• S.

    Semmering
    Villa Schüler
    15.8.24

    Geehrter Herr Doktor

    Ich habe heute die englische Übersetzung 
    Ihres Buches über mich gelesen und 
    etwas darin geblättert. Dies der Anlaß meines Schreibens.

    Sie kennen meine Einstellung zu diesem 
    Werk, sie ist nicht freundlicher geworden. 
    Ich bliebe dabei, daß jemand, der so wenig 
    von einem weiß wie Sie von mir, kein 
    Recht hat eine Biographie über den be-
    treffenden zu schreiben. Man wartet, 
    bis er gestorben ist, dann muß er alles 
    über sich ergehen lassen und es ist ihm 
    zum Glück auch gleichgiltig. 

    Ich kann die englsiche Ausgabe nicht mit 
    der deutschen vergleichen, die ich ja 
    nicht in die Ferien mitgenom̄en habe 
    (ebensowenig wie den Nietzsche). Sie haben 
    offenbar meine Berichtigungen verwertet 
    An manchen Stellen habe ich den Eindruck 
    von neuen Zusätzen gehabt aber das mag 
    an meinem mangelhaftemn Erinnern 
    liegen. An anderen Stellen habe ich 
    wieder Gelegenheit gehabt Sie ob Ihrer 
    Leichtigkeit zu bewundern, nicht gerade 
    Sie darum zu beneiden.

    Ein Biograph sollte mndestens so gewissen-
    haft sein wollen wie ein Übersetzer.
    Traduttore – Traditore sagt aber das 
    Sprichwort. Ich sehe ein, das war Ihnen 
    durch die Verhältniße besonders er-
    schwert. So kom̄ es, daß sich Auslass-
    ungen ergeben, die eine Angelgen-
    heit in falsches Licht rücken, direkt 
    Unrecht thun udgl.

  • S.

    ZB. in der Cocaingeschichte, auf die Sie aus 
    mir nicht bekanntem Motiv so großes 
    Gewicht legen. Die ganze Analogie mit 
    Brücke’s Augenfund vergeht, wenn 
    man hinzunim̄t, was Sie nicht wissen, 
    (oder doch hätten wissen können?). Daß 
    ich die Verwendung am Auge wol ahnte, 
    aus privaten Gründen (um abzureisen) 
    die Arbeit abschließen mußte u 
    meinem Freund Königstein direkt 
    den Auftrag gab, das Mittel am Auge 
    zu versuchen. Als ich zurückkam, hatte 
    er es ¿¿¿ ¿¿¿ gelaßen 
    u ein anderer, Koller war der Ent-
    decker geworden).

    Der Leser würde von meiner Einstellung zu 
    Koller’s Entdeckung auch einen anderen 
    Eindruck bekom̄en, wenn er erführe, 
    was Sie freilich nicht wissen konnten. Daß 
    Königstein – ihm, nicht mir, that es dann 
    so sehr leid, am Lorbeer vorbeigegangen 
    zu sein – dann den Anspruch erhob, als 
    Mitentdecker anerkannt zu werden u
    daß die beiden Jul. Wagner u mich als 
    Schiedsgericht darüber einsetzen. Ich glaube,
    es war dann ehrenvoll für uns beide, 
    daß jeder von uns die Partei des 
    gegnerischen Klienten nahm. Wagner, der 
    Koller’s Vertrauensmann war, stim̄te 
    dafür, Königst’s Anspruch anzuerken̄en, 
    während ich ich durchaus Koller allein 
    die ehre zusprach. ich weiß nicht mehr, 
    auf welche mittlere Formell wir 
    uns einigten. 

    Nach dem Zuwenigwissen kom̄t auch das 
    Zuvielwissen in Betracht. Wer sich heraus-
    nim̄t die Gefülsintimitäten eines 
    Lebenden öffentlich zu richten, muß

  • S.

    Sehr gewissenhaft und verläßlich seine.
    Bei    Besprechung der Fliessperiode, die 
    mir wirklich nahe gegangen ist, heißt 
    es im englischen Text: To him (a friend) 
    W’s) Fr had blabbed. Das ist einigermaßen 
    großartig u frech ausgedrückt und 
    giebt ein ganz falsches Bild vom Sach-
    verhalt. Der Gesichtspunkt der allgemeinen Homosex-
    ualität und Bisexualität war damals 
    längst akzeptirt und mußte in der Kur 
    jedes Patienten betont erden, genau 
    so wie heute. W’s Freund Swoboda war 
    Patient u erfuhr es so. Ich konnte nicht 
    ahnen daß er einen —mir damals 
    völlig unbekannten – Frreund habe, 
    dem er die Mitteilung weiter geben 
    werde u der durch sie in die Lage 
    kom̄en werden, Fl’s Idee vor ihm zu 
    verwerten. In meiner Antwort an 
    Fl beschuldigte ich mich übermäßiger 
    Weise im Bedauern über die Ver-
    kettung u mit selbstquälerischer Ein-
    rechnung des Unbewußten. Aber 
    ich lese auch, daß ich die Unterhaltung 
    W’s Freund in der des Geheim-
    nis verraten wurde, zunächst ver- 
    geßen u erst dann einbekannt habe. 
    Das ist so unmöglich – es war ja nicht 
    ein einzelnes Gespräch, sondern 
    ein ganzes Stück Kur – daß ich 
    fragen möchte, woher Sie das wissen. 
    ¿¿¿ Sie das nicht nachweisen können 
    u etwas misverstanden oder ver-
    wechselt hhaben, dürfen Sie sich den 
    Vorwurf eines schweren Verstoßes 
    gegen eine sittliche Pflicht nicht er-
    sparen. Es geht wol nicht an daß 
    man sagt: Sie sind in meinen Augen

  • S.

    ein großer Mann u ein Genie, folglich 
    müßen Sie sich jede Blosstellung von mir 
    gefallen laßen. Ich habe ihnen so dick ge-
    schmeichelt, daß ich mit Ihrer absoluten 
    Toleranz rechnen darf. 

    Etwas mehr Wahrhaftigkeit hätte auch Ihrer 
     biographie nicht geschadet. Nachdem ich Ihnen 
    mitgeteilt, was der Grund des Bruches 
    mit Stekel war, erwarte ich natürlich 
    nicht, daß Sie der Öffentlichkeit davon 
    Kenntnis geben würden aber doch, daß 
    Sie für mein Verhalten gegen ihn 
    eine andere Darstellung wälten, Sie 
    haben es gegen Ihr besseres Wissen 
    nicht getan, sei es denn! Aber Ihre Be-
    ziehung zu St. bleibt der letzte Fleck, der 
    Ihre Arbeit in persönlicher wie in 
    sachlicher Hinsicht entwertet, Sie leisten 
    ihm auch in wissenschaftlichen Fragen Ge-
    folgschaft. Eines Tages, wenn ich nicht 
    mehr da bin – mit mir geht auch 
    meine Dikretion zu Grabe – wird 
    auch manifest werden, daß die St’sche 
    Behauptung von der Unschädlichkeit 
    der ungehem̄ten Masturbation auf 
    einer Lüge beruht. Schade daß – aber 
    es ist genug. Sie haben längst erraten, 
    daß ich mich dem Erfolg Ihres Buches 
    über. mich nicht zufrieden bin. Aber 
    man ist ja ein „großer Mann“, also 
    ein wehrloses Objekt.

    Ich grüße Sie mit dem Respekt, 
    der Ihrer Überlegenheit als Biograph 
    gebührt u mit etwas von der 
    alten Sympathie
    Ihr 
    Freud