigen Neurosen an.

    EINE BEZIEHUNG
    ZWISCHEN EINEM SYMBOL
    UND EINEM SYMPTOM

    (1916)

    Der Hut als Symbol des Genitales, vorwiegend des månn-
    lichen, ist durch die Erfahrung der Traumanalysen hin-
    reichend sichergestellt. Man kann aber nicht behaupten, daß