Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse 1917-002/1918
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    XXX.
    EINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE.”

    Ich will gleich zum Eingang sagen, daß ich nicht eine
    intellektuelle Schwierigkeit meine, etwas, was die Psycho-
    analyse fiir das Verständnis des Empfängers (Hörers oder
    Lesers) unzugånglich macht, sondern eine affektive Schwierig-
    keit: etwas, wodurch sich die Psychoanalyse die Gefiihle des
    Empfängers entfremdet, so daß er weniger geneigt wird, ihr
    Interesse oder Glauben zu schenken. Wie man merkt, kommen
    beiderlei Schwierigkeiten auf dasselbe hinaus, Wer fiir eine
    Sache nicht genug Sympathie aufbringen kann, wird sie auch
    nicht so leicht verstehen.

    Aus Rücksicht auf den Leser, den ich mir noch als völlig
    unbeteiligt vorstelle, muß ich etwas weiter ausholen: In der
    Psychoanalyse hat sich aus einer großen Zahl von Einzel-
    beobachtungen und Eindrücken endlich etwas wie eine Theorie
    gestaltet, die unter dem Namen der Libidotheorie bekannt ist.
    Die Psychoanalyse beschäftigt sich bekanntlich mit der Au:
    klårung und der Beseitigung der sogenannten nervösen Stô-
    rungen. Für dieses Problem mußte ein Angriffspunkt gefunden
    werden, und man entschlof sich, ihn im Triebleben der Seele
    zu suchen. Annahmen über das menschliche Triebleben wurden
    also die Grundlage unserer Auffassung der Nervosität.

    *) Imago V, 1917. Zuerst in ungarischer Sprache abgedruckt in der
    Zeitschrift , Nyugat", herausgegeben von H. Ignotus, Budapest 1917.

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    554 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Die Psychologie, die auf unseren Schulen gelehrt wird,
    gibt uns nur sehr wenig befriedigende Antworten, wenn wir sie
    nach den Problemen des Seelenlebens befragen. Auf keinem Ge-
    biet sind aber ihre Auskünfte kümmerlicher als auf dem der
    Triebe.

    Es bleibt uns iiberlassen, wie wir uns hier eine erste
    Orientierung schaffen wollen. Die populåre Auffassung trennt
    Hunger und Liebe als Vertreter der Triebe, welche das Einzel-
    wesen zu erhalten, und jener, die es fortzupflanzen streben.
    Indem wir uns dieser so nahe liegenden. Sonderung anschließen,
    unterscheiden wir auch in der Psychoanalyse die Selbsterhal-
    tungs- oder Ich-Triebe von den Sexualtrieben und nennen die
    Kraft, mit welcher der Sexualtrieb im Seelenleben auftritt,
    Libido — sexuelles Verlangen — als etwas dem Hunger, dem
    Machtwillen u, dgl. bei den Ich-Trieben Analoges,

    Auf dem Boden dieser Annahme machen wir dann die
    erste bedeutungsvolle Entdeckung. Wir erfahren, daß fiir das
    Verständnis der neurotischen Erkrankungen den Sexualtrieben
    die weitaus größere Bedeutung zukommt, daß die Neurosen
    sozusagen die spezifischen Erkrankungen der Sexualfunktion
    sind. Daß es von der Quantität der Libido und von der Mög-
    lichkeit, sie zu befriedigen und durch Befriedigung abzu-
    führen, abhängt, ob ein Mensch überhaupt an einer Neurose
    erkrankt. Daß die Form der Erkrankung bestimmt wird durch
    die Art, wie der einzelne den Entwicklungsweg der Sexual-
    funktion zurückgelegt hat, oder, wie wir sagen, durch die Fixic-
    rungen, welche seine Libido im Laufe ihrer Entwicklung er-
    fahren hat. Und daß wir in einer gewissen, nicht sehr einfachen
    Technik der psychischen Beeinflussung ein Mittel haben,
    manche Gruppen der Neurosen gleichzeitig aufzuklären und
    rückgängig zu machen. Den besten Erfolg hat unsere thera-

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    XXX, EINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE. 555

    peutische Bemühung bei einer gewissen Klasse von Neurosen,
    die aus dem Konflikt zwischen den Ich-Trieben und den Sexual-
    trieben hervorgehen. Beim Menschen kommt es nämlich vor,
    daß die Anforderungen der Sexualtriebe, die ja weit über
    das Einzelwesen hinausgreifen, dem Ich als Gefahr erscheinen,
    die seine Selbsterhaltung oder seine Selbstachtung bedrohen,
    Dann setzt sich das Ich zur Wehre, versagt den Sexual.
    trieben die gewünschte Befriedigung, nôtigt sie zu jenen Um-
    wegen einer Ersatzbefriedigung, die sich als nervöse Symptome
    kundgeben.

    Die psychoanalytische Therapie bringt és dann zu stande,
    den VerdrångungsprozeB einer Revision zu unterziehen und
    den Konflikt zu einem besseren, mit der Gesundheit vertråg-
    lichen Ausgang zu leiten. Unverstindige Gegnerschaft wirft
    uns dann unsere Schiitzung der Sexualtriebe als einseitig vor:
    Der Mensch habe noch andere Interessen als die sexuellen.
    Das haben wir keinen Augenblick lang vergessen oder ver-
    leugnet. Unsere Einseitigkeit ist wie die des Chemikers, der
    alle Konstitutionen auf die Kraft der chemischen Attraktion
    zurückführt. Er leugnet darum die Schwerkraft nicht, er über-
    Jäßt ihre Würdigung dem Physiker.

    Während der therapeutischen Arbeit müssen wir uns um
    die Verteilung der Libido bei dem Kranken bekümmern, wir
    forschen nach, an welche Objektvorstellungen seine Libido
    gebunden ist, und machen sie frei, um sie dem Ich zur Ver-
    fügung zu stellen. Dabei sind wir dazu gekommen, uns ein
    sehr merkwürdiges Bild von der anfänglichen, der Urverteilung
    der Libido beim Menschen zu machen. Wir mußten annehmen,
    daß zu Beginn-der individuellen Entwicklung alle Libido (alles
    erotische Streben, alle Liebesfähigkeit) an die eigene Person
    geknüpft ist, wie wir sagen, das eigene Ich besetzt. Erst

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    556 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV,

    später geschieht es in Anlehnung an die Befriedigung der
    großen Lebensbedürfnisse, daß die Libido vom Ich auf die
    äußeren Objekte überfließt, wodurch wir erst in die Lage
    kommen, die libidinésen Triebe als solche zu erkennen und
    von den Ich-Trieben zu unterscheiden. Von diesen Objekten
    kann die Libido wieder abgelöst und ins Ich zurückgezogen
    werden.

    Den Zustand, in dem das Ich die Libido bei sich behält,
    heißen wir Narzißmus, in Erinnerung der griechischen Sage
    vom Jüngling Narzissus, der in sein eigenes Spiegelbild
    verliebt blieb. 7

    Wir schreiben also dem Individuum einen Fortschritt zu
    vom Narzißmus zur Objektliebe. Aber wir glauben nicht, daß
    jemals die gesamte Libido des Ichs auf die Objekte über-
    geht. Ein gewisser Betrag von Libido verbleibt immer beim
    Ich, ein gewisses Maß von Narzißmus bleibt trotz hochent-
    wickelter Objektliebe fortbestehen. Das Ich ist ein großes
    Reservoir, aus dem die får die Objekte bestimmte Libido aus-
    strömt, und dem sie von den Objekten her wieder zuflieBt.
    Die Objektlibido war zuerst Ich-Libido und kann sich wieder
    in Ich-Libido umsetzen. Es ist fiir die volle Gesundheit der
    Person wesentlich, daB ihre Libido die volle Beweglichkeit
    nicht verliere, Zur Versinnlichung dieses Verhåltnisses denken
    wir an ein Protoplasmatierchen, dessen zåhfliissige Substanz
    Pseudopodien (ScheinfüDchen) aussendet, Fortsetzungen, in
    welche sich die Leibessubstanz hineinerstreckt, die aber jeder-
    zeit wieder eingezogen werden können, so daß die Form des
    Protoplasmaklümpchens wieder hergestellt wird.

    Was ich durch diese Andeutungen zu beschreiben ver-
    sucht habe, ist die Li bidotheorie der Neurosen, auf welche
    alle unsere Auffassungen vom Wesen dieser krankhaften Zu-

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    XXX. EINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE, 557

    stände und unser therapeutisches Vorgehen gegen dieselben
    begründet sind. Es ist selbstverständlich, daß wir die Voraus-
    setzungen der Libidotheorie auch für das normale Verhalten
    geltend machen. Wir sprechen vom Narzißmus des kleinen
    Kindes und wir schreiben es dem überstarken Narzißmus des
    primitiven Menschen zu, daß er an die Allmacht seiner Ge-
    danken glaubt und darum den Ablauf der Begebenheiten in
    der äußeren Welt durch die Technik der Magie beeinflussen
    will,

    Nach dieser Einleitung möchte ich ausführen, daß der all-
    gemeine Narzißmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt
    drei schwere Kränkungen von seiten der wissenschaftlichen
    Forschung erfahren hat.

    a) Der Mensch glaubte zuerst in den Anfängen seiner
    Forschung, daß sich sein Wohnsitz, die Erde, ruhend im Mittel-
    punkt des Weltalls befinde, während Sonne, Mond und Pla-
    neten sich in kreisförmigen Bahnen um die Erde bewegen.
    Er folgte dabei in naiver Weise dem Eindruck seiner Sinnes-
    wahrnehmungen, denn eine Bewegung der Erde verspürt er
    nicht, und wo immer er frei um sich blicken kann, findet er
    sich im Mittelpunkt eines Kreises, der die äußere Welt um-
    schließt. Die zentrale Stellung der Erde war ihm aber eine
    Gewähr für ihre herrschende Rolle im Weltall und schien
    in guter Übereinstimmung mit seiner Neigung, sich als den
    Herrn dieser Welt zu fühlen.

    Die Zerstörung dieser narzißtischen Illusion knüpft sich
    für uns an den Namen und das Werk des Nik. Kopernikus
    im sechzehnten Jahrhundert. Lange vor ihm hatten die Pytha-
    goråer an der bevorzugten Stellung der Erde gezweifelt, und
    Aristarch von Samos hatte im dritten vorchristlichen Jahr-
    hundert ausgesprochen, daf die Erde viel kleiner sei als die

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    558 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV,

    Sonne und sich um diesen Himmelskorper bewege. Auch die
    groBe Entdeckung des Kopernikus war also schon vor
    ihm gemacht worden, Als sie aber allgemeine Anerkennung
    fand, hatte die menschliche Eigenliebe ihre erste, die kos mo-
    logische, Krånkung erfahren.

    5) Der Mensch warf sich im Laufe seiner Kulturentwick-
    lung zum Herrn über seine tierischen Mitgeschüpfe auf, Aber
    mit dieser Vorherrschaft nicht zufrieden, begann er eine KTuft
    zwischen ihrem und seinem Wesen zu legen. Er sprach ihnen
    die Vernunft ab und legte sich eine unsterbliche Seele bei,
    berief sich auf eine hohe góttliche Abkunft, die das Band
    der Gemeinschaft mit der Tierwelt zu zerreiBen gestatitete.
    Es ist merkwürdig, daB diese Uberhebung dem kleinen Kinde
    wie dem primitiven und dem Urmenschen noch ferne liegt.
    Sie ist das Ergebnis einer späteren anspruchsvollen Entwick-
    Jung. Der Primitive fand es auf der Stufe des Totemismus
    nicht anstôBig, seinen Stamm auf einen tierischen Ahnherrn
    zurückzuleiten. Der Mythus, welcher den Niederschlag jener
    alten Denkungsart enthält, 180% die Götter Tiergestalt an-
    nehmen, und die Kunst der ersten Zeiten bildet die Götter
    mit Tierkôpfen. Das Kind empfindet keinen Unterschied zwi-
    schen dem eigenen Wesen und dem des Tieres; es läßt dic
    Tiere ohne Verwunderung im Märchen denken und sprechen;
    es verschiebt einen Angsteffekt, der dem menschlichen Vater
    gilt, auf den Hund oder auf das Pferd, ohne damit eine
    Herabsetzung des Vaters zu beabsichtigen. Erst wenn es er-
    wachsen ist, wird es sich dem Tiere soweit entfremdet haben,
    daß es den Menschen mit dem Namen des Tieres beschimpfen
    kann,

    Wir wissen es alle, daß die Forschung Ch. Darwins,
    seiner Mitarbeiter und. Vorgänger, vor wenig mehr als einem

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    XXX. EINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE. 559

    halben Jahrhundert dieser Überhebung des Menschen ein Ende
    bereitet hat. Der Mensch ist nichts anderes und nichts Besseres
    als die Tiere, er ist selbst aus der Tierreihe hervorgegangen,
    einigen Arten näher, anderen ferner verwandt, Seine späteren
    Erwerbungen vermochten es nicht, die Zeugnisse der Gleich-
    wertigkeit zu verwischen, die in seinem Körperbau wie in seinen
    seelischen Anlagen gegeben sind. Dies ist aber die zweite,
    die biologische Kränkung des menschlichen Narzißmus.

    c) Am empfindlichsten trifft wohl die dritte Kränkung,
    die psychologischer Natur ist.

    Der Mensch, ob auch draußen erniedrigt, fühlt sich
    souverän in seiner eigenen Seele, Irgendwo im Kern seines Ichs
    hat er sich ein Aufsichtsorgan geschaffen, welches seine
    eigenen Regungen und Handlungen überwacht, ob sie mit
    seinen Anforderungen zusammenstimmen. Tun sie das nicht,
    so werden sie unerbittlich gehemmt und zurückgezogen. Seine
    innere Wahrnehmung, das Bewußtsein, gibt dem Ich Kunde
    von allen bedeutungsvollen Vorgängen im seelischen Getriebe,
    und der durch diese Nachrichten gelenkte Wille führt aus,
    was das Ich anordnet, ändert ab, was sich selbständig voll-
    ziehen möchte, Denn diese Seele ist nichts Einfaches, viel-
    mehr eine Hierarchie von über- und untergeordneten Instanzen,
    ein Gewirre von Impulsen, die unabhängig voneinander zur
    Ausführung drängen, entsprechend der Vielheit von Trieben
    und von Beziehungen zur Außenwelt, viele davon einander
    gegensätzlich und miteinander unverträglich, Es ist für die
    Funktion erforderlich, daß die oberste Instanz von allem Kennt-
    nis erhalte, was sich vorbereitet, und daß ihr Wille überallhin
    dringen könne, um seinen Einfluß zu üben. Aber das Ich fühlt
    sich sicher sowohl der Vollständigkeit und Verläßlichkeit der
    Nachrichten als auch der Wegsamkeit für seine Befehle.

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    560 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.

    In gewissen Krankheiten, allerdings gerade bei den von
    uns studierten Neurosen, ist es anders. Das Ich fiihlt sich
    unbehaglich, es stößt auf Grenzen seiner Macht in seinem
    eigenen Haus, der Seele, Is tauchen plötzlich Gedanken auf,
    von denen man nicht weiß, woher sie kommen; man kann
    auch nichts dazu tun, sie zu vertreiben. Diese fremden Gäste
    scheinen selbst mächtiger zu sein als die dem Ich unterwor-
    fenen; sie widerstehen allen sonst so erprobten Machtmitteln
    des Willens, bleiben unbeirrt durch die logische Widerlegung,
    unangetastet durch die Gegenaussage der Realität. Oder es
    kommen Impulse, die wie die eines Fremden sind, so daß
    das Ich sie verleugnet, aber es muß sich doch vor ihnen fürch-
    ten und Vorsichten gegen sie treffen. Das Ich sagt sich, das
    ist eine Krankheit, eine fremde Invasion, es verschärft seine
    Wachsamkeit, aber es kann nicht verstehen, warum es sich
    in so seltsamer Weise gelåhmt fühlt.

    Die Psychatrie bestreitet zwar fiir solche Vorfälle, daß
    sich båse, fremde Geister ins Seelenleben eingedrångt haben,
    aber sonst sagt sie nur achselzuckend : Degeneration, hereditåre
    Disposition, konstitutionelle Minderwertigkeit! Die Psycho-
    analyse unternimmt es, diese unheimlichen Krankheitsfålle auf-
    zuklåren, sie stellt sorgfåltige und langwierige Untersuchungen
    an, schafft sich Hilfsbegriffe und wissenschaftliche Konstruk-
    tionen und kann dem Ich endlich sagen: „Es ist nichts Frem-
    des in dich gefahren; ein Teil von deinem eigenen Seelen-
    leben hat sich deiner Kenntnis und der Herrschaft deines
    Willens entzogen. Darum bist du auch so schwach in der Ab-
    wehr; du kåmpfst mit einem Teil deiner Kraft gegen den
    anderen Teil, kannst nicht wie gegen einen åuferen Feind
    deine ganze Kraft zusammennehmen. Und es ist nicht einmal
    der schlechteste oder unwichtigste Anteil deiner seelischen

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    XXX, EINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE, 561

    Kräfte, der so in Gegensatz zu dir getreten und unabhängig
    von dir geworden ist. Die Schuld, muß ich sagen, liegt an
    dir selbst. Du hast deine Kraft überschätzt, wenn du ge-
    glaubt hast, du könntest mit deinen Sexualtrieben anstellen,
    was du willst, und brauchtest auf ihre Absichten nicht die
    mindeste Rücksicht zu nehmen. Da haben sie sich denn em-
    pört und sind ihre eigenen dunklen Wege gegangen, um sich
    der Unterdrückung zu entziehen, haben sich ihr Recht ge-
    schaffen auf eine Weise, die dir nicht mehr recht sein kann.
    Wie sie das zu stande gebracht haben, und welche Wege sie
    gewandelt sind, das hast du nicht erfahren; nur das Ergebnis
    dieser Arbeit, das Symptom, das du als Leiden empfindest,
    ist zu deiner Kenntnis gekommen. Du erkennst es dann nicht
    als Abkömmling deiner eigenen verstoßenen Triebe und weißt
    nicht, daß es deren Ersatzbefriedigung ist.“

    „Der ganze Vorgang wird aber nur durch den einen Um-
    stand möglich, daß du dich auch in einem anderen wichtigen
    Punkte im Irrtum befindest. Du vertraust darauf, daß du
    alles erfährst, was in deiner Seele vorgeht, wenn es nur wich-
    tig genug ist, weil dein Bewußtsein es dir dann meldet. Und
    wenn du von etwas in deiner Seele keine Nachricht bekommen
    hast, nimmst du zuversichtlich an, es sei nicht in ihr fent-
    halten. Ja, du gehst so weit, daß du ‚seelisch‘ für identisch
    hältst mit ‚bewußt‘, d. h. dir bekannt, trotz der augenschein-
    lichsten Beweise, daß in deinem Seelenleben beständig viel
    mehr vor sich gehen muß, als deinem Bewußtsein bekannt werden
    kann. Laß dich doch in diesem einen Punkt belehren! Das
    Seelische in dir fällt nicht mit dem dir Bewußten zusammen;
    es ist etwas anderes, ob etwas in deiner Seele vorgeht, und
    ob du es auch erfährst. Für gewöhnlich, ich will es zugeben,
    reicht der Nachrichtendienst an dein Bewußtsein für deine

    Freud, Neurosenlehre. IV.

  • S.

    569 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    "Bedürfnisse aus. Du darfst dich in der Illusion wiegen, daß
    du alles Wichtigere erfährst. Aber in manchen Fällen, z. B.
    in dem eines solchen Triebkonfliktes, versagt er und dein
    Wille reicht dann nicht weiter als dein Wissen. In allen
    Fallen aber sind diese Nachrichten deines BewuBtseins un-
    vollständig und häufig unzuverlåssig; auch trifft es sich oft
    genug, daß du von den Geschehnissen erst Kunde bekommst,
    wenn sie bereits vollzogen sind und du nichts mehr an ihnen
    ändern kannst. Wer kann, selbst wenn du nicht krank bist,
    ermessen, was sich alles in deiner Seele regt, wovon du nichts
    erfährst, oder worüber du falsch berichtet wirst. Du be-
    nimmst dich wie ein absoluter Herrscher, der.es sich an den
    Informationen seiner obersten Hofämter genügen läßt und
    nicht zum Volk herabsteigt, um dessen Stimme zu hören,
    Geh in dich, in deine Tiefen und lerne dich eist kennen, dann
    wirst du verstehen, warum du krank werden mußt, und viel-
    leicht vermeiden, krank zu werden,“

    So wollte die Psychoanalyse das Ich belehren. Aber die
    beiden Aufklärungen, daß das Triebleben der Sexualität in
    uns nicht voll zu bändigen ist, und daß die seelischen Vor-
    gänge an sich unbewußt sind und nur durch eine unvoll-
    ständige und unzuverlåssige Wahrnehmung dem Ich zugäng-
    lich und ihm unterworfen werden, kommen der Behauptung
    gleich, daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen
    Haus. Sie stellen miteinander die dritte Kránkung der Éigen-
    liebe dar, die ich die psychológische nennen móchte. Kein
    Wunder daher, daß das Ich der Psychoanalyse nicht seine
    Gunst zuwendet und ihr hartnäckig den Glauben verweigert.

    Die wenigsten Menschen dürften sich klar gemacht haben,
    einen wie folgenschweren Schritt die Annahme unbewuBter
    seelischer Vorgänge für Wissenschaft und Leben bedeuten

  • S.

    XXX. EINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE. 563

    würde, Beeilen wir uns aber hinzuzufügen, daß nicht die
    Psychoanalyse diesen Schritt zuerst gemacht hat. Es sind
    namhafte Philosophen als Vorgänger anzuführen, vor allen
    der große Denker Schopenhauer, dessen unbewußter
    „Wille“ den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzu-
    setzen ist. Derselbe Denker übrigens, der in Worten von un-
    vergeßlichem Nachdruck die Menschen an die immer noch
    unterschätzte Bedeutung ihres Sexualstrebens gemahnt hat,
    Die Psychoanalyse hat nur das eine voraus, daß sie die beiden
    dem Narzißmus so peinlichen Sätze von der psychischen Be-
    deutung der Sexualität und von der Unbewußtheit des Seelen-
    lebens nicht abstrakt behauptet, sondern an einem Material
    erweist, welches jeden einzelnen persönlich angeht und seine
    Stellungnahme zu diesen Problemen erzwingt. Aber gerade
    darum lenkt sie die Abneigung und die Widerstände auf sich,
    welche den großen Namen des Philosophen noch scheu
    vermeiden,