Über fausse reconnaissance („déjà raconté“) während der psychoanalytischen Arbeit 1914-001/1922
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    ÜBER FAUSSE RECONNAISSANCE („DEJÄ RACONTE“)
    WÄHREND DER PSYCHOANALYTISCHEN ARBEIT. *)

    Es ereignet sich nicht selten während der Arbeit der
    Analyse, daß der Patient die Mitteilung eines von ihm er-
    innerten Faktums mit der Bemerkung begleitet: „Das habe
    ich Ihnen aber schon erzählt“, während man selbst
    sicher zu sein glaubt, diese Erzählung von ihm noch nie-
    mals vernommen zu haben. Äußert man diesen Widerspruch
    gegen den Patienten, so wird er häufig energisch versichern,
    er wisse es ganz gewiß, er sei bereit, es zu beschwören,
    usw.; in demselben Maße wird aber die eigene Überzeugung
    von der Neuheit des Gehörten stärker. Es wäre nun ganz
    unpsychologisch, einen solchen Streit durch Überschreien
    oder Überbieten mit Beteuerungen entscheiden zu wollen.
    Ein solches Überzeugungsgefühl von der Treue seines Ge—
    dächtnisses hat bekanntlich keinen objektiven Wert, und da
    einer von beiden sich notwendigerweise irren muß, kann es
    ebensowohl der Arzt wie der Analysierte sein, welcher der
    Paramnesie verfallen ist. Man gesteht dies dem Patienten
    zu, bricht den Streit ab und verschiebt dessen Erledigung
    auf eine spätere Gelegenheit.

    In einer Minderzahl von Fällen erinnert man sich dann
    selbst, die fragliche Mitteilung bereits gehört zu haben, und
    —*)—1ntem. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, 1, 1913.

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    150 SCE.R}FTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    findet gleichzeitig das subjektive, oft weit hergeholte Motiv
    für deren zeitweilige Beseitigung. In der großen Mehrzahl
    aber ist es der ‚Analysierte, der geirrt hat und. auch dazu
    bewegen werden kann, es' einzusehen. Die Erklärung für
    dieses häufige Vorkommnis scheint zu sein, daß er Wirklich
    bereits die Absicht gehabt hat, diese Mitteilung zu machen,
    daß er eine vorbereitende Äußerung wirklich ein oder mehrere
    Male getan hat, dann aber durch den Widerstand abgehalten
    wurde, seine Absicht auszuführen, und. nun die Erinnerung
    an die Intention mit der an die Ausführung derselben ver—
    wechselt.
    ' Ich lasse nun alle die Fälle beiseite, in denen der Sach-
    verhalt irgendwie zweifelhaft bleiben kann, und hehe einige
    andere hervor, die ein besonderes theoretisches Interesse
    haben. Es ereignet sich nämlich bei einzelnen Personen, und
    zwar wiederholt, daß sie die Behauptung, sie hätten dies
    oder jenes schon erzählt, besonders hartnäckig bei Mittei—
    lungen vertreten, wo die Sachlage es ganz unmöglich macht,
    daß sie recht haben können. Was sie bereits früher einmal
    erzählt haben wollen, und jetzt als etwas Altes, was der
    Arzt auch Wissen müßte, wiedererkennen, sind dann Erinne—
    rungen von höchstem Wert für die Analyse, Bestätigungen,
    auf welche \man lange Zeit gewartet, Lösungen, die einem
    Teilstück der Arbeit ein Ende machen, an die der analy»
    sierende Arzt sicherlich eingehende Erörterungen geknüpft
    hätte. Angesichts dieser Verhältnisse gibt der Patient auch
    bald zu, daß ihn seine Erinnerung getä‚uscht haben muß, ob-
    wohl er sich die Bestimmtheit derselben nicht erklären kann.
    Das Phänomen, welches der Analysierte in solchen Fällen
    \bietet, hat. Anspruch darauf, eine „lausse reconnaisszmce“
    genannt zu werden, und ist durchaus analog den anderen

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    Fällen, in denen man spontan die Empfindung hat: In dieser
    Situation war ich schon einmal, das habe ich schon einmal
    erlebt (das „Déjä vu“), ohne daß man je in die Lage käme,
    diese Überzeugung durch das Wiederauffinden jenes früheren
    Ma,les im Gedächtnisse zu bewahrheiten. Es ist bekannt,
    daß dies Phänomen eine Fülle von Erklärungsversuchen her-
    vorgerufen hat, die sich im allgemeinen in zwei Gruppen
    bringen lassen.*) ln der einen wird der im Phänomen ent-
    haltenen Empfindung Glauben geschenkt und angenommen,
    es handle sich wirklich darum, daß etwas erinnert werde;
    die Frage bleibt nur, was. Zu einer bei weitem zahlreichean
    Gruppe treten jene Erklärungen zusammen, die vielmehr be—
    haupten, daß hier eine Täuschung der Erinnerung vorliege,
    und die nun die Aufgabe haben, nachzuspüren, wie es zu
    dieser paramnestischcn Fehlleistung kommen könne. Im übri-
    gen umfassen diese Versuche einen weiten Umkreis von
    Motiven, beginnend mit der uralten, dem Pythagora.s zu-
    geschriebenen Auffassung, daß das Phänomen des Déjä vu
    einen Beweis für eine frühere individuelle Existenz enthalte,
    fortgesetzt über die auf die Anatomie gestützte Hypothese,
    daß ein zeitliches Auseinanderweiehen in der Tätigkeit der
    beiden Hirnhemisphären das Phänomen begründe (Wiga.n
    1860), bis auf: die rein psychologischen Theorien der meisten
    neueren Autoren, welche im Déjä. im eine Äußerung einer
    Apperzeptionsschwäohe erblicken und Ermüdung, Erschöpfung,
    Zerstreutheit für dasselbe verantwortlich machen.
    Grasset**) hat im Jahre 1904 eine Erklärung des Déjä.

    *) Siehe eine der letzten Zusammenstellungen der betreffenden Lite-
    ratur in H. Ellis „World of Dreams“, 1911,

    **) La sensation du „déjä. vu“. (Journal de psychologie norm, et
    pathol. I, 1904.)

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    152 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    vu gegeben, welche zu den „gläubigen“ gerechnet werden
    muß. Er meinte, das Phänomen weise darauf hin, daß früher
    einmal eine unbewußte Wahrnehmung gemacht werden
    worden sei, welche erst jetzt unter dem Einfluß eines neuen
    und ähnlichen Eindruokes das Bewußtsein erreiche. Mehrere
    andere Autoren haben sich ihm angeschlossen und die Erin-
    nerung an vergessenes Geträ.umtes zur Grundlage des Phä—
    nomens gemacht. In beiden Fällen würde es sich urn die
    Belebung eines unbewußten Eindruckes handeln. '

    Ich habe im Jahre 1907, in der zweiten Auflage meiner
    „Psychopathologie des Alltagslebens“, eine ganz ähnliche Er-
    klärung der angeblichen Paramnesie vertreten, ohne die Ar-
    beit von Grasset zu kennen oder zu erwähnen. Zu meiner
    Entschuldigung mag dienen, daß ich meine Theorie als Er-
    gebnis einer psychoanelytisehen Untersuchung gewann, die
    ich an einem sehr deutlichen, aber etwa 28 Jahre zurück—
    liegenden Falle von Déjä vu bei einer Patientin vornehmen
    konnte. Ich Will die kleine Analyse hier nicht Wiederholen.
    Sie ergab, daß die Situation, in welcher das Déjä, vu auftrat,
    Wirklich geeignet war, die Erinnerung an ein früheres Er-
    lebnis der Analysierten zu wecken. In der Familie, welche
    das damals zwölfjä.hrige Kind besuchte, befand sich ein
    sohwerkranker, dem Tode verfallener Bruder, und ihr eigener
    Bruder war einige Monate vorher in derselben Gefahr ge
    wesen. An dies Gemeinsame hatte sich aber im Falle des
    ersteren Erlebnisses eine bewußtseinsunfä‚hige Phantasie ge-
    knüpft, — der Wunsch, der Bruder solle sterben — und darum
    - konnte die Analogie der beiden Fälle nicht bewußt werden.
    Die Empfindung derselben ersetzte sich durch das Phänomen
    des Schon—einmal—erlebt-habens, indem sich die Identität von
    dem Gemeinsamen auf die Lokalität verschob.

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    Man weiß, daß der Name „déjä vu“ für eine ganze Reihe
    analoger Phänomene steht, für ein „déjä entendu“, ein „déjä.
    éprouvé“‚ ein „déjä. senti“. Der Fall7 den ich an Stelle vieler
    ähnlicher nun berichten werde, enthält ein „déjét raßonté“,
    Welches also von einem unbewußten, unausgeführt geblie-
    benen Vorsatz abzuleitcn wäre.

    Ein Patient ‘erzählt im Laufe seiner Assoziationen: „Wie
    ich damals im Alter von fünf Jahren im Garten mit einem
    Messer gespielt und mir dabei den kleinen Finger durch—
    geschnitten habe — oh, ich habe nur geglaubt, daß er durch-
    geschnitten ist —‚ aber das habe ich Ihnen ja schon er—
    zählt.“

    Ich versichere‚ daß ich mich an nichts Ähnliches zu er-
    innern weiß. Er beteuert immer überzeugter, daß er sich
    darin nicht täuschen kann. Endlich mache ich dem Streit
    in der eingangs angegebenen Weise ein Ende und. bitte ihn,
    die Geschichte auf alle Fälle zu wiederholen. Wir Würden
    dann ja. sehen,

    „Als ich fünf Jahre alt war, spielte ich im Garten neben
    meiner Kinderfran und schnitzelte mit meinem Taschenmesser
    an der Rinde eines jener Nußbäume, die auch in meinem
    Traum*) eine Rolle spielen.**) Plötzlich bemerkte ich mit
    unausspreehliehem Schrecken, daß ich mir den kleinen Fin—
    ger der (rechten oder linken?) Hand so durchgeschnitten
    hatte, daß er nur noch an der Haut hing. Schmerz spürte
    ich keinen. aber eine große Angst. Ich getraute mich nicht,
    —*)Vgl. Märchenstoffe in Träumen. (Intern. Zeitschr. f. ärztl. Psycho—
    analyse, l, 2. Heft.)

    **) Korrektur bei späterer Erzählung: Ich glaube, ich schnitt nicht
    in den Baum. Das ist eine Verschmelzung mit einer anderen Erinnerung,
    die auch halluzinatorisch gefälscht sein muß, daß ich in einen Baum einen
    Schnitt mit dem Messer machte, und daß dabei Blut aus dem Baume kam.’

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    154 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    der wenige Schritte entfernten Kinderfrau etwas zu sagen,
    sank auf die nächste Bank und blieb da sitzen, unfähig, noch
    einen Blick auf den Finger zu werfen. Endlich wurde ich
    ruhig, faßte den Finger ins Auge, und siehe da, er war ganz
    unverletzt.“

    Wir einigten uns bald darüber, daß er mir diese Vision
    oder Halluzination doch nicht erzählt haben könne. Er ver-
    stand sehr wohl, daß ich einen solchen Beweis für die Exi—
    stenz der Kastrationsangst in seinem fünften Jahre
    doch nicht unverwertet gelassen hätte. Sein Widerstand gegen
    die Annahme des,Kastrationskomplcxes war damit gebrochen,
    aber er warf die Frage auf: Warum habe ich so sicher ge—
    glaubt, daß ich diese Erinnerung schon erzählt habe?

    Dann fiel uns beiden ein, daß er wiederholt, bei ver-
    schiedenen Anlässen, aber jedesmal ohne Vorteil, folgende
    kleine Erinnerung vorgetragen hatte:

    „Als der Onkel einmal verreiste, fragte er mich und die
    Schwester, was er uns mitbringen solle. Die Schwester
    wünschte sich ein Buch, ich ein Taschenmesser.“ Nun ver—
    standen wir diesen Monate vorher aufgetauchten Einfall als
    Deckerinnerung für die verdrängte Erinnerung und als An-
    satz zu der infolge des Widerstandes unterbliebencn Er—
    zählung vom vermeintlichen Verlust des kleinen Fingers (eines
    unverkennbaren Penisäquivalents). Das Messer, welches ihm
    der Onkel auch wirklich mitgebracht hatte, war nach seiner
    sicheren Erinnerung das nämliche, welches in der lange un—
    terdrücktcn Mitteilung vorkarn.

    Ich glaube es ist überflüssig, zur Deutung dieser kleinen
    Erfahrung, soweit sie auf das Phänomen der „fausse recom—
    naissa.nce" Licht wirft, weiteres hinzuzufügen. Zum Inhalt
    der Vision des Patienten will ich bemerken, daß solche hallu-

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    zinaterische Täuschungen gerade im Gefüge des Kastrations-
    komplexes nicht vereinzelt sind, und daß sie ebenswowohl zur
    Korrektur unerwünschter Wahrnehmungen dienen können.

    Im Jahre 1911 stellte mir ein akademisch Gebildeter
    aus einer deutschen Universitätsstadt, den ich nicht kenne,
    dessen Alter mir unbekannt ist, folgende Mitteilungen aus
    seiner Kindheit zur freien Verfügung:

    „Bei der Lektüre Ihrer ,Kindheitserinnerung des Leo-
    nardo‘ haben mich die Ausführungen auf pag. 29 bis 31 zu
    innerem Widerspruch gereizt. Ihre Bemerkung, daß das
    männliche Kind von dem Interesse fiir sein eigenes Genitale
    beherrscht ist, weckte in mir. eine Gegenbemerkung von der
    Art: ‚Wenn das ein allgemeines Gesetz ist, so bin Ich jeden-
    falls eine Ausnahme.‘ Die nun folgenden Zeilen (pag. 31 bis
    32 oben) las ich mit dem größten Staunen, jenem Staunen,
    von dem man bei Kenntnisnahme einer ganz neuartigen Tat-
    sache erfäßt wird. Mitten in meinem Staunen kommt mir
    eine Erinnerung, die mich — zu meiner eigenen Überraschung
    lehrt. daß mir jene Tatsache gar nicht so neu sein dürfte.
    Ich hatte nämlich zur Zeit, da ich mich mitten in der ‚in-
    fantilen Sexualforschung‘ befand, durch einen glücklichen Zu-
    fall Gelegenheit, ein weibliches Genitale an einer kleinen
    Altersgenossin zu betrachten und habe hiebei ganz klar
    einen Penis von der Art meines eigenen bemerkt._
    Bald darauf hat mich aber der Anblick weiblicher Statuen
    und Akte in neue Verwirrung gestürzt ‚und ich habe, um
    diesem ,wissenschaftlichen‘ Zwiespalt zu entrinnen, das fol-
    gende Experiment ersonnen: Ich brachte mein Genitale durch
    Aneinanclerpressen der Oberschenkel zwischen diesen zum
    Verschwinden und konstatierte mit Befriedigung, daß hie—
    durch jeder Unterschied gegen den weiblichen Akt beseitigt '

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    sei. Offenbar, so dachte ich mir, war auch beim weiblichen Akt
    des Genita‚le auf gleiche Weise zum Verschwinden gebracht.“

    „Hier nun, kommt mir eine andere Erinnerung, die mir
    insofern schon von jeher von größter Wichtigkeit war, als
    sie die eine von den drei Erinnerungen ist, aus welchen
    meine Gesamterinnerung an meine früh verstorbene Mutter
    besteht. Meine Mutter steht vor dem Waschtisch und reinigt
    die Gläser und Waschbecken, während ich im selben Zimmer
    spiele und irgend einen Unfug mache. Zur Strafe wird mir
    die Hand durchgeklopft: da sehe ich zu meinem größten
    Entsetzen, daß mein kleiner Finger herabfä.llt, und zwar ge—
    rade in den Wasserkübel fällt. Da. ich meine Mutter erzürnt
    weiß, getraue ich mich nichts zu sagen und sehe mit noch
    gesteigertem Entsetzen, wie bald darauf der Wasserkübel
    vom Dienstmädchen hinausgetragen wird. Ich war lange
    überzeugt, daß ich einen Finger verloren habe, vermutlich
    bis in die Zeit, wo ich das Zählen lernte.“ »

    „Diese Erinnerung, die mir * Wie bereits erwähnt —-
    durch ihre Beziehung zu meiner Mutter immer von größter
    Wichtigkeit war, habe ich oft zu deuten versucht: keine
    dieser Deutungen hat mich aber befriedigt. Erst jetzt %
    nach Lektüre Ihrer Schrift — a-hne ich eine einfache, be»
    friedigende Lösung des Iäitsels,“

    Eine andere Art der fausse reconnaissance kammt zur
    Befriedigung des Therapeuten nicht selten beim Abschluß
    einer Behandlung vor. Nachdem es gelungen ist, des ver—
    drängte Ereignis realer oder psychischer Natur gegen alle
    Widerstände zur Annahme durchzusetzen, es gewissermaßen
    zu rehabilitieren, sagt der Patient: Jetzt habe ich die
    Empfindung, ich habe es immer gewußt. Damit ist
    die analytische Aufgabe gelöst.