Libidotheorie 1923-021/1928
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    Libidotheorie

    LIBIDO ist ein Terminus aus der Trieblehre, zur Bezeichnung des
    dynamischen Ausdrucks der Sexualität schon von A. Moll in diesem Sinne
    gebraucht (Untersuchungen über die Libido sexualis 1898), vom Referenten
    in die Psychoanalyse eingeführt. Im folgenden soll nur dargestellt werden,
    welche Entwicklungen, die noch nicht abgeschlossen sind, die Trieblehre
    in der Psychoanalyse erfahren hat.

    GEGENSATZ VON SEXUALTRIEBEN UND ICHTRIEBEN.
    Die Psychoanalyse, die bald erkannte, daß sie alles seelische Geschehen über
    dem Kräftespiel der elementaren Triebe aufbauen müsse, sah sich in der

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    übelsten Lage, da es in der Psychologie eine Trieblehre nicht gab und ihr
    niemand sagen konnte, was ein Trieb eigentlich ist. Es herrschte vollste
    Willkür, jeder Psychologe pflegte solche und so viele Triebe anzunehmen,
    als ihm beliebte. Das erste Erscheinungsgebiet, welches die Psychoanalyse
    studierte, waren die sogenannten Übertragungsneurosen (Hysterie und Zwangs-
    neurose). Die Symptome derselben entstanden dadurch, daß sexuelle Trieb-
    regungen von der Persönlichkeit (dem Ich) abgewiesen (verdrängt) worden
    waren und sich auf Umwegen durch das Unbewußte einen Ausdruck ver-
    schafft hatten. Somit konnte man zurechtkommen, wenn man den Sexual-
    trieben Ichtriebe (Selbsterhaltungstriebe) entgegenstellte, und befand
    sich dann in Übereinstimmung mit der populär gewordenen Aussage des
    Dichters, der das Weltgetriebe „durch Hunger und durch Liebe“ erhalten
    werden läßt. Die Libido war in gleichem Sinne die Kraftäußerung der
    Liebe, wie der Hunger des Selbsterhaltungstriebes. Die Natur der Ichtriebe
    blieb dabei zunächst unbestimmt und der Analyse unzugänglich wie alle
    anderen Charaktere des Ichs. Ob und welche qualitativen Unterschiede
    zwischen beiden Triebarten anzunehmen sind, war nicht anzugeben.

    DIE URLIBIDO. Diese Dunkelheit versuchte C. G. Jung auf spekula-
    tivem Wege zu überwinden, indem er nur eine einzige Urlibido annahm,
    die sexualisiert und desexualisiert werden konnte, und also im Wesen mit
    der seelischen Energie überhaupt zusammenfiel. Diese Neuerung war metho-
    disch anfechtbar, sie stiftete viel Verwirrung, setzte den Terminus Libido
    zu einem überflüssigen Synonym herab und mußte in der Praxis doch
    immer zwischen sexueller und asexueller Libido unterscheiden. Der Unter-
    schied zwischen den Sexualtrieben und den Trieben mit anderen Zielen
    war eben auf dem Wege einer neuen Definition nicht aufzuheben.

    DIE SUBLIMIERUNG. Das bedächtige Studium der allein analytisch
    zugänglichen Sexualstrebungen hatte unterdes bemerkenswerte Einzelein-
    sichten ergeben. Was man den Sexualtrieb nannte, war hoch zusammen-
    gesetzt und konnte wieder in seine Partialtriebe zerfallen. Jeder Partialtrieb
    war unabänderlich charakterisiert durch seine Quelle, nämlich die Körper-
    region oder Zone, aus welcher er seine Erregung bezog. Außerdem war an
    ihm ein Objekt und ein Ziel zu unterscheiden. Das Ziel war immer
    die Befriedigungsabfuhr, es konnte aber eine Wandlung von der Aktivität
    zur Passivität erfahren. Das Objekt hing dem Trieb minder fest an als
    man zunächst gemeint hatte, es wurde leicht gegen ein anderes eingetauscht‚
    auch konnte der Trieb, der ein äußeres Objekt gehabt hatte, gegen die

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    eigene Person gewendet werden. Die einzelnen Triebe konnten unabhängig
    voneinander bleiben oder – in noch unvorstellbarer Weise – sich kom-
    binieren, zur gemeinsamen Arbeit verschmelzen. Sie konnten auch für-
    einander eintreten, einander ihre Libidobesetzung übertragen, so daß die
    Befriedigung des einen an Stelle der Befriedigung der anderen trat. Am
    bedeutsamsten erschien das Triebschicksal der Sublimierung, bei dem
    Objekt und Ziel gewechselt werden, so daß der ursprünglich sexuelle Trieb
    nun in einer nicht mehr sexuellen, sozial oder ethisch höher gewerteten
    Leistung Befriedigung findet. Alles dies sind Züge, welche sich noch zu
    keinem Gesamtbild zusammensetzen.

    DER NARZISSMUS. Ein entscheidender Fortschritt erfolgte, als man
    sich an die Analyse der Dementia praecox und anderer psychotischer Afk-
    tionen heranwagte und somit das Ich selbst zu studieren begann, das man
    bisher nur als verdrängende und widerstrebende Instanz gekannt hatte. Man
    erkannte als den pathogenen Vorgang bei der Demenz, daß die Libido von
    den Objekten abgezogen und ins Ich eingeführt wird, während die lärmenden
    Krankheitserscheinungen von dem vergeblichen Bestreben der Libido her-
    rühren, den Rückweg zu den Objekten zu finden. Es war also möglich,
    daß sich Objektlibido in Ichbesetzung umwandte, und umgekehrt. Weitere
    Erwägungen zeigten, daß dieser Vorgang im größten Ausmaß anzunehmen
    sei, daß das Ich vielmehr als ein großes Libidoreservoir angesehen werden
    mußte, aus dem Libido auf die Objekte entsandt wird, und das immer
    bereit ist, die von den Objekten rückströmende Libido aufzunehmen. Die
    Selbsterhaltungstriebe waren also auch libidinöser Natur, es waren Sexual-
    triebe die anstatt der äußeren Objekte das eigene Ich zum Objekt genommen 
    hatten. Man kannte aus der klinischen Erfahrung Personen, die sich in auf-
    fälliger Weise so benahmen, als wären sie in sich selbst verliebt, und hatte
    diese Perversion Narzißmus genannt. Nun hieß man die Libido der Selbst-
    erhaltungstriebe narzißtische Libido und anerkannte ein hohes Maß von
    solcher Selbstliebe als den primären und normalen Zustand. Die frühere
    Formel für die Übertragungsneurosen bedurfte jetzt zwar nicht einer Kor-
    rektur, aber doch einer Modifikation; anstatt von einem Konflikt zwischen
    Sexualtrieben und Ichtrieben sprach man besser vom Konflikt zwischen
    Objektlibido und Ichlibido, oder, da die Natur der Triebe dieselbe war,
    zwischen den Objektbesetzungen und dem Ich.

    SCHEINBARE ANNÄHERUNG AN DIE JUNGSCHE AUFFASSUNG.
    Auf solche Art gewann es den Anschein, als ob auch die langsame psychoanalytischen

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    analytischeForschung der Jungschen Spekulation von der Urlibido nach-
    gekommen wäre, besonders da mit der Umwandlung der Objektlibido in
    Narzißrnus eine gewisse Desexualisierung, ein Aufgeben der speziellen Sexual-
    ziele, unvermeidlich verbunden ist. Indes drängt sich die Erwägung auf,
    daß, wenn die Selbsterhaltungstriebe des Ichs als libidinös anerkannt sind,
    damit noch nicht bewiesen ist, daß im Ich keine anderen Triebe wirken.

    DER HERDENTRIEB. Von vielen Seiten wird behauptet, daß es einen
    besonderen, angeborenen und nicht weiter auflösbaren „Herdentrieb“ gibt, der
    das soziale Verhalten der Menschen bestimmt, die einzelnen zur Vereinigung
    in größeren Gemeinschaften drängt. Die Psychoanalyse muß dieser Auf-
    stellung widersprechen. Wenn der soziale Trieb auch angeboren sein mag,
    so ist er doch ohne Schwierigkeit auf ursprünglich libidinöse Objekt-
    besetzungen zurückzuführen und entwickelt sich beim kindlichen Indivi-
    duum als Reaktionsbildung auf feindselige Rivalitätseinstellungen. Er beruht
    auf einer besonderen Art von Identifizierung mit dem anderen.

    ZIELGEHEMMTE SEXUALSTREBUNGEN. Die sozialen Triebe
    gehören zu einer Klasse von Triebregungen, die man noch nicht sublimierte
    zu nennen braucht, wenngleich sie diesen nahestehen. Sie haben ihre direkt
    sexuellen Ziele nicht aufgegeben, werden aber von der Erreichung derselben
    durch innere Widerstände abgehalten, begnügen sich mit gewissen An-
    näherungen an die Befriedigung und stellen gerade darum besonders feste
    und dauerhafte Bindungen unter den Menschen her. Von dieser Art sind
    insbesondere die ursprünglich vollsexuellen Zärtlichkeitsbeziehungen zwischen
    Eltern und Kindern, die Gefühle der Freundschaft und die aus sexueller
    Zuneigung hervorgegangenen Gefühlsbindungen in der Ehe.

    ANERKENNUNG ZWEIER TRIEBARTEN IM SEELENLEBEN.
    Während die psychoanalytische Arbeit sonst bestrebt ist, ihre Lehren mög-
    lichst unabhängig von denen anderer Wissenschaften zu entwickeln, sieht
    sie sich doch genötigt, für die Trieblehre Anlehnung bei der Biologie zu
    suchen. Auf Grund weitläufiger Erwägungen über die Vorgänge, die das
    Leben ausmachen und die zum Tode führen, wird es wahrscheinlich, daß
    man zwei Triebarten anzuerkennen hat, entsprechend den entgegengesetzten
    Prozessen von Aufbau und Abbau im Organismus. Die einen Triebe, die
    im Grunde geräuschlos arbeiten, verfolgten das Ziel, das lebende Wesen
    zum Tode zu führen, verdienten darum den Namen der „Todestriebe
    und würden, durch das Zusammenwirken der vielen zelligen Elementarorganisme

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    nach außen gewendet, als Destruktions‑oder Aggressions-
    tendenzen zum Vorschein kommen. Die anderen wären die uns analytisch
    besser bekannten libidinösen Sexual‑ oder Lebenstriebe, am besten als Eros
    zusammengefaßt, deren Absicht es wäre, aus der lebenden Substanz immer
    größere Einheiten zu gestalten, somit die Fordauer des Lebens zu erhalten
    und es zu höheren Entwicklungen zu führen. In den Lebewesen wären die
    erotischen und die Todestriebe regelmäßige Vermischungen, Legierungen,
    eingegangen; es wären aber auch Entmischungen derselben möglich; das
    Leben bestünde in den Äußerungen des Konflikts oder der Interferenz
    beider Triebarten und brächte dem Individuum den Sieg der Destruktions-
    triebe durch den Tod, aber auch den Sieg des Eros durch die Fortpflanzung.

    DIE NATUR DER TRIEBE. Auf dem Boden dieser Auffassung läßt
    sich für die Triebe die Charakteristik geben, sie seien der lebenden Substanz
    innewohnende Tendenzen zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes,
    also historisch bedingt, konservativer Natur, und gleichsam der Ausdruck
    einer Trägheit oder Elastizität des Organischen. Beide Triebarten‚ der Eros
    wie der Todestrieb, würden von der ersten Entstehung des Lebens an wirken
    und gegen einander arbeiten.