• S.

    PROF. DR. FREUD     WIEN, IX. BERGGASSE 19.

    5 Okt 11

    Verehrter Kollege

    Sie machen sich einen schlechten Charakter zurecht. 
    Doch weiß ich, daß ein viel schlechterer Mensch 
    zum Vorschein käme, wenn z.B. ich mich in 
    einer Analyse so entblößen würde, und Sie 
    übersehen, welche Seelengröße sich in Ihrer 
    Aufrichtigkeit kund giebt. Es kränkt mich 
    nur, dass Sie mir zum letzten Mal in 
    persönlichen Angelegenheiten geschrieben 
    haben wollen. Ich hoffe, es wird nicht so 
    sein.

    Es eilt mir nun, Ihre Fragen einzeln, soweit 
    ich es kann, zu beantworten.

    1) In Betreff Ihrer Tochter bin ich der Ansicht, 
    daß eine Wahrscheinlichkeit von 9 : 1 für 
    die Diagnose Hy und gegen die Epilepsie 
    spricht. Ich meine, Sie brauchen es nicht eilig 
    zu nehmen u können die Symptome 
    vernachlässigen, wenn sich der Anfall 
    nicht wiederholt und nichts anderes auf-
    tritt. Zeigt es sich aber, dass etwas progressives 
    vorliegt, so ist eine Analyse gewiß ange-
    zeigt, von der ich hoffe, daß sie Ihnen den 
    Vorteil dieser Therapie in corpore pretioso 
    zeigen wird.  Ich bewahre natürlich das 
    Geheimnis.

  • S.

    2.  Zu Ihrem Traum kann ich bemerken, daß ich 
    Ihre Deutung völlig korrekt finde, nur 
    eine Überdeutung vorschlagen möchte. Die 
    sichere Straße, die Sie bisher verfolgt haben, 
    kann auch die Ihrer bisherigen Therapie 
    sein, die neue, die sich bald so unangenehm 
    erweist, dagegen die der Psychoanalyse
    vor welcher Sie große Angst zu haben 
    scheinen. Sie fürchten sich wirklich zu sehr vor 
    Ihren Phantasien u scheinen nicht glauben 
    zu wollen, daß eine Übersetzung derselben 
    in Realität völlig ausgeschloßen ist. Wenn 
    Sie diese Angst aufgeben, werden Sie auch 
    mehr von den Phantasien erfahren, sie 
    interessant finden u sich erleichtert fühlen. 
    –  Es frappirt mich auch, daß Sie in Ihrer 
    Zeichnung die Buchstaben A B D E F G 
    verwenden und das C (Charles) auslassen. 
    Leider habe ich versäumt nach dem Namen 
    Ihrer Frau zu fragen.

    3. Am wenigsten kann ich Ihrer Phantasie vom 
    glücklichen Familienleben sagen, weil Sie 
    sich im Motivenbericht zu ihr so sehr über-
    stürzt und alles Mögliche, was unangenehm 
    ist, zusam̄engetragen haben. Ich möchte Sie 
    nur bitten, nicht zuviel Wert auf 
    die Adler’schen Gedanken von Organminderwertigkeit, 

  • S.

    Protest, sich zur Geltung 
    bringen usw zu legen, weil 
    diese Momente oberflächlich 
    u sekundär, auch ja meist 
    bewußt, sind u den wirklichen 
    Mechanismus nicht treffen.

    Ich sehe Sie im wesentlichen an 
    zu früh u stark verdrängtem 
    Sadismus – an Übergüte – 
    leiden, der sich nun zum größeren 
    Teil als Selbstquälerei Ausgang 
    verschafft. Hinter der Phantasie 
    vom glücklichen Familienleben 
    werden Sie die normalen 
    verdrängten Phantasien von 
    reichem Ausleben der Sexualität 
    finden, auf deren Einfluß auch 
    die körperliche Unbefriedigung 
    durch die Ehefrau zurückzuführen 
    ist. Symptome des Alterns, die 
    ich jetzt auch kennen lerne 

  • S.

    wie ich Ihnen in Zürich erzält habe.

    – Immer bereit, mit Ihnen brieflich 
    zu plaudern, wenn die Entfern-
    ung mündlichen Verkehr ver-
    hindert, zäle ich die Annäherung 
    zwischen uns zu den Gewinnen 
    der schönen Zeit um den Kongreß.

    – Ich hätte bald Ihre vierte Anfrage 
    vergessen. Ja ich meine, das 
    Verkehren mit Todten wie 
    in Ihrem Traum mit James 
    – wenn nicht die Klausel dabei 
    ist: Ich weiß aber, dass er todt 
    ist – bedeute den eigenen 
    Tod. Interessant, daß Sie gerade 
    das vergeßen haben.

    Herzlich u ergebenst 
    Ihr getreuer 
    Freud