S.

DR. OTTO RANK WIEN, am 15. Februar 1924.
I. GRÜNANGERGASSE 3-5  
TELEPHON 73-509     

Lieber Herr Professor!

Gestatten Sie, daß ich von Ihrer freundlichen Erlaubnis Gebrauch mache, mich zu Ihrem Rundbrief, den ich heute abgeschickt habe, zu äußern. Ich finde ihn seinem Zweck entsprechend, den Frieden im Komitee zu erhalten, sehr geeignet und weiß ihn auch als Ausdruck Ihrer persönlichen Einstellung zu uns beiden sehr zu schätzen. Umso unbefangener fühle ich mich bei dem Geständnis, daß mich Ihre sachliche Stellungnahme zu meiner Arbeit ein bisschen enttäuscht hat. Nicht etwa als hätte ich auch nur einen Augenblick daran gedacht, daß Sie mich und meine Arbeit vor den Kollegen hätten verteidigen sollen! Sie sollten und konnten ja nur Ihr Urteil abgeben, aber gerade als dieses hat es mich eben enttäuscht, da ich den Eindruck hatte, daß es nicht ganz ungetrübt und frei von Missverständnissen ist. Da es mir nun sehr am Herzen liegt, daß Sie mich nicht missverstehen - weit mehr als die Anerkennung durch psa. Kollegen, von deren Gros ich nie viel Verständnis für meine Arbeit erwartet habe -, so gestatten Sie mir, bitte, freimütig zu äußern, wo ich mich missverstanden glaube.

In Ihrem Bestreben den Kollegen eine Brücke zum Verständnis und zur Akzeptierung zu schlagen verweisen Sie gleich anfangs auf die altbekannte Mutterleibsphantasie, der ich nur eine besondere Stellung anweise. Nun gehört aber gerade die Aufzeigung der Mutterleibsrealität - wenn ich so sagen darf - zu den wesentlichen Grundlagen meiner Auffassung. Infolge dieses Missverständnisses sprechen Sie von der "phantastischen" Rückkehr in den Mutterleib, während es sich meiner Auffassung nach sowohl in den neurotischen Symptomen wie auch im Sexual¬act um weit mehr als bloß das, nämlich um ein teilweises Realisieren handelt.

Ferner erblicke ich einen Widerspruch darin, daß Sie den Trieb zur Rückgängigmachung der Geburt mit einem neuen Namen auszeichnen wollen, während Sie an anderer Stelle unwillkürlich darin etwas Altbekanntes erblicken müssen: einerseits nämlich in Anlehnung an Ferenczis Genitaltheorie den Sexualtrieb, der ja gar nichts anderes will als zur Mutter zurück; anderseits in Berücksichtigung Ihrer eigenen Auffassung des Triebes, als Tendenz zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes, das Wesen des Triebes überhaupt, oder wie ich meine die [sic] Libido. Sie lassen denn auch am Schluß die Frage offen, ob es nur ambivalente Triebe gebe!

Die Frage der Hemmung des Inzeststrebens (zurück zur Mutter) möchte ich weniger an Hand der Triebtheorie, die ja noch sehr unsicher ist und erst geschaffen werden soll, als an der praktischen Erfahrung erörtern. Mir hat bis jetzt jeder einfache Fall von Impotenz gezeigt, daß das Wesentliche, die nicht überwundene Angst vor dem mütterlichen Genitale und nicht das väterliche Verbot (ich meine in jeder sozialen Form) war. Ich kann auch nicht gut verstehen, wie Sie Ihre eigene Entdeckung von der Geburtsangst als Quelle und Vorbild jeder Angst und die Anerkennung der Ferenczischen Genitaltheorie aufrecht erhalten könnten, ohne gleichzeitig die von mir gezogene Konsequenz zu akzeptieren, die ich ja übrigens keineswegs logisch gezogen habe, sondern aus der Erfahrung verifizierte.

Ich hoffe vor dem Missverständnis gefeit zu sein, daß ich meine Arbeit als etwas ganz Neues und Unabhängiges hinstellen möchte. Im Gegenteil möchte ich Wert darauf legen, daß ich mich noch weitgehender Übereinstimmungen mit Ihren Anschau¬ungen und stärkerer Anknüpfungen rühmen kann. Die Auffassung der Geburtsangst steht dabei an erster Stelle. Zu Ihrer Trieblehre finde ich wie gesagt nicht nur keinen Widerspruch, sondern die schönste Übereinstimmung (Wiederherstellung eines früheren Zustandes); und auch methodologisch möchte ich Ihre eigentlich analytische Auffassung, zunächst die individuellen Erklärungsmöglichkeiten zu erschöpfen, ehe man phylogenetische Gesichtspunkte heranzieht, zu meinen Gunsten anführen.

Aber auch in der Therapie, in der Sie mir anscheinend am wenigsten folgen können, gehe ich von der Terminsetzung, die Sie eingeführt haben, aus, um schließlich auch an Ihr Ergebnis in der Geschichte einer infantilen Neurose anzuknüpfen. Sie gelangen dort bekanntlich auf Grund des Wiedergeburts¬erlebnisses des Patienten in der Endphase seiner Analyse zu einer Serie von Fragestellungen, die bisher jeder Lösung widerstrebten, die aber, wie ich wohl ohne Überhebung sagen kann, durch meine Auffassung verständlich und lösbar geworden sind, ohne darum Ihren Annahmen zu widersprechen. Zugleich erblicke ich aber in diesem Fall einen unzweideutigen Beweis dafür, daß sich das Geburtserlebnis als Abschluß der Kur auch bei Ihren Fällen spontan eingestellt hat, ebenso wie bei meinen. Ich bin nur auf Grund analytischer Erfahrungen, keineswegs spekulativ dazu gedrängt worden, dieses Erlebnis als ein allgemein analytisches, und von da aus allgemein menschliches zu verstehen. Therapeutisch glaube ich damit insoferne einen Fortschritt erzielt zu haben als etwas und zwar etwas wesentliches, was wir früher nicht erkannt hatten, jetzt von uns verstanden und therapeutisch ausgenützt werden kann. Ich lege keinen so großen Wert auf die Verkürzung der Analysen, wie es vielleicht den Eindruck machen könnte. Diese Verkürzung hat sich als ein willkommener Gewinn der neuen Erkenntnis ergeben. Im übrigen gibt mir gerade das Gleichnis, das Sie gebrauchen, am besten Gelegenheit, Ihnen den Unterschied unserer vervollkommneten Technik darzutun. Wir verkennen keineswegs dabei die enorm hohe Bedeutung, welche der Analyse als Forschungsmethode zukommt. Was wir in unserer gemeinsamen Arbeit kritisierten war nur, daß jeder beliebige analytische Therapeut mit Berufung auf die Forschung die Behandlung unverhältnismäßig ausdehnte und therapeutisch versanden ließ. Ich meine therapeutische Analyse ist kein Heilungs- oder Regenerationsprozeß, wie Sie es in Ihrem Gleichnis andeuten, sondern ein operativer Eingriff, der in unverhältnismäßig kürzerer Zeit ausgeführt werden kann, ja sogar ausgeführt werden muß, damit der Patient nicht an der Operation zu Grunde geht. Allerdings ist dieser chirurgische Schnitt nur möglich, wenn man von vornherein weiß, oder rasch feststellen kann, wo der eigentliche Sitz des Übels ist. Es macht dann nicht mehr viel aus und ist dann nur eine Frage der Technik, in welcher Tiefe die Wurzel liegt. Ich glaube Sie werden mir gewiss zugeben, daß das Geburtstrauma, die früheste Mutterbindung, bis zum Entwöhnungs- und Sexualtrauma gewiss zu den allertiefsten Schichten gehören, in die wir überhaupt eindringen können. Und ich kann Sie versichern, daß dies in jeder Analyse innerhalb des ersten Monats möglich ist, und zwar nicht nur ohne dem Patienten im geringsten zu schaden, sondern die Lösung aller Konflikte, der neurotischen wie der aktuellen, zu erleichtern oder zu beschleunigen.

Schließlich möchte ich mir noch erlauben, darauf hinzuwei-sen, daß Ihren Einwand, wir hätten noch viel zu lernen, um uns in der Therapie auf unsere Voraussetzungen zu verlassen, bereits Ferenczi in seinem hiesigen Vortrag mit einem Hinweis darauf entkräftet hat, daß gerade diese Technik uns ganz neue Einsichten in den Mechanismus der Neurosenbildung und in den Ablauf der Kur gewährt hat; andererseits uns auch vor eine ganze Reihe neuer Probleme gestellt hat, so daß man sie gewiss nicht als wissenschaftlich unfruchtbar bezeichnen kann.

Es ließe sich natürlich noch sehr viel dazu sagen, besonders auch diskutieren, aber ich bin der letzte, der Sie dazu drängen möchte, bevor Sie sich nicht aus der Erfahrung genügend Eindrücke geholt haben, um sich ein möglichst abschließendes Urteil bilden zu können. Immerhin hoffe ich durch meine Bemerkungen zur Klärung etwa bestehender oder zur Vermeidung künftiger Missverständnisse beigetragen zu haben.

Ich begrüße Sie herzlichst in alter Dankbarkeit Ihr