Über fausse reconnaissance („déjà raconté“) während der psychoanalytischen Arbeit 1914-001/1931
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    352 Uber fausse reconnaissance („dójd raconté“)

    UBER FAUSSE RECONNAISSANCE

    (DEJA RACONTE«) WAHREND DER

    PSYCHOANALYTISCHEN ARBEIT
    (1914)

    Es ereignet sich nicht selten während der Arbeit der Ana-
    lyse, daß der Patient die Mitteilung eines von ihm erinnerten
    Faktums mit der Bemerkung begleitet, „das habe ich
    Ihnen aber schon erzählt“, während man selbst
    sicher zu sein glaubt, diese Erzählung von ihm noch niemals
    vernommen zu haben. Auflert man diesen Widerspruch gegen
    den Patienten, so wird er häufig energisch versichern, er
    wisse es ganz gewiß, er sei bereit, es zu beschwören usw.; in
    demselben Maße wird aber die eigene Überzeugung von der
    Neuheit des Gehørten stärker. Es wire nun ganz unpsycho-
    logisch, einen solchen Streit durch Uberschreien oder Uber-
    bieten. mit Beteuerungen entscheiden zu wollen. Ein solches
    Überzeugungsgefühl von der Treue seines Gedichtnisses hat
    bekanntlich keinen objektiven Wert, und da einer von beiden
    sich notwendigerweise irren muß, kann es ebensowohl der
    Arzt wie der Analysierte sein, welcher der Paramnesie ver-
    fallen ist. Man gesteht dies dem Patienten zu, bricht den
    Streit ab und verschiebt dessen Erledigung auf eine spätere
    Gelegenheit.

    In einer Minderzahl von Fillen erinnert man sich dann
    selbst, die fragliche Mitteilung bereits gehört zu haben, und
    findet gleichzeitig das subjektive, oft weit hergeholte Motiv
    für deren zeitweilige Beseitigung. In der großen Mehrzahl
    aber ist es der Analysierte, der geirrt hat und auch dazu be-
    wogen werden kann, es einzusehen. Die Erklärung fiir dieses
    häufige Vorkommnis scheint zu sein, daß er wirklich bereits

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    während der psychoanalytischen Arbeit 353

    die Absicht gehabt hat, diese Mitteilung zu machen, daß er
    eine vorbereitende Auferung wirklich ein oder mehrere Male
    getan hat, dann‘ aber durch den Widerstand abgehalten
    wurde, seine Absicht auszuführen, und nun die Erinnerung
    an die Intention mit der an die Ausführung derselben ver-
    wechselt.

    Ich lasse nun alle die Fälle beiseite, in denen der Sachver-
    halt irgendwie zweifelhaft bleiben kann, und hebe einige
    andere hervor, die ein besonderes theoretisches Interesse
    haben. Es ereignet sich nämlich bei einzelnen Personen, und
    zwar wiederholt, daß sie die Behauptung, sie hätten dies oder
    jenes schon erzählt, besonders hartnäckig bei Mitteilungen
    vertreten, wo die Sachlage es ganz unmöglich macht, daß
    sie recht haben können. Was sie bereits früher einmal erzählt
    haben wollen, und jetzt als etwas altes, was auch der Arzt
    wissen müßte, wiedererkennen, sind dann Erinnerungen vom
    höchsten Wert für die Analyse, Bestätigungen, auf welche
    man lange Zeit gewartet, Lösungen, die einem Teilstück der
    Arbeit ein Ende machen, an die der analysierende Arzt
    sicherlich eingehende‘ Erörterungen gekniipft hätte. Ange-
    sichts dieser Verhältnisse gibt der Patient auch bald zu, daß
    ihn seine Erinnerung getäuscht haben muß, obwohl er sich
    die Bestimmtheit derselben nicht erklären kann.

    Das Phänomen, welches der Analysierte in solchen Fällen
    bietet, hat Anspruch darauf, eine „fausse reconnaissance" ge-
    nannt zu werden, und ist durchaus analog den anderen Fäl-
    len, in denen man spontan die Empfindung hat: In dieser
    Situation war ich schon einmal, das habe ich schon einmal
    erlebt (das ,déjå vu“), ohne daß man je in die Lage Кате,
    diese Überzeugung durch das Wiederauffinden jenes früheren
    Males im Gedächtnisse zu bewahrheiten. Es ist bekannt, daß
    dies Phänomen eine Fille von Erklärungsversuchen hervor-
    gerufen hat, die sich im allgemeinen in zwei Gruppen brin-

    23 Freud, Schriften zur Neurosenlehre

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    354 Uber fausse reconnaissance („dėja raconté“)

    gen lassen. In der einen wird der im Phänomen enthaltenen
    Empfindung Glauben geschenkt und angenommen, es handle
    sich wirklich darum, daß etwas erinnert werde; die Frage
    bleibt nur, was. Zu ciner bei weitem zahlreicheren Gruppe
    treten jene Erklärungen zusammen, die vielmehr behaupten,
    daß hier eine Täuschung der Erinnerung vorliege, und die
    nun die Aufgabe haben, nachzuspüren, wie es zu dieser
    paramnestischen Fehlleistung kommen könne. Im übrigen
    umfassen diese Versuche einen weiten Umkreis von Motiven,
    beginnend mit der uralten, dem Pythagoras zugeschrie-
    benen Auffassung, daß das Phänomen des déjå ‏אש‎ einen
    Beweis fiir eine frühere individuelle Existenz enthalte, fort-
    gesetzt über die auf die Anatomie gestützte Hypothese, daß
    ein zeitliches Auseinanderweichen in der Tätigkeit der bei-
    den Hirnhemisphåren das Phänomen begründe (Wigan
    1860), bis auf die rein psychologischen Theorien der meisten
    neueren Autoren, welche im déjà vu eine Äußerung einer
    Apperzeptionsschwäche erblicken und Ermiidung, Erschôp-
    fung, Zerstreutheit fiir dasselbe verantwortlich machen.

    Grasset” hat im Jahre 1904 eine Erklärung des déjà vu
    gegeben, welche zu den ,,gliubigen“ gerechnet werden muß.
    Er meinte, das Phänomen weise darauf hin, daß früher ein-
    mal eine unbewußte Wahrnehmung gemacht worden sei,
    welche erst jetzt unter dem Einfluß eines neuen und ähnlichen
    Eindruckes das Bewußtsein erreiche. Mehrere andere Autoren
    haben sich ihm angeschlossen und die Erinnerung an ver-
    gessenes Getråumtes zur Grundlage des Phänomens gemacht.
    In beiden Fällen würde es sich um die Belebung eines un-
    bewußten Eindruckes handeln.

    12) Siche cine der letzten Zusammenstellungen der betreffenden
    Literatur in H. Ellis „World of Dreams“. 1911.

    13) La sensation du „dėja vu“, (Journal de psychologie norm.
    et pathol. I, 1904.)

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    während der psychoanalytischen Arbeit 355

    Ich habe im Jahre 1907, in der zweiten Auflage meiner
    „Psychopathologie des Allragslebens“, eine ganz ähnliche Er-
    klårung der angeblichen Paramnesie vertreten, ohne die
    Arbeit von Grasset zu kennen oder zu erwähnen. Zu
    meiner Entschuldigung mag dienen, daß ich meine Theorie
    als Ergebnis einer psychoanalytischen Untersuchung gewann,
    die ich an einem sehr deutlichen, aber etwa 28 Jahre zuriick-
    liegenden Falle von déjà ‏אש‎ bei einer Patientin vornehmen
    konnte. Ich will die kleine Analyse hier nicht wiederholen.
    Sie ergab, daß die Situation, in welcher das déjå ‏אש‎ auftrat,
    wirklich geeignet war, die Erinnerung an ein früheres Erleb-
    nis der Analysierten zu wecken. In der Familie, welche das
    damals zwölfjährige Kind besuchte, befand sich ein schwer-
    kranker, dem Tode verfallener Bruder, und ibr eigener
    Bruder war einige Monate vorher in derselben Gefahr ge-
    wesen. An dies Gemeinsame hatte sich aber im Falle des
    ersteren Erlebnisses eine bewuftseinsunfähige Phantasie ge-
    knüpft, — der Wunsch, der Bruder solle sterben — und
    darum konnte die Analogie der beiden Fille nicht bewußt
    werden. Die Empfindung derselben ersetzte sich durch das
    Phänomen des Schon-einmal-erlebt-habens, indem sich die
    Identität von dem Gemeinsamen auf die Lokalität verschob.

    Man weiß, daß der Name „dėja ‏"אש‎ für eine ganze Reihe
    analoger Phänomene steht, für ein ⑥ entendu“, ein ,déjà
    éprouvé“, ein ,déja senti“. Der Fall, den ich an Stelle vieler
    ähnlicher nun berichten werde, enthält ein déjà raconté“,
    welches also von einem unbewuften, unausgeführt gebliebe-
    nen Vorsatz abzuleiten wäre.

    Ein Patient erzählt im Laufe seiner Assoziationen: „Wie
    ich damals im Alter von fiinf Jahren im Garten mit einem
    Messer gespielt und mir dabei den kleinen Finger durchge-
    schnitten habe — oh, ich habe nur geglaubt, daß er durch-
    geschnitten ist, — aber das habe ich Ihnen ja schon erzählt.“

    23°

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    Ich versichere, daf ich mich an nichts Ahnliches zu er-
    innern weiß. Er beteuert immer überzeugter, daß er sich
    darin nicht täuschen kann. Endlich mache ich dem Streit
    in der eingangs angegebenen Weise ein Ende und bitte ihn,
    die Geschichte auf alle Fälle zu wiederholen. Wir würden
    ja dann sehen.

    „Als ich fünf Jahre alt war, spielte ich im Garten neben
    meiner Kinderfrau und schnitzelte mit meinem 'Taschen-
    messer an der Rinde eines jener Nufibiume, die auch in
    meinem Traum* eine Rolle spiclen. Plötzlich bemerkte ich
    mit unaussprechlichem Schrecken, daß ich mir den kleinen
    Finger der (rechten oder linken?) Hand so durchgeschnitten
    hatte, daß er nur noch an der Haut hing. Schmerz spürte
    ich keinen, aber eine große Angst. Ich getraute mich nicht,
    der wenige Schritte entfernten Kinderfrau etwas zu sagen,
    sank auf die nichste Bank und blieb da sitzen, unfihig, noch
    einen Blick auf den ‘Finger zu werfen. Endlich wurde ich
    ruhig, faßte den Finger ins Auge, und siehe da, er war ganz
    unverletzt.“

    Wir einigten uns bald darüber, daß er mir diese Vision
    oder Halluzination doch nicht erzählt haben könne. Er ver-
    stand sehr wohl, daß ich einen solchen Beweis für die Exi-
    stenz der Kastrationsangst in seinem fünften Jahre
    doch nicht unverwertet gelassen hätte. Sein Widerstand gegen
    die Annahme des Kastrationskomplexes war damit gebrochen,
    aber er warf die Frage auf: Warum habe ich so sicher ge-
    glaubt, daß ich diese Erinnerung schon erzählt habe?

    Dann fiel uns beiden ein, daß er wiederholt, bei verschie-

    14) Vgl. Märchenstoffe in Träumen [Ges. Schriften, Bd. III].

    15) Korrektur bei späterer Erzählung: Ich glaube, ich schnitt
    nicht in den Baum. Das ist eine Verschmelzung mit einer anderen
    Erinnerung, die auch halluzinatorisch gefälscht sein muß, daß
    ich in einen Baum einen Schnitt mit dem Messer machte, und
    daß dabei Blut aus dem Baume kam,

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    während der psychoanalytischen Arbeit 357

    denen Anlässen, aber jedesmal ohne Vorteil, folgende kleine
    Erinnerung vorgetragen hatte:

    „Als der Onkel einmal verreiste, fragte er mich und die
    Schwester, was er uns mitbringen solle. Die Schwester
    wünschte sich ein Buch, ich ein Taschenmesser.“ Nun ver-
    standen wir diesen Monate vorher aufgetauchten Einfall als
    Deckerinnerung für die verdrängte Erinnerung und als An-
    satz zu der infolge des Widerstandes unterbliebenen Erzih-
    lung vom vermeintlichen Verlust des kleinen Fingers (eines
    unverkennbaren Penisäquivalents). Das Messer, welches ihm
    der Onkel auch wirklich mitgebracht hatte, war nach seiner
    sicheren Erinnerung das nämliche, welches in der lange unter-
    drückten Mitteilung vorkam.

    Ich glaube, es ist überflüssig, zur Deutung dieser kleinen
    Erfahrung, soweit sie auf das Phänomen der ,fausse recon-
    naissance Licht wirft, weiteres hinzuzufügen. Zum Inhalt
    der Vision des Patienten will ich bemerken, daß solche hallu-
    zinatorische Täuschungen gerade im Gefüge des Kastrations-
    komplexes nicht vereinzelt sind, und daß sie ebensowohl zur
    Korrektur unerwünschter Wahrnehmungen dienen können.

    Im Jahre 1911 ‚stellte mir ein akademisch Gebildeter aus
    einer deutschen Universitätsstadt, den ich nicht kenne, dessen
    Alter mir unbekannt ist, folgende Mitteilung aus seiner
    Kindheit zur freien Verfügung:

    „Bei der Lektüre Ihrer ‚Kindheitserinnerung des Leonardo
    haben mich die Ausführungen auf pag. 29 bis 31 zu innerem
    Widerspruch gereizt. Ihre Bemerkung, daß das männliche
    Kind von dem Interesse für sein eigenes Genitale beherrscht
    ist, weckte in mir eine Gegenbemerkung von der Art: ‚Wenn
    das ein allgemeines Gesetz ist, so bin Ich jedenfalls eine
    Ausnahme.‘ Die nun folgenden Zeilen (pag. 31 bis 32 oben)
    las ich mit dem größten Staunen, jenem Staunen, von dem
    man bei Kenntnisnahme einer ganz neuartigen Tatsache er-

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    358 Über fausse reconnaissance („dėja raconté“)

    faft wird. Mitten in meinem Staunen kommt mir eine Er-
    innerung, die mich — zu meiner eigenen Überraschung —
    lehrt, daß mir jene Tatsache gar nicht so neu sein dürfte.
    Ich hatte nämlich zur Zeit, da ich mich mitten in der ,in-
    fantilen Sexualforschung' befand, durch einen glücklichen
    Zufall Gelegenheit, ein weibliches Genitale an einer kleinen
    Altersgenossin zu betrachten und habe hiebei ganz
    klar einen Penis von der Art meines eige-
    nen bemerkt Bald darauf hat mich aber der Anblick
    weiblicher Statuen und Akte in neue Verwirrung gestürzt
    und ich habe, um diesem ,wissenschaftlichen® Zwiespalt zu
    entrinnen, das’ folgende Experiment ersonnen: Ich brachte
    mein Genitale durch Aneinanderpressen der Oberschenkel
    zwischen diesen zum Verschwinden und konstatierte mit Be-
    friedigung, daß hiedurch jeder Unterschied gegen den weib-
    lichen Akt beseitigt sei. Offenbar, so dachte ich mir, war
    auch beim weiblichen Akt das Genitale auf gleiche Weise
    zum Verschwinden gebracht.“

    „Hier nun kommt mir eine andere Erinnerung, die mir
    insofern schon von jeher von größter Wichtigkeit war, als
    sie die eine von den drei Erinnerungen ist, aus welchen
    meine Gesamterinnerung an meine früh verstorbene Mutter
    besteht. Meine Mutter steht vor dem Waschtisch und reinigt
    die Gläser und Waschbecken, während ich im selben Zimmer
    spicle und irgend einen Unfug mache. Zur Strafe wird mir
    die Hand durchgeklopft: da sehe ich zu meinem größten
    Entsetzen, daß mein kleiner Finger herabfillt, und zwar
    gerade in den Wasserkiibel fällt. Da ich meine Mutter er-
    zürnt weiß, getraue ich mich nichts zu sagen und sehe mit
    noch gesteigertem Entsetzen, wie bald darauf der Wasser-
    kiibel vom Dienstmådchen hinausgetragen wird. Ich war
    lange überzeugt, daß ich einen Finger verloren habe, ver-
    mutlich bis in die Zeit, wo ich das Zählen lernte.“

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    während der psychoanalytischen Arbeit 359

    „Diese Erinnerung, die mir 一 wie bereits erwähnt 一
    durch ihre Beziehung zu meiner Mutter immer von größter
    Wichtigkeit war, habe ich oft zu deuten versucht: keine
    dieser Deutungen hat mich aber befriedigt. Erst jetzt —
    nach Lektüre Ihrer Schrift — ahne ich eine einfache, befrie-
    digende Lösung des Rätsels.“

    Eine andere Art der fausse reconnaissance kommt zur Be-
    friedigung des Therapeuten nicht selten beim Abschluß einer
    Behandlung vor. Nachdem es gelungen ist, das verdrångte
    Ereignis realer oder psychischer Natur gegen alle Widerstände
    zur Annahme durchzusetzen, es gewissermaßen zu rehabili-
    tieren, sagt der Patient: Jetzt habe ich die Empfin-
    dung ich habe es immer gewußt. Damit ist die
    analytische Aufgabe gelöst.

    ZUR EINLEITUNG DER BEHANDLUNG
    (1913)

    Wer das edle Schachspiel aus Büchern erlernen will, der
    wird bald erfahren, daß nur die Eröffnungen und Endspiele
    eine erschöpfende systematische Darstellung gestatten, während
    die unübersehbare Mannigfaltigkeit der nach der Eröffnung
    beginnenden Spiele sich einer solchen versagt. Eifrigstes Stu-
    dium von Partien, in denen Meister miteinander gekämpft
    haben, kann allein die Lücke in der Unterweisung ausfüllen.
    Ahnlichen Einschränkungen unterliegen wohl die Regeln, die
    man für die Ausübung der psychoanalytischen Behandlung
    geben kann.

    Ich werde im folgenden versuchen, einige dieser Regeln für
    die Einleitung der Kur zum Gebrauche des praktischen
    Analytikers zusammenzustellen. Es sind Bestimmungen darun-