• S.

    PROF. DR. FREUD   WIEN IX., BERGGASSE 19.

    7. 6. 15

    Verehrter Freund

    Höchst angenehm überrascht! Ich meinte, 
    daß ein Brief von hier keine Aussicht 
    hat über den Ozean zu kommen, und hatte 
    darum auch Ihr letztes liebenswürdiges 
    Schreiben in dumpfer Resignation nicht 
    beantwortet.  Nun erfahre ich – wie un-
    logisch die Hoffnung macht! Daß Briefe 
    von Amerika nach Wien kommen, ist 
    doch noch kein Beweis dafür, daß der 
    umgekehrte Weg frei ist.

    Geben Sie mir auf einer Karte einen 
    Beweis, daß Sie diesen Brief erhalten 
    haben. Ich habe dann den Mut, Ihnen nach 
    Erhalt Ihres angekündigten Buches 
    ausführlich zu schreiben, ein Mut, der 
    mir heute noch fehlt.

    Mein Haupteindruck ist jedoch, daß ich weit 
    primitiver, bescheidener, unsublimirter 
    bin als mein lieber Freund in 
    Boston. Ich sehe seinen edlen Ehrgeiz, 
    seine hohe Wißbegierde und vergleiche 
    damit meine Beschränkung auf 
    das Nächste, Greifbarste und doch 
    eigentlich Kleinliche, und meine Neig-
    ung, mich mit dem zu begnügen, 

  • S.

    was sich erreichen läßt. Ich glaube nicht, daß 
    mir die Wertschätzung für das von 
    Ihnen Angestrebte fehlt, sondern mich 
    schreckt die große Unsicherheit, ich bin 
    eher ängstlich als kühn und opfere gern 
    sovieles für die Empfindung auf 
    festem Boden zu stehen.

    Die Nichtswürdigkeit der Menschen, auch 
    der Analytiker, hat uns immer großen 
    Eindruck gemacht. Aber warum wollten 
    die Analysirten durchaus die Besseren 
    sein? Die Analyse macht einheitlich 
    aber nicht an und für sich gut. Ich glaube 
    nicht wie Sokrates und Putnam, daß 
    alle Untugenden in einer Art von Un-
    klarheit und Unwissenheit begründet 
    sind. Ich meine, dass man der Analyse 
    zuviel aufbürdet, wenn man von 
    ihr verlangt, daß sie die jedem theuer-
    sten Ideale realisiren soll.

    Also beruhigen Sie mich über das 
    Schicksal dieses Briefes. Ich werde 
    in meiner gegenwärtigen Isolirung 
    doppelt froh sein antworten zu können.

    Ihr in herzlicher Freundschaft 
    ergebener 
    Freud