-
S.
PROF. DR. FREUD WIEN IX., BERGGASSE 19.
8. 7. 15
Verehrter Freund
Ihr Buch On Human Motives ist endlich,
lange nach seiner Ankündigung, angekom-
men. Ich habe seine Lektüre noch nicht vollendet,
aber doch die für mich bedeutungsvollsten
Abschnitte, über Religion und über ΨA
schon gelesen und gebe dem Drang nach, Ihnen
etwas darüber zu schreiben.Lob und Anerkennung verlangen Sie von
mir gewiß nicht. Es ist mir angenehm zu denken,
daß es bei Ihren Landsleuten Eindruck
machen und bei vielen die tief gewurzelten
Widerstände erschüttern wird.Auf S. 20 fand ich die Stelle, die ich als maß-
gebend für meine eigene Person gelten
lassen muss. „To accustom ourselves to the study
of immaturity and childhood before …
undesirable ¿¿¿tation of our virion …
… etc.Ich anerkenne, das ist mein Fall. Ich bin sicherlich
inkompetent über die andere Seite
zu urteilen. Ich muss wol diese Einseitig-
keit gebraucht haben, um das Verborgene
sehen zu können, das sich den Anderen
zu entziehen weiß. Dies ist also die Recht-
fertigung meiner Abwehraktion.
Die Einseitigkeit war auch einmal etwas
Brauchbares. -
S.
Dagegen bedeutet es weniger, wenn die Ar-
gumente für die Realität unserer Ideale
mir keinen starken Eindruck machen konnten.
Ich kann den Übergang von der ψ Realität
unserer Vollkom̄enheiten zur faktischen
Existenz derselben nicht finden. Sie werden
sich nicht wundern. Sie wissen ja, wie wenig
man von Argumenten erwarten darf.
Ich will hinzufügen, ich habe gar keine Angst
vor dem lieben Gott. Wenn wir ein-
ander einmal begegnen, hätte ich ihm
mehr Vorwürfe zu machen als er an mir
aussetzen könnte. Ich würde ihn fragen,
warum er mich nicht intellektuell besser
ausgestattet hat und er könnte mir nicht
vorhalten, daß ich von meiner angeblichen
Freiheit nicht den besten Gebrauch gemacht
habe (Nebenbei bemerkt, ich weiß, daß jeder
einzelne ein Stück Lebensenergie re-
praesentirt, sehe aber nicht ein, was Energie
mit Freiheit, (Unbedingtheit) zu thun hat.Sie müßen nämlich von mir wissen, daß
ich mit meiner Begabung immer unzu-
frieden war und vor mir genau zu be-
gründen weiß, in welchen Punkten, daß
ich mich aber für einen sehr moralischen
Menschen halte, der den guten Ausspruch
von Th. Vischer unterschreiben kann: -
S.
Das Moralische versteht sich von selbst. Ich glaube
an Rechtsinn und Rücksicht für den Nebenmen-
schen, an Misvergnügen andere leiden zu
machen oder zu übervorteilen kann ich
es mit den Besten, die ich kennen gelernt
habe, aufnehmen. Ich habe eigentlich nie
etwas Gemeines und Boshaftes gethan
und spüre auch keine Versuchung dazu,
bin also gar nicht stolz darauf. Ich verstehe
die Sittlichkeit, von der wir hier sprechen,
nämlichnichtim sozialen Sinne, nicht im
sexuellen. Die sexuelle Moralität, wie die
Gesellschaft, am extremsten die amerik-
anische, sie definirt, scheint mir sehr verächt-
lich. Ich vertrete ein ungleich freieres
Sexualleben, wenngleich ich selbst sehr wenig
von solcher Freiheit geübt habe. Gerade
nur soweit, daß ich mir selbst bei der
Begrenzung des auf diesem Gebiet
Erlaubten geglaubt habe.Die Betonung der sittlichen Anforderungen
in der Öffentlichkeit macht mir oft einen
peinlichen Eindruck. Was ich von religiös‑
ethischer Bekehrung gesehen habe, war
nicht einladend. Da war z. B. Jung, ein
mir sympathischer Mensch, so lange er ¿¿¿¿ -
S.
dahinlebte wie ich. Dann kam bei ihm die
religiös‑ethische „Crisis“ und höherer Sittlichkeit,
Wiedergeburt u Bergson und gleichzeitig
Lüge, Brutalität und antisemitische
Überhebung gegen mich. Es war nicht das erste,
nur das letzte Erlebnis, das meine Ab-
neigung gegen die heiligen Bekehrten
bestärkt hat.Einen Punkt sehe ich aber, an dem ich mit
Ihnen gehen kann. Wenn ich mich frage,
warum ich immer gestrebt hate, ehrlich,
für den Anderen schonungsvoll und
wo möglich gütig zu sein, und warum ich
es nicht aufgegeben, als ich merkte, daß
man dadurch zu Schaden kommt, zum
Ambos wird, weil die Anderen brutal
und unverläßlich sind, dann weiß ich
allerdings keine Antwort. Vernünftig
war es natürlich nicht. Einen besonderen
ethischen Anspron habe ich in der Jugend
auch nicht empfunden; es fehlt mir auch
eine deutliche Befriedigung dabei, wenn
ich urteile, dass ich besser bin als die
anderen. Sie sind vielleicht der erste,
vor dem ich mich dessen rühme. Man könnte
gerade meinen Fall also als Beweis
für Ihre Behauptung anführen, daß
ein solcher Idealdrang ein wesentliches -
S.
Stück unserer Anlage bildet.
Wenn nur bei den anderen mehr von
dieser wertvollen Anlage zu bemerken
wäre! Ich glaube im Geheimen, wenn man
die Mittel besäße, die Triebsublimir-
ungen ebenso gründlich zu studiren
wie ihre Verdrängungen, könnte man
auf recht natürliche psychologische Auf-
klärungen stoßen und sich Ihre menschen-
freundliche Annahme ersparen. Aber
wie gesagt, ich weiß nichts darüber. Warum
ich – übrigens meine erwachsenen Kinder
ebenso – ein durchaus anständiger Mensch
sein muß, ist mir ganz unverständlich.Dazu noch folgende Überlegung: Wenn
die Kenntnis der menschlichen Seele
noch so unvollkommen ist, daß es meinen
armseligen Fähigkeiten gelingen konnte,
so wichtige Funde zu machen, so ist es offen-
bar zu früh, sich für oder gegen Annahmen
wie die Ihrige zu erklären. –Gestatten Sie mir noch einen kleinen
Irrtum richtig zu stellen, der ohne Be-
deutung für die Weltgeschichte ist. Ich
war nämlich niemals Breuers Assistent,
habe seinen berühmten ersten Fall -
S.
nie gesehen. Kenne ihn nur aus B’s Mitteil-
ungen Jahre nachher. Diese historische Unrich-
tigkeit ist wol die einzige, die Ihnen unter-
laufen ist. Alles was Sie sonst über die
ΨA sagen, kann ich ohne Opfer unter-
schreiben. Vorläufig verträgt sich die
ΨA wirklich mit verschiedenen Welt-
anschauungen. Ob sie aber ihr letztes Wort
schon gesprochen hat? Mir ist es bisher nie
um die unfassende Synthese zu thun
gewesen, sondern stets nur um die
Sicherheit. Diese verdient, daß man
ihr alles andere opfert.Ich grüße Sie herzlich u wünsche Ihnen
fortdauernde Gesundheit und Arbeits-
lust. Selbst benütze ich die Arbeitspause
dieser Zeit zur Fertigstellung eines
Buches, das zwölf psychologische Abhand-
lungen zusammenfassen soll.Ihr treu ergebener
Freud
Berggasse 19
Wien 1090
Oostenryk
C38F49