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PROF. DR. FREUD WIEN, IX. BERGGASSE 19.
14.5.11.
Verehrter Dr Putnam
Ich bitte Sie ernsthaft um Entschuldigung
in zwei Punkten. Erstens, daß ich Ihnen
in der Note zur Übersetzung Ihres Vortrages
einen „Charakter“ gegeben. Ich wußte
damals noch nicht, dass Sie den deutschen
Aufsatz in Amerika versenden würden;
dort muß es sich ja höchst sonderbar
ausnehmen, wenn ich, der Unbekannte,
Zeugnis für Sie ablegen will. Anders
natürlich, wenn Sie mich dem amerikan.
Publikum vorgestellt haben.Zweitens, wenn ich auf Ihren ausführlichen
Brief in Sachen der Sublimirung ant-
worte, als ob nicht der Nachtrag mit
der Ablehnung einer solchen Reaktion
mitgekommen wäre. Das Problem inter-
essirt mich zu sehr und ich meine auch, Ihre
Vermutung, daß wir hier nicht auf
dem selben Boden stehen, kann Ihr
Interesse für die ΨA abschwächen.Sie sagen also, die ψα Erfahrung zeigt
mir, daß ich bei meinen Patienten die
Sublimirung anstreben muß, wenn ich
sie wirklich herstellen will. Die ψα
Theorie sagt mir aber nicht, warum
ich so vorgehen muß. Hier, meine ich, -
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darf man widersprechen. Die ψα Theorie erklärt
es wol. Sie behauptet, dass ein Trieb
nicht sublimirt werden kann, solange er ver-
drängt ist. Das gilt natürlich auch für
jeden Teilbetrag des Triebes. Es ist also
notwendig die Verdrängg durch die
Überwindung der Widerstände aufzu-
heben, ehe man eine Sublimirung oder
eine vollständige Sublimirg erreichen
kann. Das will nun die ΨA Therapie leisten
u damit stellt sie sich in den Dienst
jeder höheren Entwicklung.Wenn wir uns nicht begnügen zu sagen
Be moral and philosophical, so geschieht
es, weil dies zu billig ist und bereits
zu oft gesagt wurde, ohne zu helfen.
Die Kunst ist, den Menschen zu ermöglichen
moralisch zu sein u ihre Wunschtendenzen
philosophisch zu beherrschen. Die Sublimirg,
das Aufsuchen höherer Ziele ist natürlich
einer der besten Wege, um das Drängen
unserer Triebe zu bewältigen. Aber
das kann erst in Betracht kom̄en, nachdem
die ψα Arbeit der Aufhebung von
Verdränggen geleistet ist.Wenn die Sublimirung in unseren
Diskussionen wenig vorkom̄t, so hat
dies zwei Gründe, erstens weil sie
nicht in Frage kom̄t, zweitens weil -
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soviele unserer Patienten, denen wir
doch helfen sollen, ungeeignet für
sie sind. Es sind zum großen Teil minder-
wertige Konstitutionen mit unmäßig
starken Trieben, die besser sein wollen
als sie sein können, ohne daß sie
selbst u die Gesellschaft etwas von
diesem krampfhaften Wollen hätten.
Es ist also humaner, den Grundsatz
aufzustellen: Sei so moralisch, als Du
ehrlicher Weise sein kannst, u strebe
nicht eine ethische Vollkom̄enheit
an, für die Du nicht bestim̄t bist.Wer der Sublimirung fähig ist, der
wendet sich ihr regelmäßig zu, sobald
er von der Neurose befreit ist; andere,
die es nicht können, sind wenigstens
natürlicher u wahrhaftiger.Sie können nach diesen Bemerkungen
schließen, wie sehr wir uns alle
freuen würden, wenn wir auf
dem Kongreß in Weimar wirklich
etwas von Ihren Ansichten über
das Verhältnis der ΨA zur Ethik
hören könnten.In Betreff Ihrer weitergreifenden Ford-
erungen an die ΨA möchte ich bemerken,
daß sie ja nur ein Instrument ist, -
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dessen sich der Arbeiter nach den Intentionen
seiner Hand bedienen kann. Ich kann
mich persönlich wol in Ihre Bedürfniße
einfühlen, wenn ich Ihnen auch nicht
in die Versuche folge, sie zu befriedigen.
Die Genügsamkeit, das Bedürfnis
nach Sicherheit scheint mir das nächste
Wertvolle zu sein. Es hat niemals
an den erhebendsten Weltanschauungen
gefehlt. Aber sie waren Kinder des
from̄en Wunsches, der Illusion gerade
wie die stolzen naturwissenschaftlichen
Systeme, die wir verlassen haben, als
wir aufs Anthropozentrische verzichten
mußten. Wir kennen die menschliche
Seele noch zu wenig; erst wenn diese
Kenntnis sich gehoben hat, werden
wir wissen, was auf ethischem Gebiet
möglich ist, u was man auf dem Gebiet
der Erziehung – ohne Schaden – thun kann
um es zu erreichen.Ich bin mit herzlichem Dank für
Ihre mich intensiv beschäfigende
Zuschrift u in der Erwartung, Sie
im Herbst wiederzusehen,
Ihr treu ergebener
Freud