Dr. Sigm. Freud
Docent für Nervenkrankheiten
a. d. Universität.

Wien, 
IX., Berggasse 19.

  • S.

    19.2.99

    Theurer Wilhelm

    Also geht es Dir ebenso, brauche ich mich
    nicht zu schämen. Auch Du beginnst Briefe
    am 11, die Du erst am 16t fortsetzen
    kannst, u am 16t kannst Du von nichts
    anderem schreiben als von der einen
    ungeheuerlich großen, für die Kräfte des
    armen Menschen allzuschweren Arbeit,
    der jede Regung des Denkens gehört
    u die allmählich alle anderen Fähigkeiten
    u Empfänglichkeiten aufsaugt, eine Art
    von Neoplasmengewebe, das sich in’s Menschliche
    infiltrirt u es dann ersetzt. Beinahe habe
    ich noch’s besser – oder schlechter. Arbeit
    u Erwerbsthätigkeit fallen bei mir
    zusam̄en, ich bin ganz Carcinom geworden. 
    Das Neugebilde trinkt in seinen letzten
    Entwicklgsstadien gerne Wein; heute
    soll ich in’s Theater; es ist aber lächerlich 
    gleichsam als wollte man auf’s Carcinom
    transplantiren. Da haftet nichts, u meine
    Lebensdauer ist von nun an die
    des Neoplasma’s. 

  • S.

    Der letzte allgemeine Gedanke hat sich
    erhalten u scheint in’s Unabsehbare 
    wachsen zu wollen. Nicht der Traum
    allein ist eine Wunscherfüllung, auch der
    hyst. Anfall. Das hy. Symptom ist es, 
    wahrscheinlich jedes neurot. Ergebniß 
    da ich es frühzeitig schon vom akuten
    Wahnsinn erkannt habe. Realität –
    Wunscherfüllung, aus diesen Gegensätzen
    sprießt unser psychisches Leben. Ich
    glaube ich weiß nun, welche Bedingg
    den Tr von dem Symptom, das sich
    ja in's wache Leben eindrängt, scheidet.
    Für den Tr genügt es, daß er die
    Wunscherfüllung des verdrängten Gedankens
    sei; er ist ja von der Realität
    ferngehalten. Das Sy aber, mitten
    im Leben, muß noch etwas anderes
    sein, auch die Wunscherfüllg des ver-
    drängenden Gedankens. Ein Sy entsteht
    dort, wo der verdrängte u der ver-
    drängende Gedanke in einer Wunsch-
    erfüllg zusam̄entreffen können.
    W.Erf. des verdrängenden Gedankens ist
    das Sy zB. als Strafe, Selbstbestrafg 
    die letzte Ersetzg der Selbstbefriedigg 
    der Onanie.

  • S.

    Mit dem Schlüßel geht nun Vieles auf.
    Weißt Du zB, warum die X.Y. hy erbricht?
    Weil sie in der Phantasie gravid ist, weil
    sie in ihrer Unersättlichkeit es nicht entbehren
    kann, auch von dem letzten Phantasiegeliebten
    ein Kind zu tragen. Aber sie darf auch
    erbrechen, weil sie dann ausgehungert
    wird, abmagert, ihre Schönheit verliert
    u niemandem mehr gefallen wird 
    So ist ein contradictorisches Paar von
    Wunscherfüllgen der Sinn des Symptoms.

    Weißt Du warum unser Freund Fellner,
    den Du ken̄st, roth wird und sich schwitzt, sobald
    er eine gewiße Kategorie von Bekan̄ten
    sieht, bes. im Theater? Er schämt sich; freilich 
    aber wessen? Einer Phantasie, in der
    er sich als Deflorator jeder Person, die
    er begegnet vorkom̄t. Er schwitzt beim
    Defloriren, plagt sich tüchtig dabei. Ein Nach-
    klang dieser Bedeutg wird jedesmal
    wie ein Grollen des Niedergeworfenen
    in ihm laut, wen̄ er sich vor einer
    Person geschämt hat: Jetzt glaubt die dum̄e
    Gans, ich schäm’ mich vor ihr. Wenn ich sie
    im Bett hätte, würde sie merken, wie
    wenig ich mich vor ihr genire!
    Und die Zeit, in der er seine Wünsche auf
    diese Phantasie gerichtet hat, hat ihre

    [Editorische Anmerkung:
    Querverweise zum Erbrechen: Siehe dazu die Notiz ›Doppelsinn der Symptome‹ (https://www.freudedition.net/node/95077)]

  • S.

    Spur im psych. Complex, der das Symptom
    auslöst, hinterlassen. Es ist die latein. Zeit,
    der Theatersaal erin̄ert ihn an den
    Schulsaal, er strebt im̄er denselben
    festen Sitz zu haben in der ersten Bank 
    Der Zwischenakt ist das Respirium u das
    „Schwitzen“ hie & damals „operam dare“. Über 
    diese Phrase hatte er einen Streit mit
    dem Professor. Übrigens kann er es nicht
    verwinden, da er dan̄ auf der Univers. 
    mit der Botanik nicht fertig geworden 
    jetzt setzt er das als „Deflorator" fort.

    Die Fähigkeit, in Schweiß auszubrechen 
    dankt er freilich der Kindheit, seitdem
    ihm der Bruder im Bad (mit 3 J) Bade-
    wasser mit Seifenschaum über’s Gesicht
    gegossen, ein Trauma, aber kein sexuelles.
    Und warum hat er damals in Interlaken
    mit 14 J in so merkwürdiger Stellg im
    Abort masturbirt? Es war nur, um die
    „Jungfrau“ dabei zu sehen; eine andere
    hat er auch seither nicht zu Gesicht bekom̄en 
    ad genitalia wenigstens. Er ist dem freilich
    absichtlich ausgewichen, den̄ warum
    suchte er sonst nur Verhältniße mit
    Schauspielerin̄en? Wie „ausgeklügelt“
    u doch der ganze „Mensch mit seinem
    Widerspruch“!
    Herzlichst Dein Sigm