• S.

    [118]

    VI

    VERLESEN UND VERSCHREIBEN

    Daß für die Fehler im Lesen und Schreiben die nämlichen
    Gesichtspunkte und Bemerkungen Geltung haben wie für die
    Sprechfehler, ist bei der inneren Verwandtschaft dieser Funktionen
    nicht zu verwundern. Ich werde mich hier darauf beschränken,
    einige sorgfältig analysierte Beispiele mitzuteilen, und keinen
    Versuch unternehmen, das Ganze der Erscheinungen zu umfassen.

    A) VERLESEN

    1) Ich durchblättere im Kaffeehaus eine Nummer der „Leipziger
    Illustrierten“, die ich schräg vor mir halte, und lese als Unter-
    schrift eines sich über die Seite erstreckenden Bildes: Eine Hoch-
    zeitsfeier in der Odyssee. Aufmerksam geworden und verwundert
    rücke ich mir das Blatt zurecht und korrigiere jetzt: Eine Hoch-
    zeitsfeier an der Ostsee. Wie komme ich zu diesem unsinnigen
    Lesefehler? Meine Gedanken lenken sich sofort auf ein Buch
    von Ruths „Experimentaluntersuchungen über Musikphantome
    usw.“1, das mich in der letzten Zeit viel beschäftigt hat, weil
    es nahe an die von mir behandelten psychologischen Probleme
    streift. Der Autor verspricht für nächste Zeit ein Werk, welches
    „Analyse und Grundgesetze der Traumphänomene“ heißen wird.
    Kein Wunder, daß ich, der ich eben eine „Traumdeutung“
    veröffentlicht habe, mit größter Spannung diesem Buche entgegen-

    1) Darmstadt 1898 bei H. L. Schlapp.

  • S.

    VI. Verlesen und Verschraüeni 119

    sehe. In der Schrift Ruths über Musikphantome fand ich vom
    im Inhaltsirerzeichnis die Ankündigung des ausführlichen induktiven
    Nachweises, daß die althellenischen Mythen und Sagen ihre
    Hauptwuizeln in Schlummer— und Musikphantomen, in Traum-
    phänomenen und auch in Delirien haben. Ich schlug damals
    sofort im Tei(te nach, um herauszufinden, ob er auch um die
    Zurückführung der Szene, wie Odysseus vor Nausikaa
    erscheint, auf den gemeinen Nacktheitstraum wisse. Mich hatte
    ein Freund auf die schöne Stelle in G. Kellers „Grünem
    Heinrich“ aufmerksam gemacht, welche diese Episode der Odyssee
    als Objektivierung der Träume des fern von der Heimat irrenden
    Schiffers aufklärt, und ich hatte die Beziehung zum Exhibitions-
    traum der Nacktheit hinzugefügt (7. Aufl., S. 170). Bei Ruths
    entdeckte ich nichts davon. Mich beschäftigen in diesem Falle
    offenbar Prioritätsgedanken.

    2) Wie kam ich dazu., eines Tages aus der Zeitung zu lesen:
    „Im F aß durch Europa“, anstatt zu F uß? Diese Auflösung
    bereitete mir lange Zeit Schwierigkeiten. Die nächsten Einiälle
    deuteten allerdings: Es müsse das Faß des Diogenes gemeint sein,
    und in einer Kunstgeschichte hatte ich unlängst etwas über die
    Kunst zur Zeit Alexanders gelesen. Es lag dann nahe, an die
    bekannte Rede Alexanders zu denken: Wenn ich nicht Alexander
    wäre, möchte ich Diogenes sein. Auch schwebte mir etwas von
    einem gewissen Hermann Zeitung vor, der in eine Kiste
    verpackt sich auf Reisen begehen hatte. Aber weiter wollte sich
    der Zusammenhang nicht herstellen, und es gelang mir nicht,
    die Seite in der Kunstgeschichte wieder aufzuschlagen, auf welcher
    mir jene Bemerkung ins Auge gefallen war. Erst Monate später
    fiel mir das beiseite geworfene Rätsel plötzlich wieder ein, und
    diesmal zugleich mit. seiner Lösung. Ich erinnerte mich an die
    Bemerkung in einem Zeitungsartikel, was für sonderbare Arten
    der Beförderung die Leute jetzt wählten, um nach Paris
    zur Weltausstellung zu kommen, und dort war auch, wie ich

  • S.

    mo Zur Psychopatholagü: des Alltagslebens_

    glaube, scherzhaft mitgeteilt werden, daß irgend ein Herr die
    Absicht habe, sich von einem anderen Herrn in einem Faß nach
    Paris rollen zu lassen. Natürlich hätten diese Leute kein anderes
    Motiv, als durch solche Torheiten Aufsehen zu machen. Hermann
    Zeitung war in der Tal: der Name desjenigen Mannes, der für
    solche außergewöhnliche Beförderung das erste Beispiel gegeben
    hatte. Dann fiel mir ein, daß ich einmal einen Patienten
    behandelt, dessen krankhafte Angst vor der Zeitung sich als
    Reaktion gegen den krankhaften Ehrgeiz auflöste, sich gedruckt
    und als berühmt in der Zeitung erwähnt zu sehen. Der mazedonische
    Alexander war gewiß einer der ehrgeizigsten Männer, die je gelebt
    Er klagte ja, daß er keinen Homer finden werde, der seine
    Taten besinge. Aber wie konnte ich nur nicht daran denken,
    daß ein anderer Alexander mir näher stehe, daß Alexander
    der Name meines jüngeren Bruders ist! Ich fand nun sofort den
    anstößigen und der Verdrängung bedürftigen Gedanken in betrefl"
    dieses Alexanders und die aktuelle Veranlassung für ihn. Mein
    Bruder ist Sachverständiger in Dingen, die Tarife und Trans-
    porte angehen, und sollte zu einer gewissen Zeit für seine
    Lehrtätigkeit an einer kommerziellen Hochschule den Titel
    Professor erhalten. Für die gleiche Beförderung war ich an
    der Universität seit mehreren Jahren vorgeschlagen, ohne sie
    erreicht zu haben. Unsere Mutter äußerte damals ihr Befremden
    darüber, daß ihr kleiner Sohn eher Professor werden sollte
    als ihr großer. So stand es zur Zeit, als ich die Lösung für
    jenen Leseirrtum nicht finden konnte. Dann erhoben sich
    Schwierigkeiten auch bei meinem Bruder; seine Chancen, Professor
    zu werden, fielen noch unter die meinigen. Da aber wurde mir
    plötzlich der Sinn jenes Verlesens offenbar; es war, als hätte die
    Minderung in den Chancen des Bruders ein Hindernis beseitigt.
    Ich hatte mich so henommen, als läse ich die Ernennung des
    Bruders in der Zeitung, und sagte mir dabei: Merkwürdig, daß
    man wegen solcher Dummheiten (wie er sie als Beruf betreibt)

  • S.

    VI. Verlesen und Verschrzüßen 19,1

    in der Zeitung stehen (d. h. zum Professor ernannt werden)
    kann! Die Stelle über die hellenistische Kunst im Zeitalter
    Alexanders schlug ich dann ohne Mühe auf und überzeugte mich
    zu meinem Erstaunen, daß ich während des vorherigen Suchens
    wiederholt auf derselben Seite gelesen und jedesmal wie unter
    der Herrschaft einer negativen Halluzination den betrefienden
    Satz übergangen hatte. Dieser enthielt übrigens gar nichts, was
    mir Aufklärung brachte, was des Vergessens wert gewesen wäre.
    Ich meine, das Symptom des Nichtauffindens im Buche ist nur
    zu meiner Irrefüh.rung geschaffen worden. Ich sollte die Fort—
    setzung der Gedankenverknüpfung dort suchen, wo meiner Nach-
    forschung ein Hindernis in den Weg gelegt war, also in irgend
    einer Idee über den mazedonischen Alexander, und sollte so vom
    gleichnamigen Bruder sicherer abgelenkt werden. Dies gelang
    auch vollkommen; ich richtete alle meine Bemühungen darauf,
    die verlorene Stelle in jener Kunstgeschichte wieder aufzufinrlen.

    Der Doppelsinn des Wortes „Beförderung“ ist in diesem
    Falle die Assoziationsbriicke zwischen den zwei Komplexen, dem
    unwichtigen, der durch die Zeitungsnmiz angeregt wird, und dem
    interessanteren, aber anstößigen, der sich hier als Störung des zu
    Lesenden geltend machen darf. Man ersieht aus diesem Beispiel,
    daß es nicht immer leicht wird, Vorkommnisse wie diesen Lese-
    fehler aufzuklären. Gelegentlich ist man auch genötigt, die
    Lösung des Rätsels auf eine günstigere Zeit zu verschieben. Je
    schwieriger sich aber die Lösungsarbeit erweist, desto sicherer darf
    man erwarten, daß der endlich aufgedeckte störende Gedanke von
    unserem bewußten Denken als fremdartig und 'gegensätzlich
    beurteilt werden wird.

    5) Ich erhalte eines Tages einen Brief aus der Nähe Wiens,
    der mir eine erschütternde Nachricht mitteilt. Ich rufe auch
    sofort meine Frau an und fordere sie zur Teilnahme daran auf,
    daß die arme Wilhelm M. so schwer erkrankt und von den
    Ärzten aufgegeben ist. An den Worten, in welche ich mein

  • S.

    122 Zur Psychopathologie des Alltagsleben:

    Bedauern kleide, muß aber etwas falsch geklungen haben, denn
    meine Frau wird mißtrauisch, verlangt den Brief zu sehen und
    äußert als ihre Überzeugung, so könne es nicht darin stehen,
    denn niemand nenne eine Frau nach dem Namen des Mannes,
    und überdies sei der Korrespondentin der Vorname der Frau sehr
    wohl bekannt. Ich verteidige meine Behauptung hartnäckig und
    verweise auf die so gebräuchlichen Visitkarten, auf denen eine
    Frau sich selbst mit dem Vornamen des Mannes bezeichnet. Ich
    muß endlich den Brief zur Hand nehmen, und wir lesen darin
    tatsächlich „der arme W. M.“, ja sogar, was ich ganz übersehen
    hatte: „der arme Dr. W. M.“. Mein Versehen bedeutet also einen
    sozusagen krampfhaften Versuch, die traurige Neuigkeit von dem
    Marine auf die Frau zu überwälzen. Der zwischen Artikel,
    Beiwort und Name eingeschobene Titel paßt schlecht zu der
    Forderung, es müßte die Frau gemeint sein; Darum wurde er
    auch beim Lesen beseitigt. Das Motiv dieser Verfälschung war
    aber nicht, daß mir die Frau weniger sympathisch wäre als
    der Mann, sondern das Schicksal des armen Mannes hatte meine
    Besorgnisse um eine andere, mir nahe stehende Person rege
    gemacht, welche eine der mir bekannten Krankheitsbedingungen
    mit diesem Falle gemeinsam hatte.

    4) Ärgerlich und lächerlich ist mir ein Verlesen, dem ich sehr
    häufig unterliege, wenn ich in den Ferien in den Straßen einer
    fremden Stadt spaziere. Ich lese dann jede Ladentafel, die dem
    irgendwie entgegenkommt, als Antiquitäten. Hierin äußert
    sich die Abenteuerlust des Sammler-s.

    5) Bleuler erzählt in seinem bedeutsamen Buche „Affek-
    tivität, Suggestibilität, Paranoia“ (1906), S. 121: „Beim Lesen
    hatte ich einmal das intellektuelle Gefühl, zwei Zeilen weiter
    unten meinen Namen zu sehen. Zu meinem Erstaunen finde ich
    nur das Wort ,Blutkörperchen‘. Unter vielen Tausenden von mir
    analysierten Verlesungen des peripheren wie des zentralen Gesichts—
    feldes ist dieses der krasseste Fall. Wenn ich etwa meinen Namen

  • S.

    VI. Verlesen und Verscbreiben 125

    zu sehen glaubte, so war das Wort, das dazu Anlaß gab, meinem
    Namen meist viel ähnlicher, in den meisten Fällen mußten
    geradezu alle Buchstaben des Namens in der Nähe vorhanden
    sein, bis mir ein solcher Irrtum begegnen konnte. In diesem Falle
    ließ sich aber der Beziehungswahn und die Illusion sehr leicht
    begründen: Was ich gerade las, war das Ende einer Bemerkung
    über eine Art schlechten Stils von wissenschaftlichen Arbeiten,
    von der ich mich nicht frei fühlte.“

    6) H. Sachs: „An dem, was die Leute frappiert, geht er in
    seiner Steifleinenheit vorüber.“ Dies Wort fiel mir aber
    auf und ich entdeckte bei näherem Hinsehen, daß es Stil-
    feinheit hieß. Die Stelle fand sich in einer überschwenglich
    lebenden Auslassung eines von mir verehrten Autors über einen
    Historiker, der mir unsympathisch ist, weil er das ‚Deutsch-
    Professorenhafte‘ zu stark hervorkehrt.“

    7) Über einen Fall von Verlesen im Betriebe der philologischen
    Wissenschaft berichtet Dr. Marcell Eibenschütz im Zentral-
    blatt für Psychoanalyse, I, 5/6. „Ich beschäftige mich mit. der
    Überlieferung des ‚Buches der Märtyrer‘, eines mittelhochdeutschen
    Legendenwerkes, das ich in den ‚Deutschen Texten des Mittel—
    alters‘, herausgegeben von der Preußischen Akademie der Wissen—
    schaften, edieren soll. Über das bisher noch ungedruckte Werk war recht
    wenig bekannt; es bestand eine einzige Abhandlung darüber von I.
    Haupt ‚Über das mittelhochdeutsche Buch der Märtyrer‘, Wiener
    Sitzungsberichte, 1867, 70. Bd., S. 101 ff. — Haupt legte seiner
    Arbeit nicht eine alte Handschrift zugrunde, sondern eine aus neuerer
    Zeit (XIX. Jahrhundert) stammende Abschrift der Haupthandschrift
    C (Klosterneuburg), eine Abschrift, die in der Hofbibliothek auf-
    bewahrt wird. Am Ende dieser Abschrift steht folgende Subskription:

    Anno Domz'ni MDCCCL in vigilia czaltaa'onis sancze Urucis ceptua est
    isle liber er in uigilia pam: anni subsequentis finitux cum adiutaria
    omnipotentix per me Hartmamun. de Krama tum: temporis eaclesie niwen-
    burgensis autoriem.

  • S.

    124 Zur Psychopathalogie des Alltagslebens

    Haupt teilt nun in seiner Abhandlung diese Subscriptio mit, in der
    Meinung, daß sie vom Schreiber von C selbst herrühr'e, und läßt C,
    mit konsequenter Verlesung der römisch geschriebenen Jahreszahl
    1850,im1ahre 1550 geschrieben sein, trotzdem daß er die Subscriptio
    Vollständig richtig kopiert hat, trotzdem daß sie in der Abhandlung am
    angeführten Orte vollständig richtig (nämlich MDCCCL) abgedmckt ist.

    Die Mitteilung Haupts bildete für mich eine Quelle von
    Verlegenheiten. Zunächst stand ich als blutjunger Anfänger in
    der gelehrten Wissenschaft ganz unter der Autorität Haupts
    und las lange Zeit aus der vollkommen klar und richtig gedruckt
    vor mir liegenden Subscriptio wie Haupt 1550 statt 1850;
    doch in der von mir benutzten Haupthandschrift C war keine
    Spur irgend einer Subscriptio zu finden, es stellte sich ferner
    heraus, daß im ganzen XIV. Jahrhundert zu Klosterneuburg kein
    Mönch namens Hartmann gelebt hatte. Und als endlich der
    Schleier von meinen Augen sank, da hatte ich auch schon den
    ganzen Sachverhalt erraten, und die weiteren Nachforschungen
    bestätigen meine Vermutung: die vielgenannte Subscriptio steht
    nämlich nur in der von Haupt benutzten Abschrift und rührt
    von ihrem Schreiber her, P. Hartman Zeibig, geb. zu Krasna in
    Mähren, Augustinerchorherr zu Klosterneuburg, der im Jahre 1850
    als Kirchenschatzmeister des Stiftes die Handschrift C abgeschrieben
    und sich am Ende seiner Abschrift in altenümlicher Weise selbst
    nennt. Die mittelalterliche Diktion und die alte Orthographie der
    Subscriptio haben wohl bei dem Wunsche Haupts, über das
    von ihm behandelte Werk möglichst viel mitteilen zu können,
    also auch die Handschrift C zu datieren, mitgeholfen, daß
    er statt 1850 immer 1550 las. (Motiv der Fehlhandlung.)“

    8) In den „Witzigen und Satirischen Einfällen“ von Lichten-
    berg findet sich eine Bemerkung, die wohl einer Beobachtung
    entstammt und fast die ganze Theorie des Verlesens enthält: Er
    las immer Agamemnon statt „angenommen“, so sehr hatte
    er den Homer gelesen.

  • S.

    VI. Verlesm und Verschrziben 125

    In einer übergroßen Anzahl von Fällen ist es nämlich die
    Bereitschaft des Lesers, die den Text verändert und etwas, worauf
    er eingestellt oder womit er beschäftigt ist, in ihn hineinliest.
    Der Text selbst braucht dem Verlesen nur dadurch entgegen—
    zukommen, daß er irgend eine Ähnlichkeit im Wortbild bietet,
    die der Leser in seinem Sinne verändern kann. Flüchtiges Hin-
    schauen, besonders mit unkonigiertem Auge, erleichtert ohne
    Zweifel die Möglichkeit einer solchen Illusion, ist aber keineswegs
    eine notwendige Bedingung für sie.

    9) Ich glaube, die Kriegszeit, die bei uns allen gewisse feste
    und langanhaltende Präokkupationen schuf, hat keine andere
    Fehlleistung so sehr begünstigt wie gerade das Verlesen. Ich
    konnte eine große Anzahl von solchen Beobachtungen machen,
    von denen ich leider nur einige wenige bewahrt habe. Eines
    Tages greife ich nach einem der Mittags— oder Abendblätter und
    finde darin groß gedruckt: Der Friede von Görz. Aber nein,
    es heißt ja nur: Die Feinde vor Görz. Wer gerade zwei
    Söhne als Kämpfer auf diesem Kriegsscheuplatze hat, mag sich
    leicht so verlesen. Ein anderer findet in einem gewissen Zusammen—
    hange eine alte Brotkarte erwähnt, die er bei besserer
    Aufmerksamkeit gegen alte Brokate eintauschen muß. Es ist
    immerhin mitteilenswert, daß er sich in einem Hause, wo er oft
    gern gesehener Gast ist, bei der Hausfrau durch die Abtretung
    von Brotkarten beliebt zu machen pflegt. Ein Ingenieur, dessen
    Ausrüstung der im Tunnel während des Baues herrschenden
    Feuchtigkeit nie lang gewachsen ist, liest zu seinem Erstaunen
    in einer Annonce Gegenstände aus „Schundleder“ angepriesen.
    Aber Händler sind selten so aufrichtig; was da zum Kaufe empfohlen
    wird, ist Seehundleder.

    Der Beruf oder die gegenwärtige Situation des Lesers bestimmt
    auch das Ergebnis seines Verlesens. Ein _Philologe, der wegen
    seiner letzten trefflichen Arbeiten im Streite mit seinen Fach-
    genossen liegt, liest „Sprachstrategie“ anstatt Schach-

  • S.

    196 Zur Psychopathologiz des Alltagsleben:

    strategie. Ein Mann, der in einer fremden Stadt spazieren geht,
    gerade um die Stunde, auf welche seine durch eine Kur hergestellte
    Danntätigkeit reguliert ist, liest auf einem großen Schilde im
    ersten Stock eines hohen Warenhauses: „Klosetthaus“; seiner
    Befriedigung darüber mengt sich doch ein Befremden über die
    ungewöhnliche Unterbringung der iwohltätigen Anstalt bei. Im
    nächsten Moment ist die Befriedigung doch geschwunden, denn
    die Tafelaufschrift heißt richtiger: Korsetthaus.

    10) In einer zweiten Gruppe von Fällen ist der Anteil des
    Textes am Verlesen ein bei weitem größerer. Er enthält etwas,
    was die Abwehr des Lesers rege macht, eine ihm peinliche Mit-
    teilung oder Zurnntung, und erfährt darum durch das Verlesen
    eine Korrektur im Sinne der Abweisung oder Wunscherfüllung.
    Es ist dann natürlich unabweisbar anzunehmen, daß der Text
    zunächst richtig aufgenommen und beurteilt wurde, ehe er diese
    Korrektur erfuhr, wenngleich das Bewußtsein von dieser ersten
    Lesung nichts erfahren hat. Das Beispiel 5 auf den vorstehenden
    Seiten ist von dieser Art; ein anderes von höchster Aktualität
    teile ich hier nach Dr. M. Eitingon (z. Z. im Kriegsspital in
    Iglö, Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IL 1915) mit.

    „Leutnant X., der sich rnit einer kriegstraumatischen Neurose
    in unserem Spital befindet, liest mir eines Tages den Schlußvers
    der letzten Strophe eines Gedichtes des so früh gefallenen Dichters
    Walter Heymann‘ in sichtlicher Ergriffenheit folgendermaßen vor:

    Wo aber steht’s geschrieben, frag’ ich, daß von allen
    Ich übrig bleiben soll, ein and.rer für mich fallen?
    Wer immer von euch fällt, der stirbt gewiß für mich;
    Und ich soll übrig bleiben? warum denn nicht?
    Durch mein Befremden aufmerksam gemacht, liest er dann,
    etwas betreten, richtig:

    Und ich soll übrig bleiben? _warum denn ich?

    ]) W. H e y m a n n: Kriegsgedichte und. Feldpostbriefe‚ p. 11: „Den Ausziehenden.“

  • S.

    VI. Verlesen und Verscl1räben 127

    Dem Fall X. verdanke ich einigen analytischen Einblick in das
    psychische Material dieser ,Traumatischen Neurosen des Krieges‘,
    und da war es mir möglich, trotz der unserer Art zu arbeiten
    so wenig günstigen Verhältnisse eines Kriegslazaretts mit starkem
    Belag und wenig Ärzten, ein wenig über die als ,Ursache‘ hoch—
    bewerteten Granatexplosionen hinauszusehen.

    Es bestanden auch in diesem Falle die schweren Tremores,
    die den ausgesprochenen Fällen dieser Neurosen eine auf den
    ersten Blick frappante Ähnlichkeit verleihen, Ängstlichkeit, Weiner-
    lichkeit, Neigung zu Wutanf‘ällen mit konvulsiven, infantil—
    motorischen Entäußerungen und zu Erbrechen (‚bei geringsten
    Aufregungen‘). '

    Gerade des letzteren Symptoms Psychogeneität, zunächst im
    Dienste sekundären Krankheitsgewinnes, mußte sich jedem auf-
    drärigen: Das Erscheinen des Spitalskommandanten, der von Zeit
    zu Zeit die Genesenden äch ansieht, auf der Abteilung, die
    Phrase eines Bekannten ‚auf der Straße: ‚Sie schauen ja prächtig
    aus, sind gewiß schon gesund‘, genügen zur prompten Auslösung
    eines Brechanfalls.

    ‚Gesund... wieder einrücken... warum denn ich?...‘ “

    11) Andere Fälle von „Kriegs“-Verlesen hat Dr. Hanns Sachs
    mitgeteilt: „

    „Ein naher Bekannter hatte mir wiederholt erklärt, er werde,
    wenn die Reihe an ihn komme, keinen Gebrauch von seiner,
    durch ein Diplom bestätigten Fachausbildung machen, sondern
    auf den dadurch begründeten Anspruch auf entsprechende Ver;
    wendung im Hinterlande verzichten und zum Frontdienst ein-
    rücken. Kurz bevor der Termin wirklich herankam, teilte er mir
    eines Tages in knappster Form, ohne weitere Begründung mit,
    er habe die Nachweise seiner Fachbildung an zuständiger Stelle
    vorgelegt und werde infolgedessen demnächst seine Zuteilung für
    eine industrielle Tätigkeit erhalten. Am nächsten Tage trafen Wir

  • S.

    128 Zur Psychopathalogfe des Alltagslebens

    uns in einem Amtslokal. Ich stand gerade vor einem Pulte und
    schrieb; er trat heran, sah mir eine Weile über die Schulter und
    sagte dann: Ach, das Wort da oben heißt ‚Druckhogen‘ —
    ich habe es für ‚Drückeberger‘ gelesen.“ (Internat. Zeitschr.
    f. Psychoanalyse, IV. 1916/ 17.)

    12) „In der Tramway sitzend, dachte ich darüber nach, daß
    manche meiner Jugendfreunde, die immer als zart und schwäch-
    lich gegolten hatten, jetzt die allerhärtesten Strapazen zu ertragen
    imstande sind, denen ich ganz bestimmt erliegen würde. Mitten in
    diesem unerfi‘eulichen Gedankenzuge las ich im Vor-überfahren mit
    halber Aufmerksamkeit die großen schwarzen Lettern einer Firma—
    tafel: ‚Eisenkonstitution‘. Einen Augenblick später fiel mir
    ein, daß dieses Wort für eine Geschäftsaufschrift nicht recht passe;
    mich rasch umdrehend, erhaschte ich noch einen Blick auf die
    Inschrift und sah, daß sie richtig ‚Eisenkonstruktion‘
    lautete“. (L. c.)

    15) „In den Abendblättern stand die inzwischen als unrichtig
    erkannte Reuterdepesche, daß Hughes zum Präsidenten der
    Vereinigten Staaten gewählt sei. Anschließend daran erschien ein
    kurzer Lebenslauf des angeblich Gewählten und in diesem stieß
    ich auf die Mitteilung, daß Hughes in Bonn Universitätsstudien
    absolviert habe. Es schien mir sonderbar, daß dieses Umstandes in
    den wochenlangen Zeitungsdebatten, die dem Wahltag voran-
    .gegangen waren, keine Erwähnung geschehen war. Nochmalige
    Übelprüfi1ng ergab denn auch, daß nur von der ‚Brown‘-Uni—
    versität die Rede war. Dieser krasse Fall, bei dem für das
    Zustandekommen des Verlesens eine ziemlich große Gewaltsam-
    keit notwendig war, erklärt sich außer aus der Flüchtigkeit bei
    der Zeitungslektüre vor allem daraus, daß mir die Sympathie
    des neuen Präsidenten für die Mittelmächte als Grundlage
    künftiger guter Beziehungen nicht bloß aus politischen, sondern
    auch darüber hinaus aus persönlichen Gründen wünschenswert
    schien.“ (L. c.)

  • S.

    VI. Verlesen und Verschreiben mg

    B) VERSCHREIBEN

    \) Auf einem Blatte, welches kurze tägliche Aufzeichnungen
    meist von geschäfllichem Interesse enthält, finde ich zu meiner
    Überraschung mitten unter den richtigen Daten des Monats Sep-
    tember eingeschlossen das verschriebene Datum „Donnerstag, den
    20. Okt.“. Es ist nicht schwierig, diese Antizipation aufzuklären,
    und zwar als Ausdruck eines Wunsches.‘ Ich bin wenige Tage
    vorher frisch von der Ferienreise zurückgekehrt und fühle mich
    bereit für ausgiebige ärztliche Beschäftigung, aber die Anzahl der
    Patienten ist noch gering. Bei meiner Ankunft fand ich einen
    Brief von einer Kranken vor, die sich für den 20. Oktober
    ankündigte. Als ich die gleiche Tageszehl im September nieder-
    schrieb, kann ich wohl gedacht haben: Der X. sollte doch schon
    da sein; wie schade um den vollen Monat! und in diesem
    Gedanken rückte ich das Datum vor. Der störende Gedanke ist
    in diesem Falle kaum ein anstößiger zu nennen; dafür weiß ich
    auch sofort die Auflösung des Schreibfehlers, nachdem ich ihn
    erst bemerkt habe. Ein ganz analoges und ähnlich motiviertes
    Verschreiben wiederhole ich dann im Herbst des nächsten Jahres.
    —— E. Jones hat ähnliche Verschreibungen im Datum studiert
    und sie in den meisten Fällen leicht als motivierte erkannt.

    2) Ich erhalte die Korrektur meines Beitrags zum „Jahresbericht
    für Neurologie und Psychiatrie“ und muß natürlich mit besonderer
    Sorgfalt die Automamen revidieren, die, weil verschiedenen Nationen
    angehörig, dem Setzer die größten Schwierigkeiten zu bereiten
    pflegen. Manchen fremd klingenden Namen finde ich wirklich
    noch zu korrigieren, aber einen einzigen Namen hat merkwürdiger— '
    weise der Setzer gegen mein Manuskript verbessert7 und zwar
    mit vollem Rechte Ich hatte nämlich Buckrhard geschrieben,
    während der Setzer Burckhard erriet. Ich hatte die Abhandlung
    eines Geburtshelfers über den Einfluß der Geburt auf die Ent—
    stehung der Kinderlähmungen selbst als verdienstlich gelobt, wü.ßte

  • S.

    150 Zur Psychopathologie des Alltagslebens

    auch nichts gegen deren Autor zu sagen, aber den gleichen Namen
    wie er trägt auch ein Schriftsteller in Wien, der mich durch eine
    unverständige Kritik über meine „Traumdeutung“ geärgert hat.
    Es ist gerade so, als hätte ich mir bei der Niederschrift des Namens
    Burckhard, der den Gehurtshelfer bezeichnete, etwas Arges über
    den anderen B., den Schriftsteller, gedacht, denn Namenverdrehen
    bedeutet häufig genug, wie ich schon beim Versprechen erwähnt
    habe, Schmähung‘.

    5) Diese Behauptung wird sehr schön durch eine Selbstheobach-
    tung von A. J. Storfer bekräftigt, in welcher der Autor mit
    rühmenswerter Offenheit die Motive klarlegt, die ihn den Namen
    eines vermeintlichen Konkurrenten falsch erinnern und dann
    entstth niederschreiben hießen:

    „Im Dezember 1910 sah ich im Schaufenster einer Züricher
    Buchhandlung das damals neue Buch von Dr. Eduard Hitschmann
    über die Freudsche Neurosenlehre. Ich arbeitete damals geradeam
    Manuskript eines Vortrags, den ich demnächst in einem akademischen
    Verein über die Grundzüge der Freudschen Psychologie halten
    sollte. In der damals schon niedergeschriebenen Einleitung des
    “Vortrags hatte ich auf die historische Entwicklung der Freudschen
    Psychologie aus Forschungen auf einem angewandten Gebiete, auf
    gewisse, daraus folgende Schwierigkeiten einer zusammenfassenden
    Darstellung der Grundzüge hingewiesen, und darauf, daß noch
    keine allgemeine Darstellung bestehe. Als ich das Buch (des mir
    bis dahin unbekannten Autors) im Schaufenster sah, dachte ich
    zunächst nicht daran, es zu kaufen. Einige Tage nachher beschloß
    ich aber, es zu tun. Das Buch war nicht mehr im Schaufenster.
    Ich nannte dem Buchhändler das vor kurzem erschienene Buch;

    1) Vgl, etwa die Stelle im „Julius Cäsar“, III, 5:

    CINNA. Ehrlich, mein Name ist Cinna.

    BÜRGER. Heißt ihn in Stücke! er ist ein Verschworenel'.

    CINNA. Ich bin Cinna der Poet! Ich bin nicht Cinna der Verschworene.

    BURGER. Es tut nichts; sein Name ist Cilmi, reißt ihm den Namen aus dem
    Herzen und laßt ihn laufen.

  • S.

    V I . Verlesen und Verschreiben 151

    als Autor nannte ich ‚Dr. Eduard Hartmann‘. Der Buchhändler
    verbesserte: ‚Sie ineinen wohl Hitsohmann‘, und brachte mir das
    Buch.

    Das unbewußte Motiv der Fehlleistung war naheliegend. Ich
    hatte es mir gewissermaßen zum Verdienst angerechnet, die Grund—
    züge der psychoanaly‘tischen Lehren zusammengefaßt zu haben und
    habe offenbar das Buch Hitschmanns als Minderer meines Verdienstes
    mit Neid und Ärger angesehen. Die Abänderung des Namens sei
    ein Akt der unbewußten Feindseligkeit, sagte ich mir nach der
    ‚Psychopathologie des Alltagslebens‘. Mit dieser Erklärung gab ich
    mich damals zufrieden.

    Einige Wochen später notierte ich mir jene Felflleistung. Bei
    dieser Gelegenheit warf ich auch die Frage auf, warum ich
    Eduard Hitschrnann gerade in Eduard Hartmann umgeändert
    hatte. Sollte mich bloß die Namensähnlichkeit auf den Namen des
    bekannten Philosophen geführt haben? Meine erste Assoziation
    war die Erinnerung an einen Ausspruch, den ich einmal von
    Professor Hugo v. Meltzl, einem begeisterten Schopenhauerverehrer,
    gehört hatte und der ungefähr so lautete: ‚Eduard v. Hartmann
    ist der verhunzte, der auf seine linke Seite umgestülpte Schopen-
    hauer‘. Die affektive Tendenz, durch die das Ersatzgebilde für den
    vergessenen Namen determiniert war, war also: ‚Ach, an diesem
    Hirschmann und seiner zusammenfassenden Darstellung wird wohl
    nicht viel daran sein; er verhält sich wohl zu Freud wie Hart-
    mann zu Schopenhauer‘.

    Ich hatte also diesen Fall eines determinierten Vergessens mit
    Ersatzeinfall niedergeschrieben.

    Nach einem halben Jahre kam mir das Blatt, auf dem ich die
    Aufzeichnung gemacht hatte, in die Hand. Da bemerkte ich, daß
    ich statt Hitschmann durchwegs Hintschmann geschrieben hatte.“
    (Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, II, 1914).

    4.) Ein anscheinend ernsterer Fall von Verschreiben, den ich
    vielleicht mit ebensoviel Recht dem „Vergreifen“ einordnen könnte:

    9.

  • S.

    152 Zur Psychopathobgie des Alltagsleben;

    Ich habe die Absicht, mir aus der Postsparkasse die Summe von
    500 Kronen kommen zu lassen, die ich einem zum Kurgebrauch
    abwesenden Verwandten schicken will. Ich bemerke dabei, daß
    mein Konto auf 4580 K lautet und nehme mir vor, es jetzt auf
    die runde Summe von 4.000 K herunterzusetzen, die in der nächsten
    Zeit nicht angegriffen werden soll. Nachdem ich den Scheck
    ordnungsmäßig ausgeschrieben und die der Zahl entsprechenden
    Ziffern ausgeschnitten habe, merke ich plötzlich, daß ich nicht
    380 K, wie ich wollte, sondern gerade 458 bestellt habe, und
    erschrecke über die Unzuverlässigkeit meines Tuns. Den Schreck
    erkenne ich bald als unberechtigt; ich bin ja jetzt nicht ärmer
    geworden, als ich vorher war. Aber ich muß eine ganze Weile
    darüber nachsinnen, welcher Einfluß hier meine erste Intention
    gestört. hat, ohne sich meinem Bewußtsein anzukündigen. Ich
    gerate zuerst auf falsche VVeg-e, will die beiden Zahlen, 580 und
    4.58, voneinander abziehen, weiß aber dann nicht, was ich mit
    der Differenz anfangen soll. Endlich zeigt mir ein plötzlicher
    Einde den wahren Zusammenhang. 458 entspricht ja zehn
    Prozent des ganzen Kontos von 4580 K! 10% Rabatt hat man
    aber beim Buchhändler. Ich besinne mich, daß ich vor wenigen
    Tagen eine Anzahl medizinischer Werke, die ihr Interesse für
    mich verloren haben, ausgesucht, um sie dem Buchhändler gerade
    für 500 K anzubieten. Er fand die Forderung zu hoch und
    versprach, in den nächsten Tagen endgültige Antwort zu sagen.
    Wenn er mein Angebot annimmt, so hat er mir gerade die Summe
    ersetzt7 welche ich für den Kranken verausgaben soll. Es ist nicht
    zu verkennen, daß es mir um diese Ausgabe leid tun Der Affekt
    bei der Wahrnehmung meines Irrtums läßt sich besser verstehen
    als Furcht, durch solche Ausgaben am zu werden. Aber beides,
    das Bedauern wegen dieser Ausgabe und die an sie geknüpfte
    Verarmungsangst, sind meinem Bewußtsein völlig fremd; ich habe
    das Bedauern nicht verspürt, als ich jene Summe zusagte, und
    fände die Motivierung desselben lächerlich. Ich würde mir eine

  • S.

    VI. Ver-lesen und Verschreiben 155 '

    solche Reg-ung wahrscheinlich gar nicht zutrauen, wenn ich nicht
    durch die Übung in Psychoanalysen bei Patienten mit dem Ver-
    drängten im Seelenleben ziemlich vertraut wäre, und wenn ich
    nicht vor einigen Tagen einen Traum gehabt hätte, welcher die
    nämliche Lösung erforderte‘. ’

    5) Nach W. Stekel zitiere ich folgenden Fall, für dessen
    Authentizität ich gleichfalls einstehen kann: „Ein geradezu un-
    glaubliches Beispiel im Verschreiben und Verlesen ist in der Redaktion
    eines verbreiteten Wochenblattes vorgekommen. Die betreffende
    Leitung wurde öffentlich als ‚käuflich‘ bezeichnet; es galt, einen
    Artikel der Abwehr und Verteidigung zu schreiben. Das geschah
    auch — mit großer Wärme und großem Pathos. Der Chefredakteur
    des Blattes las den Artikel, der Verfasser selbstverständlich mehrmals
    im Manuskript, dann noch im Bürstenabzug, alle waren sehr
    befriedigt Plötzlich meldet sich der Korrektor und macht auf
    einen kleinen Fehler aufmerksam, der der Aufmerksamkeit aller
    entgangen war. Dort stand es ja deutlich: ‚Unsere Leser werden
    uns das Zeugnis ausstellen, daß wir immer in eigennützigster
    Weise für das Wohl der Allgemeinheit eingetreten sind.‘ Selbst—
    verständlich sollte es uneigennützigster Weise heißen. Aber die
    wahren Gedanken brachen mit elementarer Gewalt durch die
    pathetische Rede.“

    6) Einer Leserin des „Fester Lloyd“, Frau Kata Levy in
    Budapest, ist kürzlich eine ähnlich unbeabsichtigte Au£richtigkeit
    in einer Äußerung aufgefallen, die sich das Blattam 1 1. Oktober 1918
    aus Wien hatte telegraphieren lassen:

    „Als zweifellos darf auf Grund des absoluten Vertrauens-
    verhältnisses, das während des ganzen Krieges zwischen uns und
    dem deutschen Verbündeten geherrscht hat, vorausgesetzt werden,
    daß die beiden Mächte in jedem Falle zu einer einmiitigen Ent-

    1) Es ist dies jener Traum, den ich in einer kurzen Abhandlung: „Über den
    Traum“, (Nr. VIII der „Ga-emfragen des Nerven— und Seeleulebens“, hg. von
    Löwenfeld und Kurella, 1901. — Enthalten in Bd. In dieser Gesamtausgabe)
    zum Paradigma genommen habe.

  • S.

    154. Zur Psychapatholagie des Alltagslebens

    schließung gelangen Würden. Es ist überflüssig, noch ausdrücklich
    zu erwähnen, daß auch in der gegenwärtigen Phase ein reges und
    lückenhaftes Zusammenarbeiten der verbündeten Diplomatien
    stattfindet.“

    Nur wenige Wochen später konnte man sich über dieses „Ver—
    trauensverhältnis“ freimütiger äußern, brauchte man nicht mehr
    zum Verschreiben (oder Verdrucken) zu flüchten.

    7) Ein in Europa weilender Amerikaner, der seine Frau in
    schlechtem Einvernehmen verlassen hat, glaubt, daß er sich nun
    mit ihr versöhnen könne, und fordert sie auf, ihm zu einem
    bestimmten Termin über den Ozean nachzukommen: „Es wäre
    schön,“ schreibt er, „wenn Du wie ich mit der ,Mauretania‘
    fahren könntest.“ Das Blatt, auf dem dieser Satz steht, getraut
    er sich dann aber nicht abzuschicken. Er zieht es vor, es neu zu
    schreiben. Denn er will nicht, daß sie die Korrektur bemerke,
    die an dem Namen des Schiffes notwendig geworden war. Er
    hatte nämlich anfänglich „Lusitania“ geschrieben.

    Dies Verschreiben bedarf keiner Erläuterung, es ist ohne weiteres ‘
    deutbar. Doch läßt die Gunst des Zufalles noch einiges hinzufügen:
    Seine Frau war vor dem Kriege zum erstenmal nach Europa
    gefahren, nach dem Tode ihrer einzigen Schwester. Wenn ich
    nicht irre, ist die „Mauretania“ das überlebende Schwesterschiff
    der während des Krieges versenkten „Lusitania“.

    8) Ein Arzt hat ein Kind untersucht und schreibt nun ein
    Rezept fiir dasselbe nieder, in welchem Alcohol vorkommt.
    Die Mutter belästigt ihn während dieser Tätigkeit mit‘törichten
    und überflüssigen Fragen. Er nimmt sich innerlich fest
    vor, sich jetzt darüber nicht zu ärgern, führt diesen Vorsatz
    auch durch, hat sich aber während der Störung verschrieben.
    Auf dem Rezept steht anstatt Alcohol zu lesen Achol‘.

    g) Der stofflichen Verwandtschaft wegen reihe ich hier einen
    Fall an, den E. Jones von A. A. Brill berichtet. Letzterer

    :|) Etwa: Keine Galle.

  • S.

    VI. Verla-en. und Verschrzibm 155

    hatte sich, obwohl sonst völlig abstinent, von einem Freunde
    verleiten lassen, etwas Wein zu trinken. Am nächsten Morgen
    gab ihm ein heftiger Kopfschmerz Anlaß, diese Nachgiebigkeit zu
    bedauem. Er hatte den Namen einer Patientin niederzuschreiben,
    die Ethel hieß, und schrieb anstatt dessen Ethyl‘. Es kam
    dabei wohl auch in Betracht, daß die betreffende Dame selbst
    mehr zu trinken pflegte, als ihr gut tut.

    Da ein Verschreiben des Arztes beim Rezeptieren eine Bedeutung
    beansprucht, die weit über den sonstigen praktischen Wert der
    Fehlleistungen hinausgeht, bediene ich mich des Anlasses, um die
    einzige bis jetzt publizierte Analyse von solchem ärztlichen
    Verschreiben ausführlich mitzuteilen:

    10) Dr. Ed. Hitschmann (Ein wiederholter Fall von
    Verschreiben bei der Rezeptiemng): „Ein Kollege erzählte mir,
    es sei ihm im Laufe der Jahre mehrmals passiert, daß er
    sich beim Verschreiben eines bestimmten Medikaments für _weib-
    liche Patienten vorgeschrittenen Alters irrte. Zweimal verschrieb
    er die zehnfache Dosis und mußte nachher, da ihm dies plötzlich
    einfiel, unter größter Angst, der Patientin geschadet zu haben
    und selbst in größte Unannehmlichkeit zu kommen, eiligst die
    Zurückziehung des Rezepts anstreben. Diese sonderbare Symptom-
    handlung verdient durch genauere Darstellung der einzelnen Fälle
    und durch Analyse klargelegt zu werden.

    Erster Fall: Der Arzt verschreibt einer an der Schwelle des
    Greisenalters stehenden armen Frau gegen spastische Obstipation
    zehnfach zu starke Belladonna—Zäpfchen. Er verläßt das Ambulatorium
    und etwa eine Stunde später fällt ihm zu Hause, während er
    Zeitung liest und frühstückt, plötzlich sein Irrtum ein; es über—
    fällt ihn Angst, er eilt zunächst ins Ambulatorium zurück, um
    die Adresse der Patientin zu requirieren, und von dort in ihre
    weit entlegene Wohnung. Er findet das alte Weiblein noch mit
    unausgeführtem Rezept, worüber er höchst erfreut und beruhigt

    1\ Äthylalkohol.

  • S.

    156 Zur Psychopathologiz des Alltagsleben:

    heimkehrt. Er entschuldigt sich vor sich selbst nicht ohne
    Berechtigung damit, daß ihm der gesprächige Chef der Ambulanz
    während der Rezeptur über die Schulter geschaut und ihn
    gestört hatte.

    Zweiter Fall: Der Arzt muß sich aus seiner Ordination von
    einer koketten und pikant schönen Patientin losreißen, um ein
    älteres Fräulein ärztlich aufzusuchen. Er benützt ein Automobil,
    da er nicht viel Zeit für diesen Besuch übrig hat; denn er soll
    um eine besüminte Stunde, nahe von ihrer Wohnung, ein
    geliebtes junges Mädchen heimlich treffen. Auch hier ergibt}sich
    die Indikation für Belladonna wegen analoger Beschwerden wie
    im ersten Falle. Es wird wieder der Fehler begangen, das
    Medikament zehnfach zu stark zu rezeptieren. Die Patientin bringt
    einiges nicht zum Gegenstand gehörige Interessante vor, der Arzt
    aber verrät Ungeduld, wenn er sie auch mit Worten verleugnet,
    und verläßt die Patientin, so daß er reichlich zurecht zum
    Rendezvous erscheint. Etwa zwölf Stunden nachher, gegen sieben
    Uhr morgens, erwacht der Arzt; der Einfall seines Verschreibens
    und Angst treten fast gleichzeitig iu sein Bewußtsein, und er
    sendet, rasch zu der Kranken, in der Hoffnung, daß das Medi—
    kament noch nicht aus der Apotheke geholt sei, und bittet um
    Rückstellung des Rezepts, um es zu revidieren. Er erhält jedoch
    das bereits ausgeführte Rezept zurück und begibt sich mit einer
    gewissen stoischen Resignation und dem Optimismus des Erfahrenen
    in die Apotheke, wo ihn der Provisor damit beruhigt, daß er
    selbstverständlich (oder vielleicht auch durch ein Versehen?) das
    Medikament in einer geringeren Dosis verabreicht habe.

    Dritter Fall: Der Arzt will seiner greisen Tante, Schwester
    seiner Mutter, die 1VIischung von Tinct. belladonnae und Tinct.
    opii in harmloser Dosis verschreiben. Das Rezept wird sofort
    durch das Mädchen in die Apotheke getragen. Ganz kurze Zeit
    später fällt dem Arzt ein, daß er anstatt tinctura ,extractum‘
    geschrieben habe, und gleich darauf telephoniert der Apotheker,

  • S.

    VI. Verlesen und Verschr‘eiben 157

    über diesen Irrtum interpellierend. Der Arzt entschuldigt sich
    mit der erlogenen Ausrede, er hätte das Rezept noch nicht
    vollendet gehabt, es sei ihm durch die unerwartet rasche Weg—
    nehmung des Rezepts vom Tische die Schuld abgenommen.

    Die auffällig gemeinsamen Punkte dieser drei Irrtümer in der
    Verschreibung sind darin gelegen, daß es dem Arzte nur bei
    diesem einen Medikament bisher passiert ist, daß es sich jedesmal
    um eine weibliche Patientin im vorgeschrittenen Alter handelte
    und daß die Dosis immer zu stark war. Bei der kurzen Analyse
    stellte es sich heraus, daß das Verhältnis des Arztes zur Mutter
    von entscheidender Bedeutung sein mußte. Es fiel ihm nämlich
    ein, daß er einmal — und zwar höchstwahrscheinlich vor diesen
    Symptomhandlungen —» seiner gleichfalls greisen Mutter dasselbe
    Rezept verschrieben hatte, und zwar in der Dosis von 0.05,
    obwohl die gewöhnliche 0.09 ihm geläufiger war, um ihr radikal
    zu helfen, wie er sich dachte. Die Reaktion der zarten Mutter
    auf dieses Medikament war Kopfkongestion und unangenehme
    Trockenheit im Rachen. Sie beklagte sich darüber mit einer halb
    schenhaften Anspielung auf die gefährlichen Ordinationen, die'
    von einem Sahne ausgehen können. Auch sonst hat die Mutter,
    übrigens Amenstochter, gegen gelegentlich vom ärztlichen Sohne
    empfohlene Medikamente ähnlich ablehnende, halb schemhafte
    Einwendungen erhoben und vom Vergiften gesprochen.

    Soweit Referent die Beziehungen dieses Sohnes zu seiner Mutter
    durchschaut, ist er zwar ein instinktiv liebevolles Kind, aber in
    der geistigen Schätzung der Mutter und im persönlichen Respekt
    keineswegs übertrieben. Mit dem um ein Jahr jüngeren Bruder
    und der Mutter in gemeinsamem Haushalt lebend, empfindet er
    dieses Zusammenscin seit Jahren für seine erotische Freiheit als
    Hemmung, wobei wir allerdings aus psychoanalytischer Erfahrung
    wissen, daß solche Begründungen zum Vorwand für inneres
    Gebundensein gern mißbraucht werden. Der Arzt akzeptierte die
    Analyse unter ziemlicher Befriedigung über die Aufklärung und

  • S.

    158 Zur Psychapathologie des Alltagslebens

    meinte lächelnd, das Wort Belladonna = schöne Frau könnte
    auch eine erotische Beziehung bedeuten. Er hat das Medikament
    früher gelegentlich auch selbst verwendet.“ (Internat. Zeitschr. f.
    Psychoanalyse, I, 1 g 1 5.)

    Ich möchte urteilen, daß solche ernsthafte Fehlleistungen auf
    keinem anderen Wege zustandekommen als die harmlosen, die
    wir sonst untersuchen.

    11) Für ganz besonders harmlos wird man das nachstehende,
    von S. Ferenczi berichtete Verschreiben halten. Man kann es
    als Verdichtungsleistung infolge von Ungeduld deuten (vergl. das
    Versprechen: Der Apfe, S. 70) und wird diese Auffassung
    verteidigen dürfen, bis nicht etwa eine eingehende Analyse des
    Vorfalls ein stärkeres störendes Moment nachgewiesen hätte:

    „Hiezu paßt die Anektode“ — schreibe ich einmal in mein
    Notizbuch. Natürlich meinte ich Anekdot e, und zwar von
    einem zu Tode verurteilten Zigeuner, der sich die Gnade erbat,
    selber den Baum zu wählen, auf den er gehängt werden soll.
    (Er fand trotz eifi'igen Suchens keinen Passenden Baum.)

    12) Andere Male kann im Gegensatz hiezu der unscheinbarste
    Schreibfehler gefährlichen geheimen Sinn zum Ausdruck bringen.
    Ein Anonymus berichtet:

    „Ich schließe einen Brief mit den Worten: ,Herzlichste Grüße
    an Ihre Frau Gemahlin und ihren Sohn.‘ Knapp bevor ich das
    Blatt ins Kuvert stecke, bemerke ich den Irrtum im Anfangs—
    buchstaben bei ‚ihren Sohn‘ und verbessere ihn. Auf dem Heimweg
    von dem letzten Besuche bei diesem Ehepaar hatte meine
    Begleiterin bemerkt, der Sohn sehe einem Hausfreund frappant
    ähnlich und sei auch sicher sein Kind.“

    15) Eine Dame richtet an ihre Schwester einige beglück—
    wünschende Zeilen zum Einzug in deren neue und geräumige
    Wohnung. Eine dabei anwesende Freundin bemerkt, daß die
    Schreiberin eine falsche Adresse auf den Brief gesetzt hat, und
    zwar nicht die der eben verlassenen Wohnung, sondern die der

  • S.

    V [. Vorlesen und Verschreiben 159

    ersten, längst aufgegebenen, welche die Schwester als eben
    verheiratete Frau bezogen hatte. Sie macht die Schreiberin darauf
    aufmerksam. Sie haben recht, muß diese zugeben, aber wie
    komme ich darauf? Warum habe ich das getan? Die Freundin
    meint: Wahrscheinlich gönnen Sie ihr die schöne große Wohnung
    nicht, die sie jetzt bekommen soll, während Sie sich selbst im
    Raum beengt fühlen, und versetzen sie darum in die erste
    Wohnung zurück, in der sie es auch nicht besser hatte. —— Gewiß
    gönne ich ihr die neue Wohnung nicht, gesteht die andere
    ehrlich zu. Sie setzt dann fort: Wie schade, daß man bei diesen
    Dingen immer so gemein ist!

    14.) E. Jones teilt folgendes, ihm von A. A. Brill über—‘
    lassene Beispiel von Verschreiben mit: Ein Patient richtete an
    Dr. Brill ein Schreiben, in welchem er sich bemühte, seine
    Nervosität auf die Sorge und Erregung über den Geschäftsgang
    während einer Baumwollkrise zurückzuführen. In diesem Schreiben
    hieß es: my trouble is all due to that damned frigidl wave;
    there is’nt even any seed. Er meinte mit „wave“ natürlich eine
    Welle, Strömung auf dem Geldmarkt; in Wirklichkeit schrieb er
    aber nicht wave, sondern wife. Auf dem Grunde seines Herzens
    ruhten Vorwürfe gegen seine Frau wegen ihrer ehelichen Kälte
    und ihrer Kinderlosigkeit, und er war nicht weit entfernt von
    der Erkenntnis, daß die ihm aufgezwungene Entbehrung einen
    großen Anteil an der Verursachung seines Leidens habe.

    15) Dr. K. Wagner erzählt von sich im Zentralblatt für
    Psychoanalyse, I, 12:

    „Beim Durchlesen eines alten Kollegienheftes fand ich, daß
    mir in der Geschwindigkeit des Mitschreibens ein kleiner Lapsus
    unterlnufcn war. Statt ,Epithel‘ hatte ich nämlich ‚Edithel‘
    geschrieben. Mit Betonung der ersten Silbe gibt das das
    Diminutivum eines Mädchennamens. Die retrospektive Analyse
    ist einfach genug. Zur Zeit des Verschreibens war die Bekannt—
    schaft zwischen mir und der Trägerin dieses Namens nur eine

  • S.

    14.0 Zur Psychopatlwlogie des Alltagslebens

    ganz oberflächliche, und erst viel später wurde daraus ein intimer
    Verkehr. Das Verschreiben ist also ein hübscher Beweis für den
    Durchbruch der unbewußten Neigung zu einer Zeit, wo ich
    selbst eigentlich davon noch keine Ahnung hatte, und die gewählte
    Form des Diminutivums charakterisiert gleichzeitig die begleitenden
    Gefühle.“

    16) Frau Dr. v. Hug-Hellmuth: „Ein Arzt verordnet
    einer Patientin Levitico— statt Levicowasser. Dieser Irrtum,
    der einem Apotheker willkommenen Anlaß zu abfälligen Bemer—
    kungen gegeben hatte, kann leicht einer milderen Auffassung
    begegnen, wenn man nach den möglichen Beweggründen aus
    dem Unbewußten forscht und ihnen, sind sie auch nur subjektive
    Annahme eines diesem Arzte Fernstehenden, eine gewisse Wahr—
    scheinlichkeit nicht von vornherein abspricht: Dieser Arzt erfreute
    sich, trotzdem er seinen Patienten ihre wenig rationelle Ernährung
    in ziemlich derben Worten vorhielt, ihnen sozusagen die
    Leviten las, starken Zuspruchs, so daß sein Wartezimmer vor
    und in der Ordinationsstunde dicht besetzt war, was den Wunsch
    des Arztes rechtfertigte, das Ankleiden der absolvierten Patienten
    möge sich möglichst rasch, vita, vita vollziehen. Wie ich mich
    richtig zu erinnern glaubte, war seine Gattin aus Frankreich
    gebürtig, was die etwas kühn scheinende Annahme, daß er sich
    bei seinem Wunsche nach größerer Geschwindigkeit seiner
    Patienten gerade der französischen Sprache bediente, einigermaßen
    rechtfertigt. Übrigens ist es eine bei vielen Personen anzutreffende
    Gewohnheit, solchen Wünschen in fremder Sprache Worte zu
    verleihen, wie mein eigener Vater uns Kinder bei Spaziergängen
    gern durch den Zuruf ‚Avanti giaventü‘ oder ‚Marchez au pas‘
    zur Eile drängte, dagegen wieder ein schon recht bejahrter Arzt,
    bei dem ich als junges Mädchen wegen eines Halsübels in
    Behandlung stand, meine ihm allzu raschen Bewegungen durch
    ein beschwichtigendes ‚Piano, piana‘ zu hemmen suchte. So
    erscheint es mir recht gut denkbar, daß auch jener Arzt dieser

  • S.

    VI. Vsrksen und Verschreiben 14.1

    Gewohnheit huldigte; und so ,verschreibt‘ er Levitico— — statt
    Levicowasser.“ (Zentralblatt für Psychoanalyse, II, 5.)

    Andere Beispiele aus der Jugenderinnerung der Verfasserin
    ebendaselbst (frazösisch statt französisch —— Verschreiben des
    Namens Karl). '

    17) Ein Verschreiben, das sich inhaltlich mit einem bekannten
    schlechten Witz deckt, bei dem aber die Witzabsicht sicherlich
    ausgeschlossen war, danke ich der Mitteilung eines Herrn ]. G.,
    von dem ein anderer Beitrag bereits Erwähnung gefunden hat:

    „Als Patient eines (Lungen-)Sanatoriums erfahre ich zu
    meinem Bedanern, daß bei einem nahen Verwandten dieselbe
    Krankheit konstatiert wurde, die mich zur Aufsuchung einer
    Heilanstalt genötigt hat. In einem Briefe lege ich nun meinem
    Verwandten nahe, zu einem Spezialisten zu gehen, einem bekannten
    Professor, bei dem ich selbst in Behandlung stehe, und von dessen
    medizinischer Autorität ich überzeugt bin, während ich anderseits
    allen Grund habe, seine Unhöflichkeit zu beklagen; denn der
    betreffende Professor hat mir —— erst kurze Zeit vorher —— die
    Ausstellung eines Zeugnisses verweigert, das für mich von großer
    Wichtigkeit war. In der Antwort auf meinen Brief werde ich
    von meinem Verwandten auf einen Schreibfehler aufmerksam
    gemacht, der mich, da ich seine Ursache augenblicklich erkannte,
    außerordentlich erheiterte. Ich hatte in meinem Schreiben fol—

    genden Passus verwendet: ,. . . übrigens rate ich Dir, ohne
    Verzögerung Prof. X. zu insultieren.‘ Natürlich hatte ich
    konsultieren schreiben wollen. —- & bedarf vielleicht des Hin—

    weises darauf, daß meine Latein- und Französischkenntnisse die
    Erklärung ausschalten, daß es sich um einen aus Unwissenheit
    resultierenden Fehler handelte.“

    18) Auslassungen im Schreiben haben natürlich Anspruch auf
    dieselbe Beurteilung wie Verschmibungen. Im Zentralblatt fiir
    Psychoanalyse, I, 12, hat Dr. jur. B. Dattner ein merkwürdiges
    Beispiel einer „historischen Fehlleistung“ mitgeteilt. In einem der

  • S.

    142 Zur Psychopathologie des Alltagslebens

    Gesetzesartikel über finanzielle Verpflichtungen der beiden Staaten,
    welche in dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn im
    Jahre 1867 vereinbart wurden, ist das Wort effektiv in der
    ungarischen Übersetzung weggeblieben, und Dattner macht es
    wahrscheinlich, daß die unbewußte Strömung der ungarischen
    Gesetza;redaktoren, Österreich möglichst wenig Vorteile zuzugestehen,
    an dieser Auslassung beteiligt gewesen sei.

    Wir haben auch allen Grund anzunehmen, daß die so häufigen
    Wiederholungen derselben Worte beim Schreiben und Abschreiben
    — Perseverationen — gleichfalls nicht bedeutungslos sind, Setzt
    der Schreiber dasselbe Wort, das er bereits geschrieben hat, noch
    ein zweites Mal hin, so zeigt er damit wohl, daß er von diesem
    Worte nicht so leicht losgekommen ist, daß er an dieser Stelle
    mehr hätte äußern können, was er aber unterlassen hat, oder
    ähnliches. [Die Perseveration beim Abschreiben scheint die Äußerung
    eines „auch, auch ic “ zu ersetzen. Ich habe lange gerichts—
    ärztliche Gutachten in der Hand gehabt, welche Perseverationen
    von seiten des Abschreibers an besonders ausgezeiclmeten Stellen
    aufwiesen, und hätte sie gern so gedeutet, als ob der seiner
    unpersönlichen Rolle Überdrüssige die Glosse einfügen Würde: Ganz
    mein Fall, oder ganz so wie bei uns.

    19) Es steht ferner nichts im Wege, die Druckfehler als „Ver-
    schreibungen“ des Setzers zu behandeln und sie als größtenteils
    motiviert aufzufassen. Eine systematische Sammlung solcher Fehl—
    leistungen, die recht amüsant und lehrreich ausfallen könnte, habe
    ich nicht angelegt. Jones hat in seiner hier mehrfach erwähnten
    Arbeit den „Misprints“ einen besonderen Absatz gewidmet. Auch
    die Entstehungen in Telegrammen lassen sich gelegentlich als
    Verschreibungen des Telegraphisten verstehen. In den Sommer—
    ferien trifft mich ein Telegramm meines Verlags, dessen Text
    mir unbegreiflich ist. Es lautet:

    „Vorräte erhalten, Einladung X. dringend.“ Die Lösung
    des Rätsels geht von dem darin erwähnten Namen X. aus. X. ist

  • S.

    VI. Verlesen und Verschreiben 14.5

    doch der Autor, zu dessen Buch ich eine Einleitung schreiben
    5011. Aus dieser Einleitung ist die Einladung geworden. Dann darf
    ich mich aber erinnern, daß ich vor einigen Tagen eine Vorrede
    zu einem anderen Buch an den Verlag abgeschickt habe, deren
    Eintreffen mir also so bestätigt wird. Der richtige Text hat sehr
    wahrscheinlich so geheißen:

    „Vorrede erhalten, Einleitung X. dringend.“ Wir dürfen
    annehmen, daß er einer Bearbeitung durch den Hunger-
    komplex des Telegraphisten zum Opfer gefallen ist, wobei übrigens
    die beiden Hälften des Satzes in innigeren Zusammenhang gebracht
    wurden, als vom Absender beabsichtigt war. Nebstbei ein schönes
    Beispiel von „sekundärer Bearbeitung“, wie Sie in den meisten
    Träumen nachweisbar ist'.

    H. Silberer erörtert in der Internat. Zeitschrift für Psycho-
    analyse, VHI, 1922, die Möglichkeit „tendenziöser Druckfehler.“

    Gelegentlich sind von Anderen Druckfehler aufgezeigt worden,
    denen man eine Tendenz nicht leicht streitig machen kann, so von
    Storf er im Zentralblatt für Psychoanalyse, II, 1914: „Der politische
    Druckfehlerteufel“ und ibid. III, 1915, die kleine Notiz, die ich
    hier abdrucke:

    90) „Ein politischer Druckfehler findet sich in der Nummer
    des ,März‘ vom 95. April d. I. In einem Briefe aus Argyrokastm-n
    wurden Äußerungen von Zographos, dem Führer der auf.
    ständischen Epiroten in Albanien (oder wenn man will: dem
    Präsidenten der unabhängigen Regierung des Epirus) wiedergegeben.
    Unter anderem heißt es: ‚Glauben Sie mir; ein autonomer Epirus
    läge im ureigensten Interesse des Fürsten Wied. Auf ihn könnte
    er sich stürzen. . .‘ Daß die Annahme der Stütze, die ihm die
    Epiroten anbieten, seinen Sturz bedeuten würde, weiß wohl der
    Fürst von Albanien auch ohne jenen fatalen Druckfehler.“

    21) Ich las selbst vor kurzem in einer unserer Wiener Tages-
    zeitungen einen Aufsatz „die Bukowina unter rumänischer

    1) Vgl. Traumdeutung, siebente Auflage, 1992, Abschnitt über die Traumurheit.

  • S.

    144 Zur Psychopathobgiz des Alltagslebem

    Herrschaft“, dessen Überschrift man zum mindesten als verfiüht
    erklären durfte, denn damals hatten sich die Rumänen noch nicht
    zu ihrer F eindseligkeit bekannt. Es hätte nach dem Inhalt unzweifel—
    haft russisch anstatt rumänisch heißen müssen, aber auch dem
    Zensor scheint die Zusammenstellung so wenig befremdend gewesen
    zu sein, daß er selbst diesen Druckfehler übersah.

    Es ist schwer, nicht an einen „politischen“ Druckfehler zu denken,
    wenn man in dem gedruckten Zirkular der rühmlich bekannten
    (ehemaligen k. k. Hof—)Bnchdruckerei Karl Prochaska in Taschen
    folgende orthographische Verschreibung liest:

    „P. T. Durch den Machtspruch der Entente wurde durch die Bestim-
    mung des Olsaflusses als Grenze nicht nur Schlesien, sondern auch
    Teschen in zwei Teile geteilt, von welchen einer Polen, der andere
    der Tschecho-Slovakei zuviel.“

    In amüsanter Weise mußte sich Th. Fontane einmal gegen
    einen allzu sinnreichen Druckfehler zur Wehre setzen. Er schrieb
    am 99. März 1860 an den Verleger Julius Springer:

    Sehr geehrter Herr!

    Es scheint mir nicht beschieden, meine kleinen Wünsche in
    Erfüllung gehen zu sehen. Ein Einblick in den Korrekturhogen‘,
    den ich beischließe, wird Ihnen sagen, was ich meine. Auch hat
    man mit nur einen Bogen geschickt, wiewohl ich zwei, aus
    angegebenen Gründen, brauche. Auch die Wiedereinsendung des
    ersten Bogens zu nochmaliger Durchsicht — namentlich der
    englischen Wörter und Sätze halber —— ist nicht erfolgt.
    Mir liegt sehr daran. Seite 97 heißt es z. B. im heutigen Korrektur—
    bogen in einer Szene zwischen John Knox und der Königin:
    „worauf Maria aasrief.“ Solchen fulminanten Sachen gegenüber

    1) Es handelt sich um den Druck des 1860 bei Julius Springer erschienenen
    Buches „Ja-nein des Tweed. Bilder und Briefe am Schottland.“

  • S.

    VI. Verlesen und Verschreilzen '14.5

    will man gern die Beruhigung haben, daß der Fehler auch wirklich
    beseitigt ist. Es ist dies unglückliche „aas“ statt „aus“ um so
    schlimmer, als kein Zweifel ist, daß sie (die Königin) ihn im
    stillen wirklich so genannt haben wird. Mit bekannter Hochachtung
    Ihr ergebenster Th. Fontane.

    Wu ndt gibt eine bemerkenswerte Begründung für die leicht
    zu bestätigende Tatsache, daß wir uns leichter verschreiben als
    versprechen (l. c. S. 574). „Im Verlaufe der normalen Rede ist
    fortwährend die Hemmungsfunktion des Willens dahin gerichttfl,
    Vorstellungsverlauf und Artikulationsbewegung miteinander in
    Einklang zu bringen. Wird die den Vorstellungen folgende Aus—
    drucksbewegung durch mechanische Ursachen verlangsamt wie
    beim Schreiben. . ., so treten daher solche Antizipationen besonders
    leicht ein.“

    Die Beobachtung der Bedingungen, unter denen das Verlesen
    auftritt, gibt Anlaß zu einem Zweifel, den ich nicht unerwähnt
    lassen möchte, weil er nach meiner Schätzung der Ausgangspunkt
    einer fruchtbaren Untersuchung werden kann. Es ist jedermann
    bekannt, wie häufig beim Vorlesen die Aufmerksamkeit des
    Lesenden den Text verläßt und sich eigenen Gedanken zuwendet;
    Die Folge dieses Abschweifens der Aufmerksamkeit ist nicht
    selten, daß er überhaupt nicht anzugeben weiß, was er gelesen
    hat, wenn man ihn im’Vorlesen unterbricht und befragt. Er
    hat dann wie automatisch gelesen, aber er hat fast immer richtig
    vorgelesen. Ich glaube nicht, daß die Lesefehler sich unter solchen
    Bedingungen merklich vermehren. Von einer ganzen Reihe von
    Funktionen sind wir auch gewohnt anzunehmen, daß sie
    automatisch, also von kaum bewußter Aufmerksamkeit begleitet,
    am exaktesten vollzogen werden. Daraus scheint zu folgen, daß die
    Aufmerksamkeitsbeding-ung der Sprech—, Lese- und Schreibfehler
    anders zu bestimmen ist, als sie bei Wundt lautet (Wegfall
    oder Nachlaß der Aufmerksamkeit). Die Beispiele, die wir der
    Analyse unterzogen haben, gaben uns eigentlich nicht das Recht,

    Freud, IV 10

  • S.

    146 Zur Psychopafhologi'z de.: Alltagsleben:

    eine quantitative Verminderung der Aufmerksamkeit anzunehmen;
    wir fanden, was vielleicht nicht ganz dasselbe ist, eine Störung
    der Aufmerksamkeit durch einen fremden, Anspruch erhebenden
    Gedanken.

    *

    Zwischen „Verschreiben“ und „Vergessen“ darf man den Fall
    einschalten, daß jemand eine Unterschrift anzubringen vergißt.
    Ein nicht unterschriebener Scheck ist soviel wie ein ver—
    gessener. Fiir die Bedeutung eines solchen Vergessens will ich
    eine Stelle aus einem Roman anführen, die Dr. H. Sachs
    aufgefallen ist:

    „Ein sehr lehrreiches und durchsichtiges Beispiel, mit welcher
    Sicherheit die Dichter den Mechanismus der Fehl— und
    Symptomhandlungen im Sinne der Psychoanalyse zu verwenden
    wissen, enthält der Roman von John Galsworthy: ‚The
    Island Pharisees.‘ Im Mittelpunkte steht das Schwanken eines
    jungen Mannes, der dem reichen Mittelstand angehört, zwischen
    tiefem sozialen Mitgefühl und den gesellschaftlichen Kon-
    ventionen seiner Klasse. Im XXVI. Kapitel wird geschildert, wie
    er auf einen Brief eines jungen Vagabunden reagiert, den er,
    durch seine originelle Lehensauffassung angezogen, einigemal
    unterstützt hatte. Der Brief enthält keine direkte Bitte um Geld,
    aber die Schilderung einer großen Notlage, die keine andere
    Deutung zuläßt. Der Empfänger weist zunächst den Gedanken
    von sich, das Geld an einen Unverbesserlichen wegzuwerfen,
    statt damit wohltätige Anstalten zu unterstützen. ‚Eine helfende
    Hand, ein Stück von sich selbst, ein kameradschaflliches Nicken
    einem Mitgeschöpf zu geben, ohne Rücksicht auf einen Anspruch,
    nur weil es ihm eben schlecht ging, welch ein sentimentaler
    Unsinn! Irgendwo muß der Scheidestn'ch gezogen werden!‘ Aber
    während er diese Schlußfolgerung vor sich hinmurmelte, fühlte
    er, wie seine Aufrichtigkeit Einspruch erhob: ,Schwindler! Du
    willst dein Geld behalten, das ist alles!‘