S.
PROF. DR. FREUD. WIEN IX., BERGGASSE 19
28.II.1926
Geehrter Herr Doktor!
Ich fand Ihre Darstellung des Epilepsievortrages in der Gesellschaft
sehr interessant und bin gerne bereit, Ihre Fragen zu beantworten, wenn
Ihr Brief eine solche zu stellen beabsichtigt. Ich meine, Sie sollen
nicht zu empfindlich sein, sich nicht zu leicht gekränkt fühlen und in
längerem Beisammensein versuchen, inwieweit Sie die Sprache der Mitglieder
sprechen und diese Ihre Sprache verstehen lernen können. Vergessen Sie
nicht daran, dass Sie mit einem Vorurteil belastet sind, welches sich
historisch sehr gut rechtfertigen lässt. Das Misstrauen gegen alles, was
mit Stekel zusammenhängt, muss zu den Verdiensten der Gesellschaft gerech-
net werden. Wenn es Ihnen mit der Abwendung von ihm ernst ist, woran ich
nicht zweifle, so zeigen Sie dies durch Entgegenkommen in der neuen
Umgebung.
Ueber das Thema selbst haben wir letzthin einmal mündlich verhandelt.
Ich meine noch heute, dass man. ein Recht hat, den ganzen epileptoiden
Mechanismus bei den Psychoneurosen abzuhandeln, da man ihn ja in der
Symptomatologie der Hysterie begegnet. Dass aber das, was man klinisch
Epilepsie heissen darf, wirklich ein organisches Leiden ist. Nur ein so
unwissenschaftlicher, sensationslustiger und gewissenloser Mensch wie
Stekel kann von einer Heilung der Epilepsie durch Psychoanalyse mit
Sicherheit reden. Vielleicht erweckten Sie auch dadurch Misstrauen, dass
Sie sich in die Nähe dieser Behauptung Stekels begeben hatten, ohne sich
scharf genug von ihr zu lösen.
Ich bin jetzt nicht wohl genug, Sie persönlich zu sehen, werde aber
Ihre Schicksale immer mit Interesse verfolgen.
Mit besten Wünschen
Ihr
Freud
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