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    PROF. DR. FREUD
    WIEN IX, BERGGASSE 19

    3 Okt 20

    Hochgeehrter, lieber Herr Kollege

    Die Einschätzung der Motive, die Sie abgehalten 
    haben, unseren Kongreß im Haag zu besuchen, 
    ist natürlich einzig Ihre Sache.  Ich kann Ihnen nur 
    sagen, daß wir Sie alle schwer vermißt 
    haben u daß infolge Ihrer Abwesenheit die 
    Schweizer Gruppe, fast nur durch Dr Pfister 
    vertreten, gegen die holländische u englische 
    sehr zurücktrat.  Auch Ihre besonderen Wünsche 
    hätten die Aufmerksamkeit des Kongreßes 
    auf sich gezogen, wenn Sie als deren 
    Sprecher aufgetreten wären. Dazu die 
    Einbuße an persönlichem Verkehr; aber 
    da ist nichts mehr zu machen, nur zu be-
    dauern. Sie sollten aber daran denken, 
    daß Sie uns allen gewissermaßen Ihre 
    Person schuldig geblieben sind, und uns 
    nicht fremd bleiben oder werden lassen.

    In Betreff der heikeln Fragen, die 
    Ihr Brief aufwirft, habe ich es mit der 
    Antwort nicht leicht. Als die Zeitschriften 
    in der Geschäftssitzung zur Behandlung 
    standen, hat Pfister den Antrag, es möge 
    für die Schweiz eine Ausnahme von 
    der Forderung gemacht werden, daß beide 
    Periodica obligatorisch seien, überhaupt 
    nicht b gestellt, und so blieb die Bestim-
    mung unabgeändert. Vielleicht konnte 
    er sich die Ablehnung dieses Antrags 
    erwarten u unterließ es darum.  Die

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    Sache liegt wirklich so, daß der Verlag einer solchen 
    Ausnahmsbestim̄ung nicht hätte zustim̄en können, 
    denn die Möglichkeit die Zeitschriften zu 
    halten, ruht wesentlich auf der Opferwillig-
    keit der auswärtigen (nicht zentralmächt-
    lichen) Mitglieder, und endlich hätte jede 
    andere Gruppe dasselbe Vorrecht for-
    dern können. Es wurde nur entschieden, 
    daß jedes nichtdeutsche Mitglied anstatt 
    der beiden deutschen das eine neue 
    Organ, das Intern. Journal of ΨA beziehen 
    könne. Ich glaube doch, dass wir keinen 
    andern Weg der Erleichterung für 
    Sie haben als den der privaten Dispens 
    durch den Vorstand der Gruppe. Wie Sie 
    selbst schreiben, reduziren sich Ihre Verluste 
    infolge der drakonischen Vorschrift, 
    beide Zeitschriften zu nehmen, auf die eine 
    Person des Prof. Bovet. Gerade bei ihm 
    können doch 20 frcs im Jahr keine Rolle 
    gegen sein Interesse an der Sache spielen. 

    Es ist ja auch nicht das Nämliche, ob er die Zeit-
    schriften besitzt oder sie nur im Institut 
    lesen kann. Ich verstehe also sein Ver-
    halten nicht ganz. Ihr Urteil über 
    Pfisters Vorschlag, jene zwei Kategorien 
    von Mitgliedern zu schaffen, tret billige 
    ich uneingeschränkt; es wäre ein ganz 
    schlechter Schritt. Es giebt zwar auch in 
    der Londoner Gesellschaft zwei Arten 
    von Mitgliedern, ausser den ordent-
    lichen die associate members, aber die 
    Scheidung erfolgt auf Grund ihrer ψα Ken̄t-
    niße, nicht ihrer materiellen Leistung,

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    und es wird damit gerechnet, 
    daß die associate members 
    nach einiger Vorbereitung 
    zu Vollmitgliedern auf-
    steigen.

    Somit meine ich, daß Sie diese 
    Angelegenheit nicht zu schwer 
    nehmen sollen. Unsere armen 
    Analytiker in Wien tragen 
    200 K bei, die Analyse ist 
    ihnen soviel wert oder 
    trägt ihnen soviel und 
    mehr ein.

    Die Titeländerung bei der 
    Intern. Zeitschrift geschah 
    nicht auf meine Anregung, 
    sie wurde von maßgeb-
    enden Mitgliedern ver-
    langt, u ich widersetzte 
    mich nicht, weil ich ja im 
    Ganzen gegen das aus-
    schließliche Anrecht der 
    Ärzte auf die Analyse 
    bin.

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    Wir denken im̄er nur daran, 
    wie wir uns gegen Nicht-
    ärzte, welche analysiren 
    wollen, schützen können, 
    und vergessen dabei, daß 
    wir schutzlos gegen die 
    nicht minder unwissenden 
    und gewissenlosen Ärzte 
    sind, die analysiren, ohne 
    es gelernt zu haben.

    Mit Vergnügen greife ich 
    von diesen kleinen 
    praktischen Schwierigkeiten 
    auf den aus Ihrem Brief 
    empfangenen Eindruck zu-
    rück, wie voll und ganz 
    Sie zur Analyse stehen 
    und sich von ihren Wahr-
    heiten bewegen lassen.

    In herzlicher Ergebenheit 
    u mit vielen Grüßen 
    an Ihre Frau
    Ihr
    Freud