S.
V.
Hysterische Phantasien und ihre Beziehung
zur Bisexualität").Allgemein bekannt sind die Wahndichtungen der Paranoiker,
welche die Größe und die Leiden des eigenen Ichs zum Inhalt
haben und in ganz typischen, fast monotonen Formen auftreten.
Durch zahlreiche Mitteilungen sind uns ferner die sonderbaren
Veranstaltungen bekannt geworden, unter denen gewisse Perverse
jhre sexuelle Befriedigung — in der Idee oder Realität — in
Szene setzen. Dagegen dürfte es manchen wie eine Neuheit
klingen zu erfahren, daß ganz analoge psychische Bildungen
bei allen Psychoneurosen, speziell bei Hysterie, regelmäßig vor-
kommen, und daß diese — die sogenannten hysterischen Phan-
tasien — wichtige Beziehungen zur Verursachung der neuroti-
schen Symptome erkennen lassen.Gemeinsame Quelle und normales Vorbild all dieser phan-
tastischen Schöpfungen sind die sogenannten Tagträume der
Jugend, die in der Literatur bereits eine gewisse, obwohl noch
nicht zureichende Beachtung gefunden haben?). Bei beiden Ge-
schlechtern vielleicht gleich häufig, scheinen sie bei Mädchen
und Frauen durchweg erotischer, bei Männern erotischer oder
ehrgeiziger Natur zu sein. Doch darf man die Bedeutung des1) Zeitschrift für Sexualwissenschaft, herausgegeben von Hirschfeld,
1, 1908.?) Vgl. Breuer und Freud, Studien über Hysterie, 1895, 2. Aufl, 1909. —
P. Janet, Névroses et ideés fixes, I. (Les réveries subconscientes.) 1898. —
Havelock Ellis, Geschlechtstrieb und Schamgefühl (deutsch von Kótscher).
1900. — Freud, Traumdeutung, 1900, 3. Aufl, 1911. — A. Pick, Uber
pathologische Tråumerei und ihre Beziehungen zur Hysterie, Jahrbuch fiir
Psychiatrie und Neurologie, XIV, 1896.S.
139
erotischen Momentes auch bei Männern nicht in die zweite Linie
rücken wollen; bei nåherem Eingehen in den Tagtraum des
Mannes ergibt sich gewöhnlich, daß all diese Heldentaten nur
verrichtet, alle Erfolge nur errungen werden, um einem Weibe
zu gefallen und von ihr anderen Männern vorgezogen zu werden‘).
Diese Phantasien sind Wunschbefriedigungen, aus der Entbehrung
und der Sehnsucht hervorgegangen; sie fiihren den Namen
»Tagtriume" mit Recht, denn sie geben den Schlüssel zum Ver-
stindnis der nächtlichen Träume, in denen nichts anderes als
solche komplizierte, entstellte und von der bewuBten psychischen
Instanz mifverstandene Tagesphantasien den Kern der Traum-
bildung herstellen?).Diese Tagtriume werden mit großem Interesse besetzt,
sorgfältig gepflegt und meist sehr schamhaft behiitet, als ob sie
zu den intimsten Gütern der Persönlichkeit zählten. Auf der
Straße erkennt man aber leicht den im Tagtraum Begriffenen
an einem plötzlichen, wie abwesenden Lächeln, am Selbstgespräch
oder an der laufartigen Beschleunigung des Ganges, womit er
den Höhepunkt der ertriumten Situation bezeichnet. — Alle
hysterischen Anfälle, die ich bisher untersuchen konnte, erwiesen
sich nun als solche unwillkürlich hereinbrechende Tagträume.
Die Beobachtung läßt nämlich keinen Zweifel darüber, daß es
solche Phantasien ebensowohl unbewußt gibt wie bewußt, und
sobald dieselben zu unbewußten geworden sind, können sie auch
pathogen werden, d. h. sich in Symptomen und Anfällen aus-
drücken. Unter günstigen Umständen kann man eine solche
unbewußte Phantasie noch mit dem Bewußtsein erhaschen. Eine
meiner Patientinnen, die ich auf ihre Phantasien aufmerksam
gemacht hatte, erzählte mir, sie habe sich einmal auf der Straße
plötzlich in Tränen gefunden, und bei raschem Besinnen, wor-
über sie eigentlich weine, sei sie der Phantasie habhaft ge-
worden, daß sie mit einem stadtbekannten (ihr aber persönlich
unbekannten) Klaviervirtuosen ein zärtliches Verhältnis einge-
gangen sei, ein Kind von ihm bekommen habe (sie war kinder-
los), und dann mit dem Kinde von ihm im Elend verlassen1) Ähnlich urteilt hierüber H. Ellis, 1. e., p. 185.
2) Vgl. Freud, Traumdeutung, 3. Aufl, p. 331 u. f.S.
140
worden sei. An dieser Stelle des Romanes brachen ihre
Tränen aus.Die unbewuBten Phantasien sind etweder von jeher un-
bewußt gewesen, im Unbewußten gebildet worden oder, was
der håufigere Fall ist, sie waren einmal bewußte Phantasien,
Tagträume, und sind dann mit Absicht vergessen worden, durch
die „Verdrängung“ ins Unbewußte geraten. Ihr Inhalt ist dann
entweder der nämliche geblieben oder er hat Abiinderungen
erfahren, so daß die jetzt unbewußte Phantasie einen Abkómmling
der einst bewuBten darstellt. Die unbewuBte Phantasie steht nun
in einer sehr wichtigen Beziehung zum Sexualleben der Person:
sie ist nämlich identisch mit der Phantasie, welche derselben
während einer Periode von Masturbation zur sexuellen Be-
friedigung gedient hat. Der masturbatorische (im weitesten Sinne:
onanistische) Akt setzte sich damals aus zwei Stiicken zusammen,
aus der Hervorrufung der Phantasie und aus der aktiven Leistung
zur Selbstbefriedigung auf der Hohe derselben. Diese Zusammen-
setzung ist bekanntlich selbst eine Verlötung!). Ursprünglich
war die Aktion eine rein autoerotische Vornahme zur Lust-
gewinnung von einer bestimmten, erogen zu nennenden Körper-
stelle. Später verschmolz diese Aktion mit einer Wunschvorstellung
aus dem Kreise der Objektliebe und diente zur teilweisen
Realisierung der Situation, in welcher diese Phantasie gipfelte,
Wenn dann die Person auf diese Art der masturbatorisch-
phantastischen Befriedigung verzichtet, so wird die Aktion unter-
lassen, die Phantasie aber wird aus einer bewußten zu einer
unbewußten. Tritt keine andere Weise der sexuellen Befriedigung
ein, verbleibt die Person in der Abstinenz und gelingt es ihr
nicht, ihre Libido zu sublimieren, d. h. die sexuelle Erregung
auf ein höheres Ziel abzulenken, so ist jetzt die Bedingung
dafür gegeben, daß die unbewußte Phantasie aufgefrischt werde,
wuchere und sich mit der ganzen Macht des Liebesbedürfnisses
wenigstens in einem Stück ihres Inhaltes als Krankheitssymptom
durchsetze.Für eine ganze Reihe von hysterischen Symptomen sind
solcherart die unbewußten Phantasien die nächsten psychischen1) Vgl. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 1905, 2. Aufl. 1909.
S.
141
Vorstufen. Die hysterischen Symptome sind nichts anderes als
die durch „Konversion“ zur Darstellung gebrachten unbewuBten
Phantasien, und insofern es somatische Symptome sind, werden
sie häufig genug aus dem Kreise der nämlichen Sexualempfindungen
und motorischen Innervationen entnommen, welche ursprünglich
die damals noch bewußte Phantasie begleitet haben. Auf diese
Weise wird die Onanieentwöhnung eigentlich rückgängig ge-
macht und das Endziel des ganzen pathologischen Vorganges,
die Herstellung der seinerzeitigen primären Sexualbefriedigung,
wird dabei zwar niemals vollkommen, aber immer in einer Art
von Annäherung erreicht.Das Interesse desjenigen, der die Hysterie studiert, wendet
sich alsbald von den Symptomen derselben ab und den Phan-
tasien zu, aus welchen erstere hervorgehen. Die Technik der
Psychoanalyse gestattet es, von den Symptomen aus diese un-
bewußten Phantasien zunächst zu erraten und dann im Kranken
bewußt werden zu lassen. Auf diesem Wege ist nun gefunden
worden, daß die unbewußten Phantasien der Hysteriker den be-
wußt durchgeführten Befriedigungssituationen der Perversen in-
haltlich völlig entsprechen, und wenn man um Beispiele solcher
Art verlegen ist, braucht man sich nur an die welthistorischen
Veranstaltungen der römischen Cäsaren zu erinnern, deren Tollheit
natürlich nur durch die uneingeschränkte Machtfülle der Phan-
tasiebildner bedingt ist. Die Wahnbildungen der Paranoiker sind
ebensolche, aber unmittelbar bewußt gewordene Phantasien, die von
der masochistisch-sadistischen Komponente des Sexualtriebes ge-
tragen werden und gleichfalls in gewissen unbewußten Phantasien
der Hysterischen ihre vollen Gegenstücke finden können. Bekannt
ist übrigens der auch praktisch bedeutsame Fall, daß Hysteriker
ihre Phantasien nicht als Symptome, sondern in bewußter Reali-
sierung zum Ausdrucke bringen und somit Attentate, Mißhand-
lungen, sexuelle Aggressionen fingieren und in Szene setzen.Alles, was man über die Sexualität der Psychoneurotiker
erfahren kann, wird auf diesem Wege, der psychoanalytischen
Untersuchung, der von den aufdringlichen Symptomen zu den
verborgenen unbewußten Phantasien führt, ermittelt, darunter
also auch das Faktum, dessen Mitteilung in den Vordergrund
dieser kleinen vorläufigen Veröffentlichung gerückt werden soll.S.
142
Wahrscheinlich infolge der Schwierigkeiten, die dem Be-
streben der unbewuBten Phantasien, sich Ausdruck zu ver-
schaffen, im Wege stehen, ist das Verhältnis der Phantasien zu
den Symptomen kein einfaches, sondern ein mehrfach kom-
pliziertes!). In der Regel, d. h. bei voller Entwicklung und
nach längerem Bestande der Neurose, entspricht ein Symptom
nicht einer einzigen unbewußten Phantasie, sondern einer Mehr-
zahl von solchen, und zwar nicht in willkürlicher Weise,
sondern in gesetzmäßiger Zusammensetzung. Zu Beginn des
Krankheitsfalles werden wohl nicht alle diese Komplikationen
entwickelt sein.Dem allgemeinen Interesse zuliebe iiberschreite ich hier
den Zusammenhang dieser Mitteilung und füge eine Reihe von
Formeln ein, die sich bemühen, das Wesen der hysterischen
Symptome fortschreitend zu erschópfen. Sie widersprechen
einander nicht, sondern entsprechen teils vollstindigeren und
schärferen Fassungen, teils der Anwendung verschiedener
Gesichtspunkte.1. Das hysterische Symptom ist das Erinnerungssymbol
gewisser wirksamer (traumatischer) Eindrücke und Erlebnisse,2, Das hysterische Symptom ist der durch „Konversion“
erzeugte Ersatz für die assoziative Wiederkehr dieser trauma-
tischen Erlebnisse,3. Das hysterische Symptom ist — wie auch andere psy-
chische Bildungen — Ausdruck einer Wunscherfüllung.4. Das hysterische Symptom ist die Realisierung einer der
Wunscherfüllung dienenden, unbewuBten Phantasie.5, Das hysterische Symptom dient der sexuellen Befriedi-
gung und stellt einen Teil des Sexuallebens der Person dar
(entsprechend einer der Komponenten ihres Sexualtriebes),6. Das hysterische Symptom entspricht der Wiederkehr
einer Weise der Sexualbefriedigung, die im infantilen Leben
real gewesen und seither verdrängt worden ist.7. Das hysterische Symptom entsteht als Kompromi( aus
zwei gegensiitzlichen Affekt- oder Triebregungen, von denen die1) Das nåmliche gilt für die Beziehung zwischen den , latenten* Traum-
gedanken und den Elementen des ,,manifesten““ Trauminhaltes. S. den Ab-
schnitt über die ,,Traumarbeit“ in des Verf. ,,Traumdeutung““.S.
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eine einen Partialtrieb oder eine Komponente der Sexual-
konstitution zum Ausdrucke zu bringen, die andere dieselbe zu
unterdriicken bemiiht ist.8. Das hysterische Symptom kann die Vertretung ver-
schiedener unbewubter, nicht sexueller Regungen übernehmen,
einer sexuellen Bedeutung aber nicht entbehren.Unter diesen verschiedenen Bestimmungen ist es die
siebente, welche das Wesen des hysterischen Symptoms als
Realisierung einer unbewußten Phantasie am erschöpfendsten
zum Ausdrucke bringt und mit der achten die Bedeutung des
sexuellen Momentes in richtiger Weise würdigt. Manche der
vorhergehenden Formeln sind als Vorstufen in dieser Formel
enthalten.Infolge dieses Verhältnisses zwischen Symptomen und
Phantasien gelingt es unschwer, von der Psychoanalyse der
Symptome zur Kenntnis der das Individuum beherrschenden
Komponenten des Sexualtriebes zu gelangen, wie ich es in den
„Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ ausgeführt habe. Diese
Untersuchung ergibt aber für manche Fälle ein unerwartetes
Resultat. Sie zeigt, daß für viele Symptome die Auflösung
durch eine unbewußte sexuelle Phantasie oder durch eine Reihe
von Phantasien, von denen eine, die bedeutsamste und ursprüng-
lichste, sexueller Natur ist, nicht genügt, sondern daß man zur
Lösung des Symptoms zweier sexueller Phantasien bedarf, von
denen die eine männlichen, die andere weiblichen Charakter
hat, so daß eine dieser Phantasien einer homosexuellen Regung
entspringt. Der in Formel 7 ausgesprochene Satz wird durch
diese Neuheit nicht berührt, so daß ein hysterisches Symptom
notwendigerweise einem Kompromiß zwischen einer libidinösen
und einer Verdrängungsregung entspricht, nebstbei aber einer
Vereinigung zweier libidinöser Phantasien von entgegengesetztem
Geschlechtscharakter entsprechen kann. iIch enthalte mich, Beispiele fiir diesen Satz zu geben.
Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß kurze, zu einem Extrakt
zusammengedrångte Analysen niemals den beweisenden Eindruck
machen können, wegen dessen man sie herangezogen hat. Die
Mitteilung voll analysierter Krankheitsfälle muß aber für einen
andern Ort aufgespart werden.S.
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Ich begniige mich also damit, den Satz aufzustellen und
seine Bedeutung zu erläutern:9. Kin hysterisches Symptom ist der Ausdruck einerseits
einer männlichen, anderseits einer weiblichen, unbewußten
sexuellen Phantasie.Ich bemerke ausdrücklich, daß ich diesem Satz eine ähn-
liche Allgemeingültigkeit nicht zusprechen kann, wie ich sie für
die anderen Formeln in Anspruch genommen habe. Er trifft,
soviel ich sehen kann, weder für alle Symptome eines Falles
noch für alle Fälle zu. Es ist im Gegenteil nicht schwer,
Fälle aufzuzeigen, bei denen die entgegengesetzt geschlechtlichen
Regungen gesonderten symptomatischen Ausdruck gefunden
haben, so daß sich die Symptome der Hetero- und der Homo-
sexualität so scharf voneinander scheiden lassen wie die hinter
ihnen verborgenen Phantasien. Doch ist das in der neunten
Formel behauptete Verhältnis häufig genug, und wo es sich
findet, bedeutsam genug, um eine besondere Hervorhebung zu
verdienen. Es scheint mir die höchste Stufe der Kompliziertheit,
zu der sich die Determinierung eines hysterischen Symptoms
erheben kenn, zu bedeuten, und ist also nur bei langem Bestand
einer Neurose und bei großer Organisationsarbeit innerhalb der-
selben zu erwarten )Die in immerhin zahlreichen Fällen nachweisbare bisexuelle
Bedeutung hysterischer Symptome ist gewiß ein interessanter
Beleg für die von mir aufgestellte Behauptung?), daß die sup-
ponierte bisexuelle Anlage des Menschen sich bei den Psycho-
neurotikern durch Psychoanalyse besonders deutlich erkennen
Jäßt. Ein durchaus analoger Vorgang aus dem nämlichen Ge-
biete ist es, wenn der Masturbant in seinen bewußten Phan-
tasien sich sowohl in den Mann als auch in das Weib der
vorgestellten Situation einzufühlen versucht, und weitere Gegen-
stücke zeigen gewisse hysterische Anfälle, in denen die Kranke
gleichzeitig beide Rollen der zugrunde liegenden sexuellen Phan-1) J. Sadger, der kürzlich den in Rede stehenden Satz durch eigene
Psychoanalysen selbständig aufgefunden hat (Die Bedeutung der psycho-
analytischen Methode nach Freud, Zentralbl. f. Nerv. u. Psych. Nr. 229,
1907) tritt allerdings fiir dessen allgemeine Giiltigkeit ein.?) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie I.
S.
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tasie spielt, also z. B., wie in einem Falle meiner Beobachtung,
mit der einen Hand das Gewand an den Leib preBt (als Weib),
mit der andern es abzureiBen sucht (als Mann). Diese wider-
spruchsvolle Gleichzeitigkeit bedingt zum guten Teile die Un-
verständlichkeit der doch sonst im Anfalle so plastisch darge-
stellten Situation und eignet sich also vortrefflich zur Ver-
hüllung der wirksamen unbewuften Phantasie.Bei der psychoanalytischen Behandlung ist es sehr wichtig,
daß man auf die bisexuelle Bedeutung eines Symptoms vor-
bereitet sei. Man braucht sich dann nicht zu verwundern und
nicht irre zu werden, wenn ein Symptom anscheinend unge-
mindert fortbesteht, obwohl man die eine seiner sexuellen Be-
deutungen bereits gelöst hat. Es stützt sich dann noch auf die
vielleicht nicht vermutete entgegengesetzt geschlechtliche. Auch
kann man bei der Behandlung solcher Fille beobachten, wie
der Kranke sich der Bequemlichkeit bedient, während der Analyse
der einen sexuellen Bedeutung mit seinen Einfällen fortwährend
in das Gebiet der kontråren Bedeutung, wie auf ein benachbartes
Geleise, auszuweichen.Freud, Neurosenlehre. II. 2. Aufl, 10
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