• S.

    PROF. DR. FREUD    WIEN IX., BERGGASSE 19.

    9 3. 15

    Verehrter Freund

    Ihr Händedruck über den weiten Ozean 
    hat mich sehr erfreut. Seien Sie nur ver-
    sichert, daß auch die Parteiungen dieses 
    Krieges keine Entfremdung zwischen u
    ns hervorrufen werden.  Ich könnte mir 
    Vorwürfe machen, daß ich Ihre Zuschriften 
    nicht schon früher ausführlich beantwortet. 
    Allein die Idee des Zensors lähmt die 
    Mitteilsamkeit.

    Daß Sie ein Buch schreiben, weiß ich durch 
    Jones, von dem gelegentlich ein Brief durch-
    dringt. Es thut mir leid zu hören, daß ich 
    es erst in einigen Monaten werde lesen 
    können.

    Die Zeit ist natürlich der Produktion 
    nicht günstig. Zu Beginn des Krieges habe 
    ich in einer gewaltsamen Aufraffung 
    eine große Krankengeschichte geschrieben, 
    die jetzt auf die Publikation im 
    Jahrbuch wartet. Dann kam die Lähmung 
    und seither arbeite ich mühselig und 
    spärlich. Wir führen unsere beiden 
    Zeitschriften fort. Die erste Num̄er 
    des neuen Jahrganges der Inter. Zeitsch
    bringt einen technischen Beitrag von 
    mir (Übertragungsliebe), über den ich 
    gerne Ihre Meinung hörte. Für die 

  • S.

    nächste erste Nummer der Imago muß ich einen 
    zeitgemäßen Aufsatz über die Enttäuschung 
    dieses Krieges schreiben, der mir gar kein 
    Vergnügen macht, wol auch anderen nicht 
    gefallen wird. Meine ärztliche Thätigkeit 
    ist auf ein schlechtes Dritteil herabgesunken. 
    An der so gewonnenen freien Zeit 
    hat man keine Freude.

    Zwei meiner Söhne sind bei der Armee, 
    der eine kämpft bereits seit Wochen 
    in Galizien und lobt bis jetzt sein Befinden 
    sehr, – der andere wird wol in einigen Wochen 
    aus der Ausbildung an die Front kom̄en.  
    Ein dritter Sohn u meine beiden Schwieger-
    söhne sind vorläufig noch frei. Die Frauen 
    beschäftigen sich, soviel sie können, mit 
    den Aufgaben, die ihnen in dieser Zeit 
    gestellt sind.

    Mr. Kronberg u Mr. Kimball erinnere ich 
    beide sehr gut. Ich danke Ihnen für alle 
    Nachrichten über das Interesse an 
    unserer Wissenschaft in Ihrer Nähe u 
    konstatire mit Befriedigung, daß 
    unser Postverkehr mit Amerika 
    noch aufrecht erhalten ist.

    Herzlich grüßend 
    Ihr 
    Freud