Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Paranoia 1915-006/1931
  • S.

    und einem Symptom 1}

    an diesem Verhalten auch nichts, wenn man ihnen vorhält,
    was sie ohnedies alle wissen, daß der Gruß durch Hut—
    abnehmen eine Erniedrigung vor dem Begrüßten bedeutet,
    daß z. B. ein Grande von Spanien das Varrecht genoß, in
    Gegenwart des Königs hedeckten Haupte- zu bleiben, und
    daß ihre Grußernpfindlichkeit also den Sinn hat, sich nicht
    geringer darzustellen, als der andere sich dünkt. Die
    Resistenz ihrer Empfindlichkeit gegen solche Aufklärung läßt
    die Vermutung zu, daß man die Wirkung eines dem Bewußt-
    sein weniger gut bekannten Motiv: vor sich hat, und die
    Quelle dieser Verstärkung könnte leicht in der Beziehung
    zum Kastrationskomplex gefunden werden.

    MITTEILUNG EINES DER
    PSYCHOANALYTISCHEN THEORIE
    \VIDERSPRECHENDEN FALLES

    VON PARANOIA
    (wir)

    Vor Jahren ersuchte mich ein bekannter Rechtsanwalt um
    Begutachtung eines Falles, dessen Auffassung ihm zweifelhaf:
    erschien. Eine junge Dame hatte sich an ihn gewendet, um
    Schutz gegen die Verfolgungeu eines Mannes zu finden, der
    sie zu einem Liebesverhältnis hewogcn hatte. Sie behauptete,
    daß dieser Mann ihre Gefügigkeit mißbraucht hatte, um von
    ungesehenen Zuschauern photographische Aufnahmen ihres
    zärtlichen Beisammenseins herstellen zu lim; nun läge es
    in seiner Hand, sie durch das Zeigen dieser Bilder zu be-
    schiimen und zum Aufgeben ihrer Stellung zu zwingen. Der
    Rechtsfreund war erfahren genug, das krankhafte Gepräge
    dieser Anklage zu erkennen, meinte aber, es komme so viel

  • S.

    14 Ein der p;yrboannlykirchm Theorie

    im Leben vor, was man für unglaubwiirdig halten möchte,
    daß ihm das Urteil eines Psychiater: über die Suche wertvoll
    wäre. Er versprach, mich ein nächstes Mal in Gesellschaft
    der Klägerin zu besuchen.

    Ehe ich meinen Bericht fortsetze, will ich bekennen, daß
    ich das Milieu der zu untersuchenden Begebenheit zur
    Unkenntlichkeit verändert habe, aber auch nichts anderes
    als dies. Ich halte es sonst für einen Mißbrauch, aus irgend
    welchen, wenn auch aus den besten Motiven Züge einer
    Krankengeschichte in der Mitteilung zu entstellen, da man
    unmöglich wissen kann, welche Seite des Falls ein selb<
    ständig urteilender Leser herausgreifen wird, und somit
    Gefahr läuft, diesen letzteren in die Irre zu führen.

    Die Patientin, die ich nun bald darauf kennen lernte, war
    ein dreißigy'ähriges Mädchen von ungewöhnlicher Anmut
    und Schönheit; sie schien viel jünger zu sein, als sie angab,
    und machte einen echt weiblichen Eindruck. Gegen den Arzt
    benahm sie sich voll ablehnend und gab sich keine Mühe,
    ihr Mißtrauen zu verbergen. Offenbar nur unter dem Drucke
    des mitanwesenden Rechtsfreundes erzählte sie die folgende
    Geschichte, die mit ein später zu erwähnendes Problem
    aufgab. Ihre Mienen und Afiektäußerungen verrieten dabei
    nichts von einer scharnhaften Befangenheit, wie sie der Ein-
    stellung zu dem fm„dm Zuhörer enßprochen hätte. Sie
    stand ausschließlich unter dem Bann: der Besorgnis, die sich
    aus ihrem Erlebnis ergeben hatte.

    Sie war jahrelang Angestellte in einem großen Institut
    gewesen, in dem sie einen verantwortlichen Posten zur
    eigenen Befriedigung und zur Zufriedenheit der Vorgesetzten
    innehatte. Liebesbeziehungen zu Männern hätte sie nie
    gesucht; sie lebte ruhig neben einer alten Mutter, deren
    einzige Stütze sie war. Geschwister fehlten, der Vater war
    vor vielen Jahren gestorben. In der letzten Zeit hatte sich

  • S.

    win’mpyecbendey Fall vor; Pumrmin :;

    ein männlicher Beamter desselben Bureaus ihr genähert, ein
    sehr gebildeter, einnehmender Mann, dem auch sie ihre
    Sympathie nicht versagen konnte Eine Heirat zwischen
    ihnen war durch äußere Verhältnisse ausgeschlossen, aber
    der Mann Wollte nichts davon wissen, dieser Unmöglichkeit
    wegen den Verkehr aufzugeben. Er hielt ihr vor, wie
    unsinnig es sei, wegen sozialer Konventionen auf alles zu
    verzichten, was sie sich beide wünschten, worauf sie ein
    unzweifelhaftes Anrecht hätten, und was wie nichts anderes
    zur Erhöhung des Lebens beiträge. Da er versprochen hatte,
    sie nicht in Gefahr zu bringen, willigte sie endlich ein, ihn
    in seiner ]unggesellenwohnung bei Tage zu besuchen. Dort
    kam es nun zu Küssen und Umarmlingen, sie lagerteu sich
    nebeneinander, er bewunderte ihre zum Teil enthüllt:
    Schönheit. Mitten in dieser Schäferstunde wurde sie durch
    ein einmaliges Geräusch wie ein Pochen oder Tieken er-
    schreckt. Es kam von der Gegend des Schreibtische: her.
    welcher schräg vor dem Fenster stand; der Zwi‚schenraum
    zwischen Tisch und Fenster war zum Teil von einem
    schweren Vorhang eingenommen. Sie erzählte, daß sie den
    Freund sofort nach der Bedeutung des Geräuscbes gefragt
    und von ihm die Auskunft bekommen hatte, es führe wahr-
    scheinlich von der kleinen, auf dem Schreibtisch befindlichen
    Stehuhr her; ich werde mir aber die Freiheit nehmen, zu
    diesem Teil ihres Berichts später eine Bemerkung zu
    machen.

    Als sie das Haus verließ, traf sie noch auf der Treppe
    mit zwei Männern zusammen, die bei ihremAubliek einan®r
    etwas zuflüsterten. Einer der beiden Unbelvnnten trug einen
    verhüllten Gegenstand wie ein Kästchen. Die Begegnung
    beschäftigte ihre Gedanken; noch auf dem Heimwege bildete
    sie die Kombination, dies Kästchen könnte leicht ein phone-
    graphischer Apparat gewesen „in, der Mann, der es trug,

  • S.

    16 Ein der psycbaanalyzirclzen Theorie

    ein Photograph, der während ihrer Anwesenheit im Zimmer
    hinter dem Vorhang versteckt geblieben war, und das
    Ticken, das sie gehört, das Geräusch des Abdrückens, nach-
    dem der Mann die besonders verfängliche Situation heraus-
    gefunden, die er im Bilde festhalten wollte. Ihr Argwohn
    gegen den Geliebten war von da an nicht mehr zum
    Schweigen zu bringen; sie verfolgte ihn mündlich und
    schriftlich mit der Anforderung, ihr Aufklärung und Be-
    ruhigung zu geben, und mit Vorwürfen, erwies sich aber
    unzugänglich gegen die Versicherungen, die er ihr machte,
    mit denen er die Aufrichtigkeit seiner Gefühle und die
    Grundlosiglseit ihrer Verdächtigung vertrat. Endlich wandte
    sie sich an den Advokaten‚ erzählte ihm ihr Erlebnis und
    übergab ihm die Briefe, die sie in diese: Angelegenheit von
    dem Verdächtigten erhalten hatte. Ich konnte später in
    einige dieser Briefe Einsicht nehmen; sie machten mir den
    besten Eindruck; ihr Hauptinhalt war das Bedauem‚ daß
    ein so schönes, zärtliches Einvernehmen durch diese „un—
    glückselige, krankhafte Idee“ zerstört worden sei.

    Es bedarf wohl keiner Rechtfertigung, daß ich das Urteil
    des Beschuldigten auch zu dem meinigen machte. Aber der
    Fall hatte für mich ein anderes als bloß diagnostisches
    Interesse. Es war in der psychoanalytischen Literatur be—
    hauptet werden, daß der Paranoiker gegen eine Verstärkung
    seiner homosexuellen Strebungen ankämpft, was im Grunde
    auf eine narzißtische Objektwahl zurückweist. Es war ferner
    gedeutet worden, daß der Verfolger im Grunde der Geliebte
    oder der ehemals Geliebte sei. Aus der Zusammensetzung
    beider Aufstellungen ergibt sich die Forderung, der Ver-
    folger müsse von demselben Geschlechte sein, wie der Ver-
    folgte. Den Satz von der Bedingtheit der Paranoia durch die
    Homosexualität hatten wir allerdings nicht als allgemein
    ig hingestellt, aber nur darum nicht,

    und ausnahmslos g‘

  • S.

    widersprecbemiev m von Paranoia 17

    weil unsere Beobachtungen nicht genug zahlreich waren. Er
    gehörte sonst zu jenen, die infolge gewisser Zusammenhänge
    nur dann hedeutungsvoll sind. wenn sie Allgemeinheit bean—
    spruchcn können. In der psychiatrischen Literatur fehlte es
    gewiß nicht an Fällen, in denen sich der Kranke von An-
    gehörigen des anderen Geschlechts verfolgt glaubte, aber
    es blieb ein anderer Eindruck, von solchen Fällen zu lesen,
    als einen derselben selbst vor sich zu sehen. Was ich und
    meine Freunde hatten beobachten und analysieren können.
    hatte bisher die Beziehung der Paranoia zur Homosexualität
    ohne Schwierigkeit bestätigt. Der hier vorgdühne Fall
    sprach mit aller Entschiedenheit dagegen. Das Mädchen
    schien die Liebe zu einem Mann abzuwehren, indem sie den
    Geliebten unmittelbar in den Verfolger verwandelte; vom
    Einfluß des Weibes, von einem Sträuhen gegen eine horn0«
    sexuelle Bindung war nichts zu finden.

    Bei dieser Sachlage war es wohl das Einfachxte, die Partei-
    nahme für eine allgemein giiln'ge Abhängigkeit des Ver
    folgungswahnes von der Homosexualität und alles, was sich
    weiter daran knüpfte, wieder aufzugeben. Man mußte wohl
    auf diese Erkenntnis verzichten, wenn man sich nicht etwa
    durch diese Abweichung von der Erwartung bestimmen ließ,
    sich auf die Seite des Rechtsfreundes zu schlagen und wie
    er ein richtig gedeutetes Erlebnis anstatt einer paranoischen
    Kombination anzuerkennen. Ich sah aber einen anderen Aus-
    weg, welcher die Entscheidung zunächst hinausschnb. Ich
    erinnerte mich daran, wie oft man in die Lage gekommen
    war, psychisch Kranke falsch zu beurteilen, weil man sich
    nicht eindringlich genug mit ihnen beschäftigt und so zu
    wenig von ihnen erfahren hatte. Ich erklärte also, es sei mir
    unmöglich, heute ein Urteil zu äußern, und bitte sie viel-
    mehr, mich ein zweites Mal zu besuchen, um mir die Ge-
    schichte ausführlicher und mit allen, diesmal vielleicht

  • S.

    18 Ein der piyrbvanulytiscben Theorie

    übergangenen Nebenumständen zu erzählen. Durch die Ver»
    mittlung des Advokaten erreichte ich dies Zugestänclnis von
    der sonst unwilligen Patientin; er kam mir auch durch die
    Erklärung zu Hilfe, daß bei dieser zweiten Unterredung
    seine Anwesenheit überflüssig sei.

    Die zweite Erzählung der Patientin hob die frühere nicht
    auf, brachte aber solche Ergänzungen, daß alle Zweifel und
    Schwierigkeiten wegfielen. Vor allem, sie hatte den jungen
    Mann nicht einmal, sondern zweimal in seiner Wohnung
    besucht. Beim zweiten Zusammensein ereignete sich die
    Störung durch das Geräusch, an welches sie ihren Verdacht
    angeknüpft hatte; den ersten Besuch hatte sie bei der ersten
    Mitteilung unterschlagen, ausgelassen, weil er ihr nicht mehr
    bedeutsam vorkam. Bei diesem ersten Besuch hatte sich
    nichts Auffälliges zugetragen, wohl aber am Tage nachher.
    Die Abteilung des großen Unternehmens, bei welcher sie
    tätig war, stand unter der Leitung einer alten Dame, die
    sie mit den Worten beschrieb: Sie hat weiße Haare wie
    meine Mutter. Sie war es gewöhnt, von dieser alten Vur<
    gesetzten sehr zärtlich behandelt, auch wohl manchmal
    geneckt zu werden, und hielt sich für ihren besonderen
    Liebling. Am Tage nach ihrem ersten Besuch bei dem jungen
    Beamten erschien dieser in den Geschäftsräumen, um der
    alten Dame etwas dienstlich mitzuteilen, und während er
    leise mit dieser sprache entstand in ihr plötzlich die Gewiß-
    heit, er mache ihr Mitteilung von dem gestrigen Abenteuer,
    ja, er unterhalte längst ein Verhältnis mit ihr, von dem sie
    selbst nur bisher nichts gemerkt habe. Die weißhaarige,
    mütterliche Alte wisse nun alles. Im weiteren Verlaufe des
    Tages konnte sie aus dem Benehmen und den Äußerungen
    der Alm diesen ihren Verdacht bekräftigen. Sie ergriff die
    nächste Gelegenheit, den Geliebten wegen seines Verrates zur
    Rede zu stellen. Der striiul>te sich natürlich energisch gegen

  • S.

    widersprecbemier an „in. Punmoia 19

    das, Was er eine unsinnige Zumutung hieß, und es gelang
    ihm in der Tat, sie für diesmal von ihrem Wahn abzuhringen,
    so daß sie einige Zeit -- ich glaube einige Wochen — später
    vertrauensvoll genug war, den Besuch in seiner Wohnung
    zu wiederholen. Das Weitere ist uns aus der ersten Erzählung
    der Patientin bekannt.

    Weis wir neu erfahren haben, macht zunächst dem Zweifel
    an der krankhaften Natur der Verdächtigung ein Ende.
    Unschwer erkennt man, daß die weißhaarige Verstehe—rin
    ein Mutterersatz ist, daß der geliebte Mann rrotz seiner
    Jugend an die Stelle des Vaters gerückt wird, und daß es
    die Macht des Mutterl—romplexes ist, Welche die Kranke
    zwingt, ein Liebesverh'a'ltnis zwischen den beiden ungleichen
    Partnern, aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotze, anzunehmen.
    Damit verfliichtigt sich aber auch der mscheinmde Wider-
    spruch gegen die von der psychoanzlytischen Lehre genä'hrte
    Erwartung, eine überstarke homosexuelle Bindung werde
    sich als die Bedingung zur Entwicklung eines Verfolgungs-
    wahnes herausstelleu. Der ursprüngliche Verfolger, die In-
    stanz, deren Einfluß man sich entziehen will, ist auch in
    diesem Falle nicht der Mann, sondern das Weib. Die Vor-
    steherin weiß von den Liebesbeziehnngen des Mädchens,
    mißbilligt sie und gib: ihr diese Verurteilung durch ge-
    heimnisvolle Andeutungen zu erkennen. Die Bindung an das
    gleiche Geschlecht widersetzt sich den Bemühungen, ein
    Mitglied des anderen Geschlechts zum Liebesobjekt zu ge-
    winnen. Die Liebe zur Mutter wird zur Worrfiihrerin all
    der Strebungen, welche in der Rolle eines „Gewissens“ das
    Mädchen bei dem ersten Schritt auf dem neuen, in vielen
    Hinsichten gefährlichen Weg zur normzlen Sexualhefriedi-
    gung zurückhalten wollen, und sie erreicht es auch, die
    Beziehung zum Manne zu stören.

    Wenn die Mutter die Sexualbetäzigung der Tochter

  • S.

    30 Ein der p;ycboarmlylixcberl Theorie

    hemmt oder aufhält, so erfüllt sie eine normale Funktion.
    welche durch Kindheitsbeziehungen vorgezeichnet ist, starke
    unbewußte Motivierungen besitzt und die Sanktion der
    Gesellschaft gefunden hat. Sache der Tochter ist es, sich
    von diesem Einfluß abzulösen und sich auf Grund breiter,
    ratianeller Motivierung fiir ein Maß von Gestattung oder
    Versagung des Sexualgenusses zu entscheiden. Verfällt sie
    bei dem Versuch dieser Befreiung in neurotischeE1-krznkung,
    so liegt ein in der Regel überstarker, sicherlich aber unbe—
    herrsehter Mutterkomplex vor, dessen Konflikt mit der
    neuen libidinösen Strömung je nach der verwendbaren
    Disposition in der Form dieser Oder im:: Neurose erledigt
    wird. In allen Fällen werden die Erscheinungen der neu-
    rotischen Reaktion nicht durch die gegenwärtige Beziehung
    zur 1ktuellen Mutter, sondern durch die iniantilen Be—
    ziehungen zum urzeitlichen Muttexl>ild bestimmt werden.
    Von unserer Patientin wissen wir, daß sie seit langen
    Jahren vaterlos war; wir dürfen auch annehmen, daß sie
    nicht bis zum Alter von dreißig Jahren frei vom Menue
    geblieben wäre, wenn ihr nicht eine starke Gefühlsbindung
    an die Mutter eine Stütze geboten hätte. Diese Stütze wird
    ihr zur lästigen Fessel, da ihre Libido auf den Anruf einer
    eindringlichen Werbung zum Marine zu streben beginnt.
    Sie sucht sie abzustreifen, sich ihrer homosexuellen Bindung
    zu entledigen. Ihre Disposition —— von der hier nicht die
    Rede zu sein braucht — gestattet, daß dies in der Form
    der paranoischen Walinbildung vor sich gehe. Die Mutter
    wird also zur feindseligen, mißgiinstigen Beobachterin und
    Verfolgerin. Sie könnte zls solche überwunden werden, wenn
    nicht der Mutterkomplex die Macht behielte, die in seiner
    Absicht liegende Fernhaltung vom Mm: durchzusetzen.
    Am Ende diaer ersten Phase des Konflikts hat sie sich also
    der Mutter entfremdet und dem Mann: nicht angeschlossen.

  • S.

    widersprechender Fall „in; Paranoia ‚;

    Beide kompirieren ja gegen sie. Da gelingt es der kräftigen
    Bemühung des Mannes, sie entscheidend an sich zu ziehen.
    Sie überwindet den Einspruch der Mutter und ist bereit,
    dem Geliebten eine neue Zusammenkunft zu gewährm. Die
    Mutter kommt in den weiteren Geschehnissen nicht mehr
    vor; wir dürfen aber daran festhalten, daß in dieser Phase
    der geliebte Mann nicht direkt zum Verfolger geworden
    war, sondern auf dem Wege über die Mutter und kraft
    seiner Beziehung zur Mutter, welcher in der ersten Wahn—
    bildung die Hauptrolle zugefallen war.

    Man sollte nun glauben, der Widerstand sei endgültig
    überwunden und das bisher an die Mutter gebundene
    Mädchen habe es erreicht, einen Mann zu lieben Aber nach
    dem zweiten Beisammensein erfolgt eine neue Wahnbildung.
    welche es durch geschickte Benützung einiger Zufälligkeiteu
    durchsetzt, diese Liebe zu verderben, und somit die Absicht
    des Mutterkomplexes erfolgreich fortfiihrt. Es erscheint uns
    noch immer befremdlicb, daß das Weib sich der Liebe zum
    ane mit Hilfe eines pumoischen Wahnes erwehren sollte.
    Ehe wir aber dieses Verhältnis näher beleuchten, wollen wir
    den Zufälligkeitcn einen Blick schenken, auf welche sich die
    zweite Wahnbildung, die allein gegen den Mann gerichtete,
    stützt.

    Halb entkleidet auf dem Diwm neben dem Geliebten
    liegend, hört sie ein Geräusch wie ein Ticken, Klopien,
    Pochen, dessen Ursache sie nicht kennt, du iie aber später
    deutet, nachdem sie auf der Treppe des Hauses zwei
    Männern begegnet ist, von denen einer etwas wie ein ver—
    decktes Kästchen trägt. Sie gewinnt die Überzeugung, dlß sie
    im Auftrage des Geliebten während des intimen Beisammen-
    seins belanscht und photographierv; wurde. Es liegt uns natür-
    lich fern, zu denken‘ wenn dies unglückselige Geräusch sich
    nicht ereig;net hätte, wäre auch die Wahnbildung nicht zu-

  • S.

    ‚; Ein der pxycboanalytircben Theorie

    stand: gekommen, Wir erkennen vielmehr hinter dieser Zn«
    fälligkeit etwas Notwendiges, was sich ebenso zwanghaft
    durchsetzen mußte wie die Annahme eines Liebesverhältnisses
    zwischen dem geliebten Manne und der alten, zum Mutter-
    ersatz erkorenen Vorsteherin. Die Beobachtung des Liebes—
    verkehres der Eltern ist ein selten vermißtes Stück aus dem
    Schatze unhewußter Phantasien, die man bei allen Neu-
    ron'kern, wahrscheinlich bei allen Menschenkindern, durch
    die Analyse auffinden kann. Ich heiße diese Phantasie-
    hildungen, die der Beobachtung des elterlichen Geschlecht?
    verkehres, die der Verführung, der Kastration und andere,
    Ur phantasien und werde an anderer Stelle deren
    Herkunft sowie ihr Verhältnis zum individuellen Erleben
    eingehend untersuchen. Das zufällige Geräusch spielt also
    nur die Rolle einer Provokation, welche die typische, im
    Elternkomplex enthaltene Phantasie von der Belauschung
    aktiviert. Ja, es ist fraglich, ob wir es als ein „zuiälliges"
    bezeichnen sollen. Wie O. Rank mir bemerkt hat, ist es
    vielmehr ein notwendiges Requisie der Belauschungsphantasie
    nnd wiederholt entweder das Geräusch, durch welches sich
    der Verkehr der Eltern verrät, oder auch das, wodurch sich
    das lauschende Kind zu verraten fürchtet. Nun erkennen wir
    aber mit einem Male, auf welchem Boden wir uns befinden.
    Der Geliebte ist noch immer der Vater, an Stelle der Mutter
    ist sie selbst getreten. Die Belauschung muß dann einer
    fremden Person zugeteilt werden. Es wird uns ersichtlich,
    auf welche Weise sie sich von der homosexuellen Abhängig-
    keit von der Mutter freigemacht hat. Durch ein Stückchen
    Regression; anstatt die Mutter zum Liebesobjekt zu nehmen,
    hat sie sich mit ihr identifiziert, ist sie selbst zur Mutter
    geworden. Die Möglichkeit dieser Regression weist auf den
    narzißtischen Ursprung ihrer homosexuellen Objektwahl und
    somit auf die bei ihr vorhandene Disposition zur paranoischen

  • S.

    widerrynchmdef Fall von Paranoia „

    Erkrankung hin. Man könnte einen Gedankengang ent-
    werfen, der zu demselben Ergebnis fiihrt wie diese Identifie
    zierung: Wenn die Mutter das tut, darf ich es auch; ich habe
    dasselbe Recht wie die Mutter.

    Man kann in der Aufhebung der Zufälligkeiten einen
    Schritt weitergehen, ohne zu fordern, daß ihn der Leser rnit-
    mache, denn das Unterbleibu einer tieferen analyu'schen
    Untersuchung macht es in unserem Falle unmöglich, hier
    über eine gewisse Wahrscheinlichkeit hinauszukornmen. Die
    Kranke hatte in unserer ersten Besprechung angegeben, daß
    sie sich sofort nach der Ursache der Geräusche: erkundigt
    und die Auskunft erhalten habe, wahrscheinlich habe die
    auf dem Schreibtisch befindliche kleine Standuhr getizkt. Ich
    nehme mir die Freiheit, diese Mitteilung als eine Erinnerung:-
    riiuschung aufzulösen. Es ist mir viel glaubhafter, daß sie
    zunächst jede Reaktion auf das Geräusch unterlassen, und
    daß ihr dies erst nach dem Zusammentreffen mit den beiden
    Männern auf der Treppe hedeutungsvoll erschienen ist. Den
    Erklärungsveßuch aus dem Tickcn der Uhr wird der Mann,
    der das Geräusch vielleicht überhaupt nicht gehört hatte,
    später einmal gewagt haben, als ihn der Argwohn des
    Mädchens bestütmte. „Ich weiß nicht, was du da gehört
    haben kannst; vielleicht hat; gerade die Standuhr getinkt,
    wie sie es manchmal tue." Solche Nachträglichkeir. in der
    Verwertung von Eindrücken und solche Verschieng in der
    Erinnerung sind gerade bei der Paranoia häufig und für sie
    charakteristisch. Da ich aber den Mann nie gesprochen habe
    und die Analyse des Mädchens nicht fortsetzen konnte,
    bleibt meine Annahme unbeweisbar.

    Ich könnte es wagen, in der Zersetzung der angeblich
    realen „z„faui;k=ic* noch weiter zu gehen. Ich glaube iiber-
    haupt nicht, daß die Standui'u' gefickt hat, oder daß ein
    Geräusch zu hören war. Die Situation, in der sie sich befand,

    Schulter. mr Neurol=nlehre

  • S.

    34 Ein der pxytbamaiytilcherl Theorie

    rechtfertigte eine Empfindung von Pnehen oder Klopfeu an
    der Klitoris. Dies war es dann, was sie nachträglich als
    Wahrnehmung von einem äußeren Objekt hinausprojizierte.
    Ganz Ähnliches ist im Traume möglich. Eine meiner
    hysterischen Patientinnen berichtete einmal einen kurzen
    Weckrraum, zu dem sich kein Material von Einfällen ergeben
    wollte. Der Traum hieß: Es klopft‚ und sie wachte auf. Es
    hatte niemand an die Tür geklopft‚ aber sie war in den
    Nächten vorher durch die peinlichen Senszrionen von Pollu-
    tionen geweckt werden und hatte nun ein Interesse daran,
    zu erwachen, sobald sich die ersten Zeichen der Genital-
    erregung einstellten. Es hatte an der Klitoris geklopfn Den
    nämlichen Projektionsvorgang möchte ich bei unserer Para-
    noika en die Stelle des zufälligen Geräusche; setzen. Ich
    werde selbstverstäudlich nicht dafür einstellen, daß mir die
    Kranke bei einer flüchtigen Bekanntschaft unter allen
    Anzeichen eines ihr unliebsamen Zwanges einen aufrichtigen
    Bericht über die Vorgänge bei den beiden zärtlichen Zu-
    sammenkiinften gegeben, aber die vereinzelte Klitoris«
    kontraku'on stimmt wohl zu ihrer Behauptung, 'daß eine
    Vereinigung der Genitalien dabei nicht stnttgcfunden habe.
    An der resultierenden Ablehnung des Mannes hat sicherlich
    neben dem „Gewissen“ auch die Unbefriedigung ihren Anteil.

    Wir kehren nun zu der auffälligen Tatsache zurück, daß
    sich die Kranke der Liebe zum Mann: mit Hilfe einer
    pnranoischen Wahnbildung erwehtt. Den Schlüssel zum Ver-
    ständnis gibt die Entwicklungsgeschichte dieses Wahnes.
    Dieser richtete sich ursprünglich, wie wir erwarten durften,
    gegen das Weib, aber nun wurde auf dem Boden
    der Paranoia der Fortschritt vom Weihe
    zum Mannc als Objekt vollzogen. Ein solcher
    Fortschritt ist bei der Paranoia nicht gewöhnlich; wir finden
    in der Regel, daß der Veriolgte an denselben Personen, also

  • S.

    wideyrpyechender Fall von Pammin ”

    auch an demselben Geschlecht fixiert bleibt, dem seine Liebes-
    wahl vor der paranoischen Umwandlung galt. Aber er wird
    durch die neurotische Mektion nicht ausgeschlossen; unsere
    Beobachtung dürfte für viele andere vorbildlich sein. Es gibt
    außerhalb der Paranoia viele ihnlidie Vorgänge, welche bis-
    her nicht unter diesem Gesichtspunkte zusammengefaßt werden
    sind, darunter sehr allgemein bekannte. So wird z. B. der
    sogenannte Neurutheniker durch seine unbequte Bindung
    an inzestuöse Liebesebj:kte davon abgehalten, ein fremdes
    Weib zum Objekt zu nehmen, und in seiner Sexualbctätiguug
    auf die Phantasie eingeschränkt. Auf dem Boden der
    Phantasie bringt er aber den ihm versagten Fortschritt zu-
    stande und kann Mutter und Schwester durch fremde Objekte
    ersetzen. Da bei diesen der Einspruch der Zensur entfällt,
    wird ihm die Wahl dieser Ersatzpersonen in seinen Phantasien
    bewußt.

    Die Phänomene des versuchten Fortschrittes‚ von dem
    neuen meist regressiv erworbenen Boden her, stellen sich den
    Bemühungen zur Seite, welche bei manchen Neurosen unter-
    nommen werden, um eine bereits innegehabte, aber verlorene
    Position der Libido wieder zu gewinnen. Die beiden Reihen
    von Erseheinungen sind hegrifllieh kaum voneinander zu
    trennen. Wir neigen allzusehr zu der Auffassung, daß der
    Konflikt, welcher der Neurose zugrunde liegt, mit der
    Symptombildung abgeschlossen sei. In Wirklichkeit geht der
    Kampf vielfach auch nach der Sympmmbildung weiter. Auf
    beiden Seiten tauchen neue Triebanteilc auf, welche ihn fort-
    führen. Das Symptom selbst wird zum Objekt diese:
    Kampfes; Strebungen, die es behaupten wollen, messen sich
    mit anderen, die seine Aufhebung und die Herstellung des
    früheren Zustandes durchzuseth bemifl1t sind. Häufig wer-
    den Wege gesucht, um das Symptom zu entwerten, indem
    man das Verlorene und durch das Symptom Versag(e von

    ‚.

  • S.

    35 Ein ist! mm Paranoia

    anderen Zugängen her zu gewinnen "achtet. Dies: Verhält-
    nisse werfen ein klärendes Licht auf eine Aufstellung von
    c. G. _]un g, demzufolge eine eignntiimliche psychische
    Trägheir, die sich der Veränderung und dem Fortschritt
    widersetzt, die Grundbedingung der Neurose ist. Diese Träg-
    heit ist in der Tat sehr eigentümlich; sie ist keine allgemeine
    sondern :lnc höchst spezialisierte, sie ist auch auf ihrem
    Gebiete nicht Alleinherrschem'n, sondern kämpft mit Fort-
    schrittk und Wiederherstellungstcndenzen, die sich selbst nach
    der Symptomhildung der Neurose nicht beruhigen. Spürt
    man dem Ausgangspunkte dieser speziellen Trägheit nach,
    so enthüllt sie sich als die Äußerung von sehr frühzeitig
    erfolgten, sehr schwer lösbareu Verknüpfungen von Trieben
    mit Eindrücken und den in ihnen gegebenen Objekten, durch
    welche die Weitercnrwicklung dieser Trizbanzcile zum Still-
    stand gebracht wurde. Oder, um es anders zu sagen, diese
    spezialisierte „psychische Trägheit" ist nur ein anderer, kaum
    ein besserer Ausdruck für das, Was wir in der Psychoanalyse
    eine Fixierung zu nennen gewohnt sind.