• S.

    PROF. DR. FREUD  WIEN, IX., BERGGASSE 19.

    28. 1. 1910

    Dear Dr Putnam

    Sie werden es verständlich finden, wenn ich 
    gestehe, daß ich schon lange keinen Artikel 
    in so großer Spannung zu lesen begonnen 
    habe, wie Ihren ersten Aufsatz im J. of abnorm. 
    psychology, der an so ehrenvoller Stelle meinen 
    Namen zeigt. Was ich dann gelesen habe, konnte 
    mich dank unserer Korrespondenz nicht 
    mehr überraschen, aber es hat mir Freude 
    u Genugthuung bereitet.  Ich hoffe, Ihre Äußer-
    ung wird einen mächtigen Eindruck in Amerika 
    hervorrufen u der Psychoanalyse die Auf-
    merksamkeit Ihrer Landsleute endgiltig 
    sichern.  Besonders schön finde ich Ihre Worte 
    auf p. 307 von: All this is wrong an. So etwas 
    ehrt den Mann, der es geschrieben hat, nicht 
    nur den Arzt und Forscher. Ich stehe wahrschein-
    lich religiös auf einem von dem Ihrigen sehr 
    verschiedenen Standpunkt, aber ich sehe, soweit 
    sind alle ehrlichen Männer von derselben 
    Religion. Besonderen Dank schulde ich Ihnen 
    dann noch für die Ernsthaftigkeit, mit der 
    Sie mir in Sachen der Sexualität beistehen; 
    auch das sollte selbstverständlich sein, ist 
    es aber leider auch unter Ärzten nicht.

    In einem einzigen Punkt verstehe ich 
    Sie nicht; wie Sie Morton Prince in der 

  • S.

    Auffassung des Unbewußten Recht geben können. 
    Ist da nicht auch das Vorurteil handgreiflich, 
    daß die suppressed mental states hysterischer Personen 
    „bewusst“ genannt werden müßen, obwol 
    die oberflächlichste Untersuchung zeigt, daß 
    sie nichts von ihnen wissen und das allein 
    ist das Kennzeichen u zunächst der ganze Sinn 
    des Unbewußten. Das wird mir nie be-
    greiflich werden. Mit „awareness“ hat diese 
    Frage ja nichts zu thun. Normale seelische Vor-
    gänge melden sich beim Bewußtsein, sobald 
    sie aktiv werden; die von uns sondirten werden 
    aktiv und doch nicht bewußt. Ist dieser Unter-
    schied nicht bedeutsam genug, um die Namen-
    gebung nach ihm einzurichten?

    Ich bin natürlich sehr neugierig, was Ihre 
    Fortsetzung bringen wird. Bei dieser Ge-
    legenheit erfahre ich endlich auch die richtigen 
    englischen Übersetzungen für meine Termini. 

    Von mir ist in nächster Zeit nichts zu erwarten. 
    Ich muß das Jahr und die Ferien verdienen, 
    was auch in Österreich schwere Arbeit 
    kostet. Die zweite Auflage der „Sexualtheorie“ 
    wird in 3‑5 Wochen bei Ihnen eintreffen.

    Mit herzlichem Dank u Gruß 
    Ihr 
    Freud