• S.

    VII
     

    VERGESSEN VON EINDRÜCKEN UND VORSÄTZEN
     

    Wenn jemand geneigt sein sollte, den Stand unserer gegen-
    wärtigen Kenntnis vom Seelenleben zu überschätzen, so brauchte
    man ihn nur an die Gedächtnisfunktion zu mahnen, um ihn zur
    Bescheidenheit zu zwingen. Keine psychologische Theorie hat es
    noch vermocht, von dem fundamentalen Phänomen des Erinnerns
    und Vergessens im Zusammenhange Rechenschaft zu geben; ja,
    die vollständige Zergliederung dessen, was man tatsächlich beob-
    achten kann, ist noch kaum in Angriff genommen. Vielleicht ist
    uns heute das Vergessen rätselhafter geworden als das Erinnern,
    seitdem uns das Studium des Traumes und pathologischer
    Ereignisse gelehrt hat, daß auch das plötzlich wieder
    Bewußtsein auftauchen kann, was wir für längst vergessen
    geschätzt haben.
     

    Wir sind allerdings im Besitze einiger weniger Gesichtspunkte,
    für welche wir allgemeine Anerkennung erwarten. Wir nehmen
    an, daß das Vergessen ein spontaner Vorgang ist, dem man
    einen gewissen zeitlichen Ablauf zuschreiben kann. Wir heben
    hervor, daß beim Vergessen eine gewisse Auswahl unter den
    dargebotenen Eindrücken stattfindet und ebenso unter den
    Einzelheiten eines jeden Eindrucks oder Erlebnisses. Wir kennen
    einige der Bedingungen für die Haltbarkeit im Gedächtnis und
    für die Erweckbarkeit dessen, was sonst vergessen würde.
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    149
     

    Bei unzähligen Anlässen im täglichen Leben können wir aber
    bemerken, wie unvollständig und unbefriedigend unsere Er-
    kenntnis ist. Man höre zu, wie zwei Personen, die gemeinsam
    äußere Eindrücke empfangen, Z. B. eine Reise miteinander
    gemacht haben, eine Zeitlang später ihre Erinnerungen aus-
    tauschen. Was dem einen fest im Gedächtnis geblieben ist, das
    hat der andere oft vergessen, als ob es nicht geschehen wäre,
    und zwar ohne daß man ein Recht zur Behauptung hätte,
    der Eindruck sei für den einen psychisch bedeutsamer gewesen
    als für den anderen. Eine ganze Anzahl der die Auswahl fürs
    Gedächtnis bestimmenden Momente entzieht sich offenbar noch
    unserer Kenntnis.
     

    In der Absicht, zur Kenntnis der Bedingungen des Vergessens
    einen kleinen Beitrag zu liefern, pflege ich die Fälle, in denen
    mir das Vergessen selbst widerfährt, einer psychologischen Analyse
    zu unterziehen. Ich beschäftige mich in der Regel nur mit einer
    gewissen Gruppe dieser Fälle, mit jenen nämlich, in denen das
    Vergessen mich in Erstaunen setzt, weil ich nach meiner
    Erwartung das Betreffende wissen sollte. Ich will noch bemerken,
    daß ich zur Vergeßlichkeit im allgemeinen (für Erlebtes, nicht
    für Gelerntes!) nicht neige, und daß ich durch eine kurze Periode
    meiner Jugend auch außergewöhnlicher Gedächtnisleistungen nicht.
    unfähig war. In meiner Schulknabenzeit war es mir selbstver-
    ständlich, die Seite des Buches, die ich gelesen hatte, auswendig
    hersagen zu können, und kurz vor der Universität war ich
    imstande, populäre Vorträge wissenschaftlichen Inhalts unmittelbar
    nachher fast wortgetreu niederzuschreiben. In der Spannung vor
    dem letzten medizinischen Rigorosum muß ich noch Gebrauch
    von dem Reste dieser Fähigkeit gemacht haben, denn ich
    gab in einigen Gegenständen den Prüfern wie automatisch
    Antworten, die sich getreu mit dem Texte des Lehrbuches
    deckten, welchen ich doch nur einmal in der größten Hast
    durchflogen hatte.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    150
     

    Die Verfügung über den Gedächtnisschatz ist seither bei mir immer
    schlechter geworden, doch habe ich mich bis in die letzte Zeit.
    hinein überzeugt, daß ich mit Hilfe eines Kunstgriffes weit mehr
    erinnern kann, als ich mir sonst zutraue. Wenn z. B. ein Patient
    in der Sprechstunde sich darauf beruft, daß ich ihn schon einmal
    gesehen habe, und ich mich weder an die Tatsache noch an den
    Zeitpunkt erinnern kann, so helfe ich mir, indem ich rate, das
    heißt mir rasch eine Zahl von Jahren, von der Gegenwart an
    gerechnet, einfallen lasse. Wo Aufschreibungen oder die sichere
    Angabe des Patienten eine Kontrolle meines Einfalls ermöglichen,
    da zeigt es sich, daß ich selten um mehr als ein Halbjahr bei
    über zehn Jahren geirrt habe'. Ähnlich, wenn ich einen entfernteren
    Bekannten treffe, den ich aus Höflichkeit nach seinen kleinen
    Kindern frage. Erzählt er von den Fortschritten derselben, so
    suche ich mir einfallen zu lassen, wie alt das Kind jetzt ist,
    kontrolliere durch die Auskunft des Vaters und gehe höchstens
    um einen Monat, bei älteren Kindern um ein Vierteljahr fehl,
    obwohl ich nicht angeben kann, welche Anhaltspunkte ich für
    diese Schätzung hatte. Ich bin zuletzt so kühn geworden, daß ich
    meine Schätzung immer spontan vorbringe, und laufe dabei nicht
    Gefahr, den Vater durch die Bloßstellung meiner Unwissenheit
    über seinen Spröẞling zu kränken. Ich erweitere so mein bewußtes
    Erinnern durch Anrufen meines jedenfalls weit reichhaltigeren
    unbewußten Gedächtnisses.
     

    Ich werde also über auffällige Beispiele von Vergessen,
    die ich zumeist an mir selbst beobachtet, berichten. Ich unter-
    scheide Vergessen von Eindrücken und Erlebnissen, also von
    Wissen, und Vergessen von Vorsätzen, also Unterlassungen. Das
    einförmige Ergebnis der ganzen Reihe von Beobachtungen kann
    ich voranstellen: In allen Fällen erwies sich das Ver-
    gessen als begründet durch ein Unlust motiv.
     

    1) Gewöhnlich pflegen dann im Laufe der Besprechung die Einzelheiten des
    damaligen ersten Besuches bewußt aufzutauchen.
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    151
     

    A) VERGESSEN VON EINDRÜCKEN UND KENNTNISSEN
     

    1) In einem Sommer gab mir meine Frau einen an sich
    harmlosen Anlaß zu heftigem Ärger. Wir saßen an der Table
    d'hôte einem Herrn aus Wien gegenüber, den ich kannte und
    der sich wohl auch an mich zu erinnern wußte. Ich hatte aber
    meine Gründe, die Bekanntschaft nicht zu erneuern. Meine Frau,
    die nur den ansehnlichen Namen ihres Gegenüber gehört hatte,
    verriet zu sehr, daß sie seinem Gespräch mit den Nachbarn
    zuhörte, denn sie wandte sich von Zeit zu Zeit an mich mit
    Fragen, die den dort gesponnenen Faden aufnahmen. Ich wurde
    ungeduldig und endlich gereizt. Wenige Wochen später führte
    ich bei einer Verwandten Klage über dieses Verhalten meiner
    Frau. Ich war aber nicht imstande, auch nur ein Wort von der
    Unterhaltung jenes Herrn zu erinnern. Da ich sonst eher nach-
    tragend bin und keine Einzelheit eines Vorfalles, der mich
    geärgert hat, vergessen kann, ist meine Amnesie in diesem Falle
    wohl durch Rücksichten auf die Person der Ehefrau motiviert.
    Ähnlich erging es mir erst vor kurzem wieder. Ich wollte mich
    gegen einen intim Bekannten über eine Äußerung meiner Fraul
    lustig machen, die erst vor wenigen Stunden gefallen war, fand
    mich aber in diesem Vorsatz durch den bemerkenswerten
    Umstand gehindert, daß ich die betreffende Äußerung spurlos
    vergessen hatte.
    Ich mußte erst meine Frau bitten, mich an
    dieselbe zu erinnern. Es ist leicht zu verstehen, daß dies mein
    Vergessen analog zu fassen ist der typischen Urteilsstörung,
    welcher wir unterliegen, wenn es sich um unsere nächsten
    Angehörigen handelt.
     

    2) Ich hatte es übernommen, einer fremd in Wien ange-
    kommenen Dame eine kleine eiserne Handkassette zur Auf-
    bewahrung ihrer Dokumente und Gelder zu besorgen. Als ich
    mich dazu erbot, schwebte mir mit ungewöhnlicher visueller
    Lebhaftigkeit das Bild einer Auslage in der Inneren Stadt vor, in
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    152
     

    welcher ich solche Kassen gesehen haben mußte. Ich konnte mich
    zwar an den Namen der Straße nicht erinnern, fühlte mich aber
    sicher, daß ich den Laden auf einem Spaziergang durch die
    Stadt auffinden werde, denn meine Erinnerung sagte mir, daß
    ich unzähligemal an ihm vorübergegangen sei. Zu meinem Ärger
    gelang es mir aber nicht, diese Auslage mit den Kassetten auf-
    zufinden, obwohl ich die Innere Stadt nach allen Richtungen
    durchstreifte. Es blieb mir nichts anderes übrig, meinte ich, als
    mir aus einem Adressenkalender die Kassenfabrikanten herauszu-
    suchen, um dann auf einem zweiten Rundgange die gesuchte
    Auslage zu identifizieren. Es bedurfte aber nicht so viel; unter
    den im Kalender angezeigten Adressen befand sich eine, die sich
    mir sofort als die vergessene enthüllte. Es war richtig, daß ich
    ungezählte Male an dem Auslagefenster vorübergegangen war,
    jedesmal nämlich, wenn ich die Familie M. besucht hatte, die
    seit langen Jahren in dem nämlichen Hause wohnt. Seitdem
    dieser intime Verkehr einer völligen Entfremdung gewichen war,
    pflegte ich, ohne mir von den Gründen Rechenschaft zu geben,
    auch die Gegend und das Haus zu meiden. Auf jenem Spazier-
    gang durch die Stadt hatte ich, als ich die Kassetten in der
    Auslage suchte, jede Straße in der Umgebung begangen, dieser
    einen aber war ich, als ob ein Verbot darauf läge, ausgewichen.
    Das Unlustmotiv, welches in diesem Falle meine Unorientiertheit
    verschuldete, ist greifbar. Der Mechanismus des Vergessens ist
    aber nicht mehr so einfach wie im vorigen Beispiel. Meine
    Abneigung gilt natürlich nicht dem Kassenfabrikanten, sondern
    einem anderen, von dem ich nichts wissen will, und überträgt
    sich von diesem anderen auf die Gelegenheit, wo sie das Vergessen
    zustande bringt. Ganz ähnlich hatte im Falle Burckhard der
    Groll gegen den einen den Schreibfehler im Namen hervor-
    gebracht, wo es sich um den anderen handelte. Was hier die
    Namensgleichheit leistete, die Verknüpfung zwischen zwei im
    Wesen verschiedenen Gedankenkreisen herzustellen, das konnte
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    153
     

    im Beispiel von dem Auslagefenster die Kontiguität im Raume,
    die untrennbare Nachbarschaft, ersetzen. Übrigens war dieser
    letztere Fall fester gefügt; es fand sich noch eine zweite inhaltliche
    Verknüpfung vor, denn unter den Gründen der Entfremdung
    mit der im Hause wohnenden Familie hatte das Geld eine
    Rolle gespielt.
     

    3) Ich werde von dem Bureau B. & R. bestellt, einen ihrer
    Beamten ärztlich zu besuchen. Auf dem Wege zu dessen Wohnung.
    beschäftigt mich die Idee, ich müßte schon wiederholt in dem
    Hause gewesen sein, in welchem sich die Firma befindet. Es ist
    mir, als ob mir die Tafel derselben in einem niedrigen Stock-
    werk aufgefallen wäre, während ich in einem höheren einen
    ärztlichen Besuch zu machen hatte. Ich kann mich aber weder
    daran erinnern, welches dieses Haus ist, noch wen ich dort
    besucht habe. Obwohl die ganze Angelegenheit gleichgültig und
    bedeutungslos ist, beschäftige ich mich doch mit ihr und erfahre
    endlich auf dem gewöhnlichen Umweg, indem ich meine Ein-
    fälle dazu sammle, daß sich einen Stock über den Lokalitäten
    der Firma B. & R. die Pension Fischer befindet, in welcher
    ich häufig Patienten besucht habe. Ich kenne jetzt auch das
    Haus, welches die Bureaus und die Pension beherbergt. Rätselhaft
    ist mir noch, welches Motiv bei diesem Vergessen im Spiele
    war. Ich finde nichts für die Erinnerung Anstößiges an der
    Firma selbst oder an Pension Fischer oder an den Patienten, die
    dort wohnten. Ich vermute auch, daß es sich um nichts sehr
    Peinliches handeln kann; sonst wäre es mir kaum gelungen, mich
    des Vergessenen auf einem Umweg wieder bemächtigen, ohne,
    Es
     

    wie im vorigen Beispiel, äußere Hilfsmittel heranzuziehen.
    fällt mir endlich ein, daß mich eben vorhin, als ich den Weg.
    zu dem neuen Patienten antrat, ein Herr auf der Straße gegrüßt
    hat, den ich Mühe hatte zu erkennen. Ich hatte diesen Mann.
    vor Monaten in einem anscheinend schweren Zustand gesehen
    und die Diagnose der progressiven Paralyse über ihn verhängt,
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    154
     

    dann aber gehört, daß er hergestellt sei, so daß mein Urteil
    unrichtig gewesen wäre. Wenn nicht etwa hier eine der Remis-
    sionen vorliegt, die sich auch bei Dementia paralytica finden, so
    daß meine Diagnose doch noch gerechtfertigt wäre! Von dieser
    Begegnung ging der Einfluß aus, der mich an die Nachbarschaft
    der Bureaus von B. & R. vergessen ließ, und mein Interesse, die
    Lösung des Vergessenen zu finden, war von diesem Fall strittiger
    Diagnostik her übertragen. Die assoziative Verknüpfung aber wurde
    bei geringem inneren Zusammenhang der wider Erwarten
    Genesene war auch Beamter eines großen Bureaus, welches mir
    Kranke zuzuweisen pflegte - durch eine Namensgleichheit
    besorgt. Der Arzt, mit welchem gemeinsam ich den fraglichen
    Paralytiker gesehen hatte, hieß auch Fischer, wie die in dem
    Hause befindliche, vom Vergessen betroffene Pension.
     

    4) Ein Ding verlegen heißt ja nichts anderes als vergessen,
    wohin man es gelegt hat, und wie die meisten mit Schriften
    und Büchern hantierenden Personen bin ich auf meinem Schreib-
    tisch wohl orientiert und weiß das Gesuchte mit einem Griffe
    hervorzuholen. Was anderen als Unordnung erscheint, ist für
    mich historisch gewordene Ordnung. Warum habe ich aber
    unlängst einen Bücherkatalog, der mir zugeschickt wurde, so
    verlegt, daß er unauffindbar geblieben ist? Ich hatte doch die
    Absicht, ein Buch, das ich darin angezeigt fand, „Über die Sprache",
    zu bestellen, weil es von einem Autor herrührt, dessen geistreich
    belebten Stil ich liebe, dessen Einsicht in der Psychologie und
    dessen Kenntnisse in der Kulturhistorie ich zu schätzen weiß. Ich
     

    meine, gerade darum habe ich den Katalog verlegt. Ich pflege
    nämlich Bücher dieses Autors zur Aufklärung unter meinen
    Bekannten zu verleihen, und vor wenigen Tagen hat mir jemand
    bei der Rückstellung gesagt: „Der Stil erinnert mich ganz an
    den Ihrigen, und auch die Art zu denken ist dieselbe." Der
    Redner wußte nicht, an was er mit dieser Bemerkung rührte.
    Vor Jahren, als ich noch jünger und anschlußbedürftiger war,
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    155
     

    hat mir ungefähr das Nämliche ein älterer Kollege gesagt, dem
    ich die Schriften eines bekannten medizinischen Autors ange-
    priesen hatte.,,Ganz Ihr Stil und Ihre Art." So beeinflußt hatte
    ich diesem Autor einen um näheren Verkehr werbenden Brief
    geschrieben, wurde aber durch eine kühle Antwort in meine
    Schranken zurückgewiesen. Vielleicht verbergen sich außerdem
    noch frühere abschreckende Erfahrungen hinter dieser letzten,
    denn ich habe den verlegten Katalog nicht wiedergefunden und
    bin durch dieses Vorzeichen wirklich abgehalten worden, das
    angezeigte Buch zu bestellen, obwohl ein wirkliches Hindernis
    durch das Verschwinden des Katalogs nicht geschaffen worden.
    ist. Ich habe ja die Namen des Buches und des Autors im
    Gedächtnis behalten'.
     

    5) Ein anderer Fall von Verlegen verdient wegen der
    Bedingungen, unter denen das Verlegte wiedergefunden wurde,
    unser Interesse. Ein jüngerer Mann erzählt mir: „Es gab vor
    einigen Jahren Mißverständnisse in meiner Ehe, ich fand meine
    Frau zu kühl, und obwohl ich ihre vortrefflichen Eigenschaften
    gern anerkannte, lebten wir ohne Zärtlichkeit nebeneinander.
    Eines Tages brachte sie mir von einem Spaziergang ein Buch
    mit, das sie gekauft hatte, weil es mich interessieren dürfte. Ich
    dankte für dieses Zeichen von Aufmerksamkeit, versprach das
    Buch zu lesen, legte es mir zurecht und fand es nicht wieder.
    Monate vergingen so, in denen ich mich gelegentlich an dies
    verschollene Buch erinnerte und es auch vergeblich aufzufinden
    versuchte. Etwa ein halbes Jahr später erkrankte meine, getrennt
    von uns wohnende, geliebte Mutter. Meine Frau verließ das
    Haus, um ihre Schwiegermutter zu pflegen. Der Zustand der
    Kranken wurde ernst und gab meiner Frau Gelegenheit, sich von
    ihren besten Seiten zu zeigen. Eines Abends komme ich begeistert
    von der Leistung meiner Frau und dankerfüllt gegen sie nach
     

    1) Für vielerlei Zufälligkeiten, die man seit Th. Vischer der "Tücke des
    Objekts" zuschreibt, möchte ich ähnliche Erklärungen vorschlagen.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    156
     

    Hause. Ich trete zu meinem Schreibtisch, öffne ohne bestimmte
    Absicht, aber wie mit somnambuler Sicherheit, eine bestimmte Lade
    desselben und zu oberst in ihr finde ich das so lange vermiẞte,
    das verlegte Buch."
     

    Einen Fall von Verlegen, der in dem letzten Charakter mit
    diesem zusammentrifft, in der merkwürdigen Sicherheit des
    Wiederfindens, wenn das Motiv des Verlegens erloschen ist,
    erzählt J. Stärcke (l. c.).
     

    6) Ein junges Mädchen hatte einen Lappen, aus welchem sie
    einen Kragen anfertigen wollte, im Zuschneiden verdorben. Nun
    mußte die Näherin kommen und versuchen, es noch zurechtzu-
    bringen. Als die Näherin gekommen war und das Mädchen den
    zerschnittenen Kragen aus der Schublade, in die sie ihn gelegt
    zu haben glaubte, zum Vorschein holen wollte, konnte sie ihn
    nicht finden. Sie warf das Unterste zu oberst, aber sie fand ihn
    nicht. Als sie nun im Zorne sich setzte und sich abfragte, warum
    er plötzlich verschwunden war und ob sie ihn vielleicht nicht
    finden wollte, überlegte sie, daß sie sich natürlich vor der
    Näherin schämte, weil sie etwas so Einfaches wie einen
    Kragen doch noch verdorben hatte. Als sie das bedacht hatte,
    stand sie auf, ging auf einen anderen Schrank zu und brachte
    daraus beim ersten Griff den zerschnittenen Kragen zum
    Vorschein."
     

    7) Das nachstehende Beispiel von „Verlegen" entspricht einem
    Typus, der jedem Psychoanalytiker bekannt geworden ist. Ich
    darf angeben, der Patient, der dieses Verlegen produzierte, hat
    den Schlüssel dazu selbst gefunden:
     

    ,,Ein in psychoanalytischer Behandlung stehender Patient, bei
    dem die sommerliche Unterbrechung der Kur in eine Periode
    des Widerstandes und schlechten Befindens fällt, legt abends beim
    Entkleiden seinen Schlüsselbund, wie er meint, auf den gewohnten
    Platz. Dann erinnert er sich, daß er für die Abreise am nächsten
    Tag, dem letzten der Kur, an dem auch das Honorar fällig
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    157
     

    wird, noch einige Gegenstände aus dem Schreibtisch nehmen
    will, wo er auch das Geld verwahrt hat. Aber die Schlüssel
    sind verschwunden. Er beginnt seine kleine Wohnung syste-
    matisch, aber in steigender Erregung abzusuchen
    Erfolg. Da er das,Verlegen der Schlüssel als Symptomhandlung,
    also als beabsichtigt, erkennt, weckt er seinen Diener, um mit
    Hilfe einer,unbefangenen Person weiterzusuchen. Nach einer
    weiteren Stunde gibt er das Suchen auf und fürchtet, daß er
    die Schlüssel verloren habe. Am nächsten Morgen bestellt er
    beim Fabrikanten der Schreibtischkasse neue Schlüssel, die in
    aller Eile angefertigt werden. Zwei Bekannte, die ihn im Wagen
    nach Hause begleitet haben, wollen sich erinnern, etwas auf den
    Boden klirren gehört zu haben, als er aus dem Wagen stieg. Er
    ist überzeugt, daß ihm die Schlüssel aus der Tasche gefallen
    sind. Abends präsentierte ihm der Diener triumphierend die
    Schlüssel. Sie lagen zwischen einem dicken Buche und einer
    dünnen Broschüre (einer Arbeit eines meiner Schüler), die er
    zur Lektüre für die Ferien mitnehmen wollte, so geschickt hin-
    gelegt, daß niemand sie dort vermutet hätte. Es war ihm dann
    unmöglich, die Lage der Schlüssel so unsichtbar nachzuahmen.
    Die unbewußte Geschicklichkeit, mit der ein Gegenstand infolge
    von geheimen, aber starken Motiven verlegt wird, erinnert ganz
    an die somnambule Sicherheit". Das Motiv war natürlich
    Unmut über die Unterbrechung der Kur und die geheime
    Wut, bei so schlechtem Befinden ein hohes Honorar zahlen zu
    müssen."
     

    ohne
     

    8) Ein Mann, erzählt A. A. Brill, wurde von seiner Frau
    gedrängt, an einer gesellschaftlichen Veranstaltung teilzunehmen,
    die ihm im Grunde sehr gleichgültig war. Er gab ihren Bitten
    endlich nach und begann seinen Festanzug aus dem Koffer zu
    nehmen, unterbrach sich aber darin und beschloß, sich zuerst zu
    rasieren. Als er damit fertig geworden war, kehrte.
    Koffer zurück, fand ihn aber zugeklappt, und der Schlüssel
     

    er zum
     

    war
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    158
     

    nicht aufzufinden. Ein Schlosser war nicht aufzutreiben, da es
    Sonntag abend war, und so mußten die beiden sich in der
    Gesellschaft entschuldigen lassen. Als der Koffer am nächsten
    Morgen geöffnet wurde, fand sich der Schlüssel drinnen. Der
    Mann hatte ihn in der Zerstreutheit in den Koffer fallen lassen.
    und diesen ins Schloß geworfen. Er gab mir zwar die Ver-
    sicherung, daß er ganz ohne Wissen und Absicht so getan
    habe, aber wir wissen, daß er nicht in die Gesellschaft gehen
    wollte. Das Verlegen des Schlüssels ermangelte also nicht eines
    Motivs.
     

    E. Jones beobachtete an sich selbst, daß er jedesmal die
    Pfeife zu verlegen pflegte, nachdem er zuviel geraucht hatte und
    sich darum unwohl fühlte. Die Pfeife fand sich dann an allen
    möglichen Stellen, wo sie nicht hingehörte und wo sie für
    gewöhnlich nicht aufbewahrt wurde.
     

    9) Einen harmlosen Fall mit eingestandener Motivierung
     

    berichtet Dora Müller:
     

    Fräulein Erna A. erzählt zwei Tage vor Weihnachten:
    ,Denken Sie, gestern abend nahm ich aus meinem Pfeffer-
    kuchenpaket und aß; ich denke dabei, daß ich
    Gesellschafterin ihrer Mutter), wenn sie mir
    komme, davon anbieten müsse; ich hatte keine
    nahm mir aber trotzdem vor, es zu tun. Wie sie nachher kam
    und ich nach meinem Tischchen hin die Hand ausstreckte, um
    das Paket zu nehmen, fand ich es dort nicht. Ich suchte danach
    und fand es eingeschlossen in meinem Schranke. Da hatte ich.
    das Paket, ohne es zu wissen, hineingestellt." Eine Analyse war
    überflüssig, die Erzählerin war sich selbst über den Zusammenhang
    klar. Die eben verdrängte Regung, das Gebäck für sich allein.
    behalten zu wollen, war gleichwohl in automatischer Handlung
    durchgedrungen, um freilich in diesem Falle durch die nach-
    folgende bewußte Handlung wieder rückgängig gemacht zu werden.
    (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, III, 1915.)
     

    Fräulein S. (der
    Gutenacht sagen
    rechte Lust dazu,
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    159
     

    10) H. Sachs schildert, wie er sich einmal durch ein solches
    Verlegen der Verpflichtung zu arbeiten entzogen hat: „Vergangenen
    Sonntag nachmittag schwankte ich eine Weile, ob ich arbeiten
    oder einen Spaziergang mit daranschließendem Besuche machen
    solle, entschloß mich aber nach einigem Kampfe für das erstere.
    Nach etwa einer Stunde bemerkte ich, daß ich mit meinem
    Papiervorrat zu Ende sei. Ich wußte, daß ich irgendwo in einer
    Lade schon seit Jahren ein Bündel Papier aufbewahrt habe,
    suchte aber danach vergeblich in meinem Schreibtisch und an
    anderen Stellen, wo ich es zu finden vermutete, obgleich ich mir
    große Mühe gab und in allen möglichen alten Büchern,
    Broschüren, Briefschaften u. dgl. herumwühlte. So sah ich mich
    doch genötigt, die Arbeit einzustellen und fortzugehen. Als ich
    abends nach Hause kam, setzte ich mich auf das Sofa und sah
    in Gedanken, halb abwesend auf den gegenüberstehenden Bücher-
    schrank. Da fiel mir eine Lade in die Augen und ich erinnerte,
    daß ich ihren Inhalt schon lange nicht durchgemustert habe. Ich
    ging also hin und öffnete sie. Zu oberst lag eine Ledermappe
    und in dieser unbeschriebenes Papier. Aber erst als ich es heraus-
    genommen hatte und im Begriffe stand, es in der Schreibtisch-
    lade zu verwahren, fiel mir ein, daß dies ja dasselbe Papier sei,
    das ich nachmittags vergeblich gesucht hatte. Ich muß hiezu noch
    bemerken, daß ich, obgleich sonst nicht sparsam, mit Papier sehr
    vorsichtig umgehe und jedes verwendbare Restchen aufhebe. Diese
    von einem Triebe gespeiste Gewohnheit war es offenbar, die mich
    zur sofortigen Korrektur des Vergessens veranlaßte, sobald das
    aktuelle Motiv dafür verschwunden war."
     

    Wenn man die Fälle von Verlegen übersieht, wird es wirklich
    schwer anzunehmen, daß ein Verlegen jemals anders als infolge
    einer unbewußten Absicht erfolgt.
     

    11) Im Sommer des Jahres 1901 erklärte ich einmal einem
    Freunde, mit dem ich damals in regem Gedankenaustausch über
    wissenschaftliche Fragen stand: Diese neurotischen Probleme sind
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    160
     

    nur dann zu lösen, wenn wir uns ganz und voll auf den Boden
    der Annahme einer ursprünglichen Bisexualität des Individuums
    stellen. Ich erhielt zur Antwort: „Das habe ich dir schon vor
    zweieinhalb Jahren in Br. gesagt, als wir jenen Abendspaziergang
    machten. Du wolltest damals nichts davon hören." Es ist nun
    schmerzlich, so zum Aufgeben seiner Originalität aufgefordert zu
    werden. Ich konnte mich an ein solches Gespräch und an diese
    Eröffnung meines Freundes nicht erinnern. Einer von uns beiden
    mußte sich da täuschen; nach dem Prinzip der Frage cui prodest?
    mußte ich das sein. Ich habe im Laufe der nächsten Woche in
    der Tat alles so erinnert, wie mein Freund es in mir erwecken
    wollte; ich weiß selbst, was ich damals zur Antwort gab: Dabei
    halte ich noch nicht, ich will mich darauf nicht einlassen. Aber
    ich bin seither um ein Stück toleranter geworden, wenn ich
    irgendwo in der medizinischen Literatur auf eine der wenigen
    Ideen stoẞe, mit denen man meinen Namen verknüpfen kann, und
    wenn ich dabei die Erwähnung meines Namens vermisse.
    Ausstellungen an seiner Ehefrau Freundschaft, die ins
    Gegenteil umgeschlagen hat Irrtum in ärztlicher Diagnostik
    - Zurückweisung durch Gleichstrebende Entlehnung von
    Ideen: es ist wohl kaum zufällig, daß eine Anzahl von Beispielen
    des Vergessens, die ohne Auswahl gesammelt worden sind, zu
    ihrer Auflösung des Eingehens auf so peinliche Themata bedürfen.
    Ich vermute vielmehr, daß jeder andere, der sein eigenes Ver-
    gessen einer Prüfung nach den Motiven unterziehen will, eine
    ähnliche Musterkarte von Widerwärtigkeiten aufzeichnen können
    wird. Die Neigung zum Vergessen des Unangenehmen scheint
    mir ganz allgemein zu sein; die Fähigkeit dazu ist wohl bei den
    verschiedenen Personen verschieden gut ausgebildet. Manches
    Ableugnen, das uns in der ärztlichen Tätigkeit begegnet, ist.
    wahrscheinlich auf Vergessen zurückzuführen. Unsere Auf-
     

    1) Wenn man sich bei einem Menschen erkundigt, ob er vor zehn oder fünfzehn
    Jahren eine luetische Infektion durchgemacht hat, vergißt man zu leicht daran, daß
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    161
     

    fassung eines solchen Vergessens beschränkt den Unterschied
    zwischen dem und jenem Benehmen allerdings auf rein psycho-
    logische Verhältnisse und gestattet uns, in beiden Reaktionsweisen
    den Ausdruck desselben Motivs zu sehen. Von all den zahlreichen
    Beispielen der Verleugnung unangenehmer Erinnerungen, die
    ich bei Angehörigen von Kranken gesehen habe, ist mir eines
    als besonders seltsam im Gedächtnis geblieben. Eine Mutter
    informierte mich über die Kinderjahre ihres nervösen, in der
    Pubertät befindlichen Sohnes und erzählte dabei, daß er wie seine
    Geschwister bis in späte Jahre an Bettnässen gelitten habe, was ja
    für eine neurotische Krankengeschichte nicht bedeutungslos ist.
    Einige Wochen später, als sie sich Auskunft über den Stand der
    Behandlung holen wollte, hatte ich Anlaß, sie auf die Zeichen
     

    der Befragte diesen Krankheitszufall psychisch ganz anders behandelt hat als etwa
    einen akuten Rheumatismus. In den Anamnesen, welche Eltern über ihre neurotisch
    erkrankten Töchter geben, ist der Anteil des Vergessens von dem des Verbergens
    kaum je mit Sicherheit zu sondern, weil alles, was der späteren Verheiratung des
    Mädchens im Wege steht, von den Eltern systematisch beseitigt, d. h. verdrängt
    wird. Ein Mann, der vor kurzem seine geliebte Frau an einer Lungenaffektion
    verloren, teilt mir nachstehenden Fall von Irreführung der ärztlichen Erkundigung
    mit, der nur auf solches Vergessen zurückführbar ist: "Als die Pleuritis meiner armen
    Frau nach vielen Wochen noch nicht weichen wollte, wurde Dr. P. als Konsiliarius
    berufen. Bei der Aufnahme der Anamnese stellte er die üblichen Fragen, u. a. auch,
    ob in der Familie meiner Frau etwa Lungenkrankheiten vorgekommen seien. Meine
    Frau verneinte und auch ich erinnerte mich nicht. Bei der Verabschiedung des Dr. P.
    kommt das Gespräch wie zufällig auf Ausflüge, und meine Frau sagt: Ja, auch bis
    Langersdorf, wo mein armer Bruder begraben liegt, ist eine weite Reise.
    Dieser Bruder war vor etwa fünfzehn Jahren nach mehrjährigem tuberkulösem Leiden
    gestorben. Meine Frau hatte ihn sehr geliebt und mir oft von ihm gesprochen. Ja, est
    fiel mir ein, daß sie seinerzeit, als die Pleuritis festgestellt wurde, sehr besorgt war
    und trübsinnig meinte: Auch mein Bruder ist an der Lunge gestorben.
    Nun aber war die Erinnerung daran so sehr verdrängt, daß sie auch nach dem vorhin
    angeführten Ausspruch über den Ausflug nach L. keine Veranlassung fand, ihre Aus-
    kunft über Erkrankungen in ihrer Familie zu korrigieren. Mir selbst fiel das Ver-
    gessen in demselben Moment wieder ein, wo sie von Langersdorf sprach." Ein
    völlig analoges Erlebnis erzählt E. Jones in der hier bereits mehrmals erwähnten
    Arbeit. Ein Arzt, dessen Frau an einer diagnostisch unklaren Unterleibserkrankung
    litt, bemerkte zu ihr wie tröstend: „Es ist doch gut, daß in deiner Familie kein
    Fall von Tuberkulose vorgekommen ist." Die Frau antwortete aufs äußerste über-
    rascht: Hast du denn vergessen, daß meine Mutter an Tuberkulose gestorben ist
    und daß meine Schwester von ihrer Tuberkulose nicht eher hergestellt wurde, als
    bis die Ärzte sie aufgegeben hatten?"
     

    Freud, IV.
     

    11
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    162
     

    konstitutioneller Krankheitsveranlagung bei dem jungen Manne
    aufmerksam zu machen, und berief mich hiebei auf das ana-
    mnestisch erhobene Bettnässen. Zu meinem Erstaunen bestritt sie
    die Tatsache sowohl für dies als auch für die anderen Kinder,
    fragte mich, woher ich das wissen könne, und hörte endlich von
    mir, daß sie selbst es mir vor kurzer Zeit erzählt habe, was also
    von ihr vergessen worden war'.
     

    Man findet also auch bei gesunden, nicht neurotischen
    Menschen reichlich Anzeichen dafür, daß sich der Erinnerung
    an peinliche Eindrücke, der Vorstellung peinlicher Gedanken, ein
    Widerstand entgegensetzt. Die volle Bedeutung dieser Tatsache
     

    1) In den Tagen, während ich mit der Niederschrift dieser Seiten beschäftigt
    war, ist mir folgender, fast unglaublicher Fall von Vergessen widerfahren: Ich
    revidiere am 1. Jänner mein ärztliches Buch, um meine Honorarrechnungen aus-
    senden zu können, stoße dabei im Juni auf den Namen M...1 und kann mich an
    eine zu ihm gehörige Person nicht erinnern. Mein Befremden wächst, indem ich
    beim Weiterblättern bemerke, daß ich den Fall in einem Sanatorium behandelt, und
    daß ich ihn durch Wochen täglich besucht habe. Einen Kranken, mit dem man sich
    unter solchen Bedingungen beschäftigt, vergißt man als Arzt nicht nach kaum sechs
    Monaten. Sollte es ein Mann, ein Paralytiker, ein Fall ohne Interesse gewesen sein,
    frage ich mich? Endlich bei dem Vermerk über das empfangene Honorar kommt
    mir all die Kenntnis wieder, die sich der Erinnerung entziehen wollte. M... war
    ein vierzehnjähriges Mädchen gewesen, der merkwürdigste Fall meiner letzten Jahre,
    welcher mir eine Lehre hinterlassen, die ich kaum je vergessen werde, und dessen
    Ausgang mir die peinlichsten Stunden bereitet hat. Das Kind erkrankte an unzwei-
    deutiger Hysterie, die sich auch unter meinen Händen rasch und gründlich besserte.
    Nach dieser Besserung wurde mir das Kind von den Eltern entzogen; es klagte
    noch über abdominale Schmerzen, denen die Hauptrolle im Symptombild der Hysterie
    zugefallen war. Zwei Monate später war es an Sarkom der Unterleibsdrüsen
    gestorben. Die Hysterie, zu der das Kind nebstbei prädisponiert war, hatte die
    Tumorbildung zur provozierenden Ursache genommen und ich hatte, von den
    lärmenden, aber harmlosen Erscheinungen der Hysterie gefesselt, vielleicht die ersten
    Anzeichen der schleichenden und unheilvollen Erkrankung übersehen.
     

    2) A. Pick hat kürzlich (Zur Psychologie des Vergessens bei Geistes- und
    Nervenkranken, Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik von H. Groß)
    eine Reihe von Autoren zusammengestellt, die den Einfluß affektiver Faktoren auf
    das Gedächtnis würdigen und mehr oder minder deutlich den Beitrag aner-
    kennen, den das Abwehrbestreben gegen Unlust zum Vergessen leistet. Keiner von
    uns allen hat aber das Phänomen und seine psychologische Begründung so
    erschöpfend und zugleich so eindrucksvoll darstellen können wie Nietzsche in
    einem seiner Aphorismen (Jenseits von Gut und Böse, II. Hauptstück, 68): „Das
    habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan
    haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt
    das Gedächtnis nach."
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    163
     

    läßt sich aber erst ermessen, wenn man in die Psychologie
    neurotischer Personen eingeht. Man ist genötigt, ein solches
    elementares Abwehrbestreben gegen Vorstellungen,
    welche Unlustempfindungen erwecken können, ein Bestreben, das
    sich nur dem Fluchtreflex bei Schmerzreizen an die Seite stellen
    läßt, zu einem der Hauptpfeiler des Mechanismus zu machen,
    welcher die hysterischen Symptome trägt. Man möge gegen die
    Annahme einer solchen Abwehrtendenz nicht einwenden, daß wir
    es im Gegenteil häufig genug unmöglich finden, peinliche
    Erinnerungen, die uns verfolgen, los zu werden und peinliche
    Affektregungen wie Reue, Gewissensvorwürfe zu verscheuchen.
    Es wird ja nicht behauptet, daß diese Abwehrtendenz sich überall
    durchzusetzen vermag, daß sie nicht im Spiele der psychischen
    Kräfte auf Faktoren stoßen kann, welche zu anderen Zwecken
    das Entgegengesetzte anstreben und ihr zum Trotze zustande
    bringen. Als das architektonische Prinzip des
    seelischen Apparates läßt sich die Schichtung, der
    Aufbau aus einander überlagernden Instanzen
    erraten, und es ist sehr wohl möglich, daß dies Abwehr-
    bestreben einer niedrigen psychischen Instanz angehört, von
    höheren Instanzen aber gehemmt wird. Es spricht jedenfalls für
    die Existenz und Mächtigkeit dieser Tendenz zur Abwehr, wenn
    wir Vorgänge wie die in unseren Beispielen von Vergessen auf
    sie zurückführen können. Wir sehen, daß manches um seiner
    selbst willen vergessen wird; wo dies nicht möglich ist,
    verschiebt die Abwehrtendenz ihr Ziel und bringt wenigstens
    etwas anderes, minder Bedeutsames, zum Vergessen, was
    in assoziative Verknüpfung mit dem eigentlich Anstößigen
     

    geraten ist.
     

    Der hier entwickelte Gesichtspunkt, daß peinliche Erinnerungen
    mit besonderer Leichtigkeit dem motivierten Vergessen verfallen,
    verdiente auf mehrere Gebiete bezogen zu werden, in denen er
    heute noch keine oder eine zu geringe Beachtung gefunden hat.
     

    11"
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    164
     

    So erscheint er mir noch immer nicht genügend scharf betont
    bei der Würdigung von Zeugenaussagen vor Gericht', wobei
    man offenbar der Beeidung des Zeugen einen allzu großen
    purifizierenden Einfluß auf dessen psychisches Kräftespiel zutraut.
    Daß man bei der Entstehung der Traditionen und der Sagen-
    geschichte eines Volkes einem solchen Motiv, das dem National-
    gefühl Peinliche aus der Erinnerung auszumerzen, Rechnung
    tragen muß, wird allgemein zugestanden. Vielleicht würde sich
    bei genauerer Verfolgung eine vollständige Analogie herausstellen
    zwischen der Art, wie Völkertraditionen und wie die Kindheits-
    erinnerungen des einzelnen Individuums gebildet werden. Der
    große Darwin hat aus seiner Einsicht in dies Unlustmotiv
    des Vergessens eine „goldene Regel" für den wissenschaftlichen
    Arbeiter gezogen².
     

    2
     

    Ganz ähnlich wie beim Namenvergessen kann auch beim Ver-
    gessen von Eindrücken Fehlerinnern eintreten, das dort, wo es
    Glauben findet, als Erinnerungstäuschung bezeichnet wird. Die
    Erinnerungstäuschung in pathologischen Fällen in der Paranoial
    spielt sie geradezu die Rolle eines konstituierenden Moments bei
    der Wahnbildung hat eine ausgedehnte Literatur wachgerufen,
    in welcher ich durchgängig den Hinweis auf eine Motivierung
    derselben vermisse. Da auch dieses Thema der Neurosenpsychologie
     

    1) Vgl. Hans Groß, Kriminalpsychologie, 1898.
     

    2) Ernest Jones verweist auf folgende Stelle in der Autobiographie Darwins,
    welche seine wissenschaftliche Ehrlichkeit und seinen psychologischen Scharfsinn
    überzeugend widerspiegelt:
     

    „I had, during many years, followed a golden rule, namely, that whenever a published
    fact, a new observation or thought came across me, which was opposed to my general results,
    to make a memorandum of it whithout fail and at once; for I had found by experience
    that such facts and thoughts were far more apt to escape from the memory than favourable
    ones." Viele Jahre hindurch befolgte ich eine goldene Regel. Fand ich nämlich
    eine veröffentlichte Tatsache, eine neue Beobachtung oder einen Gedanken, welcher
    einem meiner allgemeinen Ergebnisse widersprach, so notierte ich denselben sofort
    möglichst wortgetreu. Denn die Erfahrung hatte mich gelehrt, daß solche Tat-
    sachen und Erfahrungen dem Gedächtnisse leichter entschwinden als die uns
    genehmen."
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    165
     

    angehört, entzieht es sich in unserem Zusammenhange der
    Behandlung. Ich werde dafür ein sonderbares Beispiel einer
    eigenen Erinnerungstäuschung mitteilen, bei dem die
    vierung durch unbewußtes verdrängtes Material und die Art
    und Weise der Verknüpfung mit demselben deutlich genug
    kenntlich werden.
     

    Moti-
     

    Als ich die späteren Abschnitte meines Buches über Traum-
    deutung schrieb, befand ich mich in einer Sommerfrische ohne
    Zugang zu Bibliotheken und Nachschlagebüchern und war genötigt,
    mit Vorbehalt späterer Korrektur, allerlei Beziehungen und Zitate
    aus dem Gedächtnis in das Manuskript einzutragen. Beim Abschnitt
    über das Tagträumen fiel mir die ausgezeichnete Figur des armen
    Buchhalters im „Nabab" von Alph. Daudet ein, mit welcher
    der Dichter wahrscheinlich seine eigene Träumerei geschildert
    hat. Ich glaubte mich an eine der Phantasien, die dieser Mann
    Mr. Jocelyn nannte ich ihn auf seinen Spaziergängen
    durch die Straßen von Paris ausbrütet, deutlich zu erinnern und
    begann sie aus dem Gedächtnis zu reproduzieren. Wie also Herr
    Jocelyn auf der Straße sich kühn einem durchgehenden Pferde
    entgegenwirft, es zum Stehen bringt, der Wagenschlag sich
    öffnet, eine hohe Persönlichkeit dem Coupé entsteigt, Herrn
    Jocelyn die Hand drückt und ihm sagt: „Sie sind mein
    Retter, Ihnen verdanke ich mein Leben. Was kann ich für
    Sie tun?"
     

    Etwaige Ungenauigkeiten in der Wiedergabe dieser Phantasie,
    tröstete ich mich, würden sich leicht zu Hause verbessern lassen,
    wenn ich das Buch zur Hand nähme. Als ich dann aber den.
    ,,Nabab" durchblätterte, um die druckbereite Stelle meines
    Manuskripts zu vergleichen, fand ich zu meiner größten Beschämung
    und Bestürzung nichts von einer solchen Träumerei des Herrn
    Jocelyn darin, ja der arme Buchhalter trug gar nicht diesen
    Namen, sondern hieß Mr. Joyeuse. Dieser zweite Irrtum gab
    dann bald den Schlüssel zur Klärung des ersten, der Erinnerungs-
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    166
     

    täuschung. Joyeux (wovon der Name die feminine Form dar-
    stellt): so und nicht anders müßte ich meinen eigenen Namen:
    Freud ins Französische übersetzen. Woher konnte also die
    fälschlich erinnerte Phantasie sein, die ich Daudet zugeschrieben
    hatte? Sie konnte nur ein eigenes Produkt sein, ein Tagtraum,
    den ich selbst gemacht und der mir nicht bewußt geworden,
    oder der mir einst bewußt gewesen, und den ich seither
    gründlich vergessen habe. Vielleicht daß ich ihn selbst in Paris.
    gemacht, wo ich oft genug einsam und voll Sehnsucht durch
    die Straßen spaziert bin, eines Helfers und Protektors sehr
    bedürftig, bis Meister Charcot mich dann in seinen Verkehr
    zog. Den Dichter des „Nabab" habe ich dann wiederholt im
    Hause Charcots gesehen'.
     

    Ein anderer Fall von Erinnerungstäuschung, der sich
    befriedigend aufklären ließ, mahnt an die später zu besprechende
    fausse réconnaissance: Ich hatte einem meiner Patienten, einem
    ehrgeizigen und befähigten Manne, erzählt, daß ein junger Student
    sich kürzlich durch eine interessante Arbeit „Der Künstler, Ver-
     

    1) Vor einiger Zeit wurde mir aus dem Kreise meiner Leser ein Bändchen der
    Jugendbibliothek von Fr. Hoffmann zugeschickt, in dem eine solche Rettungs-
    szene, wie ich sie in Paris phantasiert, ausführlich erzählt wird. Die Übereinstimmung
    erstreckt sich bis auf einzelne, nicht ganz gewöhnliche Ausdrücke, die hier wie dort
    vorkommen. Die Vermutung, daß ich in frühen Knabenjahren diese Jugendschrift
    wirklich gelesen habe, läßt sich nicht gut abweisen. Die Schülerbibliothek unseres
    Gymnasiums enthielt die Hoffmannsche Sammlung und war immer bereit, sie den
    Schülern an Stelle jeder anderen geistigen Nahrung anzubieten. Die Phantasie, die
    ich mit 45 Jahren als die Produktion eines anderen zu erinnern glaubte und dann
    als eigene Leistung aus dem 29. Lebensjahr erkennen mußte, mag also leicht die
    getreue Reproduktion eines im Alter zwischen 11 und 15 aufgenommenen Eindrucks
    gewesen sein. Die Rettungsphantasie, die ich dem stellenlosen Buchhalter im,,Nabab"
    angedichtet, soll ja nur der Phantasie der eigenen Rettung den Weg bahnen, die
    Sehnsucht nach einen Gönner und Beschützer dem Stolz erträglich machen. Es wird
    dann keinem Seelenkenner befremdlich sein zu hören, daß ich selbst in meinem
    bewußten Leben der Vorstellung, von der Gunst eines Protektors abhängig zu sein,
    das größte Widerstreben entgegengebracht und die wenigen realen Situationen, in
    denen sich etwas ähnliches ereignete, schlecht vertragen habe. Die tiefere Bedeutung
    der Phantasien mit solchem Inhalt und eine nahezu erschöpfende Erklärung ihrer
    Eigentümlichkeiten hat Abraham in einer Arbeit, „Vaterrettung und Vatermord
    in den neurotischen Phantasiegebilden", 1922 (Internationale Zeitschrift für Psycho-
    analyse, VIII) zutage gefördert.
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    167
     

    such einer Sexualpsychologie" in den Kreis meiner Schüler ein-
    geführt habe. Als diese Schrift eineinviertel Jahr später gedruckt
    vorlag, behauptete mein Patient, sich mit Sicherheit daran erinnern
    zu können, daß er die Ankündigung derselben bereits vor meiner
    ersten Mitteilung (einen Monat oder ein halbes Jahr vorher)
    irgendwo, etwa in einer Buchhändleranzeige, gelesen habe. Es sei
    ihm diese Notiz auch damals gleich in den Sinn gekommen und
    er konstatierte überdies, daß der Autor den Titel verändert habe,
    da es nicht mehr „Versuch", sondern ,,Ansätze zu einer Sexual-
    psychologie" heiße. Sorgfältige Erkundigung beim Autor und
    Vergleichung aller Zeitangaben zeigten indes, daß mein Patient
    etwas Unmögliches erinnern. wollte. Von jener Schrift war
    nirgends eine Anzeige vor dem Drucke erschienen, am wenigsten
    aber eineinviertel Jahr vor ihrer Drucklegung. Als ich eine
    Deutung dieser Erinnerungstäuschung unterließ, brachte derselbe
    Mann eine gleichwertige Erneuerung derselben zustande. Er meinte,
    vor kurzem eine Schrift über "Agoraphobie" in dem Auslage-
    fenster einer Buchhandlung bemerkt zu haben, und suchte derselben
    nun durch Nachforschung in allen Verlagskatalogen habhaft zu
    werden. Ich konnte ihn dann aufklären, warum diese Bemühung
    erfolglos bleiben mußte. Die Schrift über Agoraphobie bestand
     

    erst in seiner Phantasie als unbewußter Vorsatz und sollte von
    ihm selbst abgefaßt werden. Sein Ehrgeiz, es jenem jungen Manne
    gleichzutun und durch eine solche wissenschaftliche Arbeit zum
    Schüler zu werden, hatte ihn zu jener ersten wie zur wieder-
    holten Erinnerungstäuschung geführt. Er besann sich dann auch,
    daß die Buchhändleranzeige, welche ihm zu diesem falschen
    Erkennen gedient hatte, sich auf ein Werk, betitelt: „Genesis,
    das Gesetz der Zeugung“, bezog. Die von ihm erwähnte
    Abänderung des Titels kam aber auf meine Rechnung, denn
    ich wußte mich selbst zu erinnern, daß ich diese Ungenauigkeit
    in der Wiedergabe des Titels, "Versuch" anstatt "Ansätze"
    begangen hatte.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    168
     

    B) DAS VERGESSEN VON VORSÄTZEN
     

    Keine andere Gruppe von Phänomenen eignet sich besser zum
    Beweis der These, daß die Geringfügigkeit der Aufmerksamkeit
    für sich allein nicht hinreiche, die Fehlleistung zu erklären, als
    die des Vergessens von Vorsätzen. Ein Vorsatz ist ein Impuls zur
    Handlung, der bereits Billigung gefunden hat, dessen Ausführung
    aber auf einen geeigneten Zeitpunkt verschoben wurde. Nun kann.
    in dem so geschaffenen Intervall allerdings eine derartige Ver-
    änderung in den Motiven eintreten, daß der Vorsatz nicht zur
    Ausführung gelangt, aber dann wird er nicht vergessen, sondern
    revidiert und aufgehoben. Das Vergessen von Vorsätzen, dem wir
    alltäglich und in allen möglichen Situationen unterliegen, pflegen
    wir uns nicht durch eine Neuerung in der Motivengleichung zu
    erklären, sondern lassen es gemeinhin unerklärt, oder wir suchen
    eine psychologische Erklärung in der Annahme, gegen die Zeit
    der Ausführung hin habe sich die erforderliche Aufmerksamkeit.
    für die Handlung nicht mehr bereit gefunden, die doch für das
    Zustandekommen des Vorsatzes unerläßliche Bedingung war, damals
    also für die nämliche Handlung zur Verfügung stand. Die
    Beobachtung unseres normalen Verhaltens gegen Vorsätze läßt.
    uns diesen Erklärungsversuch als willkürlich abweisen. Wenn ich
    des Morgens einen Vorsatz fasse, der abends ausgeführt werden
    soll, so kann ich im Laufe des Tages einigemal an ihn gemahnt
    werden. Er braucht aber tagsüber überhaupt nicht mehr bewußt
    zu werden. Wenn sich die Zeit der Ausführung nähert, fällt er
    mir plötzlich ein und veranlaßt mich, die zur vorgesetzten
    Handlung nötigen Vorbereitungen zu treffen. Wenn ich auf einen
    Spaziergang einen Brief mitnehme, welcher noch befördert werden
    soll, so brauche ich ihn als normales und nicht nervöses Individuum
    keineswegs die ganze Strecke über in der Hand zu tragen und
    unterdessen nach einem Briefkasten auszuspähen, in den ich ihn
    werfe, sondern ich pflege ihn in die Tasche zu stecken, meiner
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    169
     

    Wege zu gehen, meine Gedanken frei schweifen zu lassen, und
    ich rechne darauf, daß einer der nächsten Briefkasten meine
    Aufmerksamkeit erregen und mich veranlassen wird, in die
    Tasche zu greifen und den Brief hervorzuziehen. Das normale
    Verhalten beim gefaßten Vorsatz deckt sich vollkommen mit dem
    experimentell zu erzeugenden Benehmen von Personen, denen
    man eine sogenannte „posthypnotische Suggestion auf lange Sicht"
    in der Hypnose eingegeben hat. Man ist gewöhnt, das Phänomen
    in folgender Art zu beschreiben: Der suggerierte Vorsatz schlummert
    in den betreffenden Personen, bis die Zeit seiner Ausführung
    herannaht. Dann wacht er auf und treibt zur Handlung.
     

    In zweierlei Lebenslagen gibt sich auch der Laie Rechenschaft
    davon, daß das Vergessen in bezug auf Vorsätze keineswegs den
    Anspruch erheben darf, als ein nicht weiter zurückführbares
    Elementarphänomen zu gelten, sondern zum Schluß auf unein-
    gestandene Motive berechtigt. Ich meine: im Liebesverhältnis und
    in der Militärabhängigkeit. Ein Liebhaber, der das Rendezvous
    versäumt hat, wird sich vergeblich bei seiner Dame entschuldigen,
    er habe leider ganz vergessen. Sie wird nicht versäumen, ihm
    zu antworten:,,Vor einem Jahre hättest du es nicht vergessen.
    Es liegt dir eben nichts mehr an mir." Selbst wenn er nach
    der oben erwähnten psychologischen Erklärung griffe und sein
    Vergessen durch gehäufte Geschäfte entschuldigen wollte, würde
    er nur erreichen, daß die Dame so scharfsichtig geworden
    wie der Arzt in der Psychoanalyse zur Antwort gäbe: "Wie
    merkwürdig, daß sich solche geschäftliche Störungen früher nicht
    ereignet haben." Gewiß will auch die Dame die Möglichkeit des
    Vergessens nicht in Abrede stellen; sie meint nur, und nicht mit
    Unrecht, aus dem unabsichtlichen Vergessen sei ungefähr der
    nämliche Schluß auf ein gewisses Nichtwollen zu ziehen wie
    aus der bewußten Ausflucht.
     

    1) Vgl. Bernheim, Neue Studien über Hypnotismus, Suggestion und Psycho-
    therapie, 1892.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    170
     

    Ähnlich wird im militärischen Dienstverhältnis der Unterschied
    zwischen der Unterlassung durch Vergessen und der infolge von
    Absicht prinzipiell, und zwar mit Recht, vernachlässigt. Der
    Soldat darf nichts vergessen, was der militärische Dienst von
    ihm fordert. Wenn er es doch vergißt, obwohl ihm die Forderung
    bekannt ist, so geht dies so zu, daß sich den Motiven, die auf
    Erfüllung der militärischen Forderung dringen, andere Gegen-
    motive entgegenstellen. Der Einjährige etwa, der sich beim
    Rapport entschuldigen wollte, er habe vergessen, seine Knöpfe
    blank zu putzen, ist der Strafe sicher. Aber diese Strafe ist
    geringfügig zu nennen im Vergleich zu jener, der er sich aus-
    setzte, wenn er das Motiv seiner Unterlassung sich und seinen
    Vorgesetzten eingestehen würde: „Der elende Gamaschendienst
    ist mir ganz zuwider." Wegen dieser Strafersparnis, aus ökonomischen
    Gründen gleichsam, bedient er sich des Vergessens als Ausrede,
    oder es kommt als Kompromiß zustande.
     

    Frauendienst wie Militärdienst erheben den Anspruch, daß
    alles zu ihnen gehörige dem Vergessen entrückt sein müsse, und
    erwecken so die Meinung, Vergessen sei zulässig bei unwichtigen
    Dingen, während es bei wichtigen Dingen ein Anzeichen davon
    sei, daß man sie wie unwichtige behandeln wolle, ihnen also die
    Wichtigkeit abspreche'. Der Gesichtspunkt der psychischen Wert-
    schätzung ist hier in der Tat nicht abzuweisen. Kein Mensch
    vergiẞt Handlungen auszuführen, die ihm selbst wichtig erscheinen,
    ohne sich dem Verdachte geistiger Störung auszusetzen. Unsere
    Untersuchung kann sich also nur auf das Vergessen von mehr
    oder minder nebensächlichen Vorsätzen erstrecken; für ganz und
     

    3) In dem Schauspiel „Cäsar und Kleopatra von B. Shaw quält sich der von
    Ägypten scheidende Cäsar eine Weile mit der Idee, er habe noch etwas vorgehabt,
    was er jetzt vergessen. Endlich stellt sich heraus, was Cäsar vergessen hatte: von
    Kleopatra Abschied zu nehmen! Durch diesen kleinen Zug soll veranschaulicht
    werden übrigens im vollen Gegensatz zur historischen Wahrheit wie wenig
    sich Cäsar aus der kleinen ägyptischen Prinzessin gemacht hatte. (Nach E. Jones,
    1. c., S. 488.)
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    171
     

    gar gleichgültig werden wir keinen Vorsatz erachten, denn in
    diesem Falle wäre er wohl gewiß nicht gefaßt worden.
     

    Ich habe nun wie bei den früheren Funktionsstörungen die
    bei mir selbst beobachteten Fälle von Unterlassung durch Ver-
    gessen gesammelt und aufzuklären gesucht und hiebei ganz
    allgemein gefunden, daß sie auf Einmengung unbekannter und
    uneingestandener Motive. oder, wie man sagen kann, auf einen
    Gegenwillen zurückzuführen waren. In einer Reihe
    dieser Fälle befand ich mich in einer dem Dienstverhältnisse
    ähnlichen Lage, unter einem Zwange, gegen welchen ich es
    nicht ganz aufgegeben hatte, mich zu sträuben, so daß ich durch
    Vergessen gegen ihn demonstrierte. Dazu gehört, daß ich besonders
    leicht vergesse, zu Geburtstagen, Jubiläen, Hochzeitsfeiern und
    Standeserhöhungen zu gratulieren. Ich nehme es mir immer
    wieder vor und überzeuge mich immer mehr, daß es mir nicht
    gelingen will. Ich bin jetzt im Begriffe, darauf zu verzichten, und
    den Motiven, die sich sträuben, mit Bewußtsein recht zu geben.
    In einem Übergangsstadium habe ich einen Freund, der mich
    bat, auch für ihn ein Glückwunschtelegramm zum bestimmten
    Termin zu besorgen, vorher gesagt, ich würde an beide vergessen,
    und es war nicht zu verwundern, daß die Prophezeiung wahr
    wurde. Es hängt nämlich mit schmerzlichen Lebenserfahrungen
    zusammen, daß ich nicht imstande bin, Anteilnahme zu äußern,
    wo diese Äußerung notwendigerweise übertrieben ausfallen muß,
    da für den geringen Betrag meiner Ergriffenheit der entsprechende
    Ausdruck nicht zulässig ist. Seitdem ich erkannt, daß ich oft
    vorgebliche Sympathie bei anderen für echte genommen habe,
    befinde ich mich in einer Auflehnung gegen diese Konventionen
    der Mitgefühlsbezeigung, deren soziale Nützlichkeit ich andererseits
    einsehe. Kondolenzen bei Todesfällen sind. von dieser zwie-
    spältigen Behandlung ausgenommen; wenn ich mich zu ihnen.
    entschlossen habe, versäume ich sie auch nicht. Wo meine
    Gefühlsbetätigung mit gesellschaftlicher Pflicht nichts mehr zu
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    172
     

    tun hat, da findet sie ihren Ausdruck auch niemals durch Ver-
    gessen gehemmt.
     

    Von einem solchen Vergessen, in dem der zunächst unter-
    drückte Vorsatz als „, Gegenwille" durchbrach und eine unerquickliche
    Situation zur Folge hatte, berichtet Oberleutnant T. aus der Kriegs-
    gefangenschaft: „Der Rangälteste eines Lagers kriegsgefangener
    Offiziere wird von einem seiner Kameraden beleidigt. Er will, um
    Weiterungen zu entgehen, von dem einzigen ihm zur Verfügung
    stehenden Gewaltmittel Gebrauch machen und letzteren entfernen
    und in ein anderes Lager versetzen lassen. Erst über Anraten
    mehrerer Freunde entschließt er sich, gegen seinen geheimen
    Wunsch, hievon Abstand zu nehmen und den Ehrenweg, der
    aber vielerlei Unannehmlichkeiten im Gefolge haben mußte, gleich
    zu beschreiten. Am nämlichen Vormittag hat dieser Kommandant
    die Liste der Offiziere unter Kontrolle eines Wachorganes vorzu-
    lesen. Fehler waren ihm, der seine Gefährten schon durch längere
    Zeit kannte, darin bisher nicht unterlaufen. Heute überliest er
    den Namen seines Beleidigers, so daß dieser, als alle Kameraden
    bereits abgetreten waren, allein am Platze zurückbleiben muß,
    bis sich der Irrtum geklärt hat. Der übersehene Name stand in
    voller Deutlichkeit in der Mitte eines Blattes. Dieser Vorfall
    wurde von der einen Seite als beabsichtigte Kränkung ausgelegt;
    von der anderen als peinlicher und zur Fehldeutung geeigneter
    Zufall angesehen. Doch gewann der Urheber späterhin, nach
    Kenntnisnahme von Freuds,Psychopathologie ein richtiges Urteil
    des Stattgefundenen."
     

    Ähnlich erklären sich durch den Widerstreit einer konven-
    tionellen Pflicht und einer nicht eingestandenen inneren Schätzung
    die Fälle, in denen man Handlungen auszuführen vergißt, die
    man einem anderen zu seinen Gunsten auszuführen versprochen
    hat. Hier trifft es dann regelmäßig zu, daß nur der Gönner an die
    entschuldigende Kraft des Vergessens glaubt, während der Bitt-
    steller sich ohne Zweifel die richtige Antwort gibt: Er hat kein
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    173
     

    Interesse daran, sonst hätte er es nicht vergessen. Es gibt Menschen,
    die man als allgemein vergeßlich bezeichnet und darum in
    ähnlicher Weise als entschuldigt gelten läßt wie etwa den Kurz-
    sichtigen, wenn er auf der Straße nicht grüßt. Diese Personen
    vergessen alle kleinen Versprechungen, die sie gegeben, lassen alle
    Aufträge unausgeführt, die sie empfangen haben, erweisen sich
    also in kleinen Dingen als unverläßlich und erheben dabei die
    Forderung, daß man ihnen diese kleineren Verstöße nicht übel-
    nehmen, d. h. nicht durch ihren Charakter erklären, sondern auf
    organische Eigentümlichkeit zurückführen solle. Ich gehöre selbst.
    nicht zu diesen Leuten und habe keine Gelegenheit gehabt, die
    Handlungen einer solchen Person zu analysieren, um durch die
    Auswahl des Vergessens die Motivierung desselben aufzudecken.
    Ich kann mich aber der Vermutung per analogiam nicht erwehren,
    daß hier ein ungewöhnlich großes Maß von nicht eingestandener
    Geringschätzung des anderen das Motiv ist, welches das kon-
    stitutionelle Moment für seine Zwecke ausbeutet³.
     

    1) Frauen sind mit ihrem feineren Verständnis für unbewußte seelische Vorgänge
    in der Regel eher geneigt, es als Beleidigung anzusehen, wenn man sie auf der
    Straße nicht erkennt, also nicht grüßt, als an die nächstliegenden Erklärungen zu
    denken, daß der Säumige kurzsichtig sei oder in Gedanken versunken sie nicht
    bemerkt habe. Sie schließen, man hätte sie schon bemerkt, wenn man sich etwas
    aus ihnen machen würde".
     

    2) S. Ferenczi berichtet von sich, daß er selbst ein „Zerstreuter" gewesen ist
    und seinen Bekannten durch die Häufigkeit und Sonderbarkeit seiner Fehlhandlungen
    auffällig war. Die Zeichen dieser Zerstreutheit" sind aber fast völlig geschwunden,
    seitdem er die psychoanalytische Behandlung von Kranken zu üben begann und sich
    genötigt sah, auch der Analyse seines eigenen Ichs Aufmerksamkeit zuzuwenden. Man
    verzichtet, meint er, auf die Fehlhandlungen, wenn man seine eigene Verantwort-
    lichkeit um so vieles auszudehnen lernt. Er hält daher mit Recht die Zerstreutheit
    für einen Zustand, der von unbewußten Komplexen abhängig und durch die Psycho-
    analyse heilbar ist. Eines Tages aber stand er unter dem Selbstvorwurfe, bei einem
    Patienten einen Kunstfehler in der Psychoanalyse begangen zu haben. An diesem
    Tage stellten sich alle seine früheren "Zerstreutheiten" wieder ein. Er stolperte
    mehrmals im Gehen auf der Straße (Darstellung jenes faux pas in der Behandlung),
    vergaß seine Brieftasche zu Hause, wollte auf der Trambahn einen Kreuzer weniger
    zahlen, hatte seine Kleidungsstücke nicht ordentlich zugeknöpft u. dgl.
     

    3) E. Jones bemerkt hiezu: Often the resistance is of a general order. Thus a busy
    man forgets to post letters entrusted to him to his slight annoyance by his wife, just
    as he may "forget" to carry out her shopping orders.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    174
     

    Bei anderen Fällen sind die Motive des Vergessens weniger
    leicht aufzufinden und erregen, wenn gefunden, ein größeres
    Befremden. So merkte ich in früheren Jahren, daß ich bei einer
    größeren Anzahl von Krankenbesuchen nie einen anderen Be-
    such vergesse als den bei einem Gratispatienten oder bei einem
    Kollegen. Aus Beschämung hierüber hatte ich mir angewöhnt,
    die Besuche des Tages schon am Morgen als Vorsatz zu notieren.
    Ich weiß nicht, ob andere Ärzte auf dem nämlichen Wege zu
    der gleichen Übung gekommen sind. Aber man gewinnt so eine
    Ahnung davon, was den sogenannten Neurastheniker veranlaßt,
    die Mitteilungen, die er dem Arzt machen will, auf dem
    berüchtigten „Zettel" zu notieren. Angeblich fehlt es ihm an
    Zutrauen zur Reproduktionsleistung seines Gedächtnisses. Das ist
    gewiß richtig, aber die Szene geht zumeist so vor sich: Der
    Kranke hat seine verschiedenen Beschwerden und Anfragen höchst
    langatmig vorgebracht. Nachdem er fertig geworden ist, macht
    er einen Moment Pause, darauf zieht er den Zettel hervor und
    sagt entschuldigend: Ich habe mir etwas aufgeschrieben, weil ich
    mir so gar nichts merke. In der Regel findet er auf dem Zettel
    nichts Neues. Er wiederholt jeden Punkt und beantwortet ihn
    selbst: Ja, danach habe ich schon gefragt. Er demonstriert mit
    dem Zettel wahrscheinlich nur eines seiner Symptome, die
    Häufigkeit, mit der seine Vorsätze durch Einmengung dunkler
    Motive gestört werden.
     

    Ich rühre ferner an Leiden, an welchen auch der größere Teil
    der mir bekannten Gesunden krankt, wenn ich zugestehe, daß
    ich besonders in früheren Jahren sehr leicht und für lange
    Zeit vergessen habe, entlehnte Bücher zurückzugeben, oder daß
    es mir besonders leicht begegnet ist, Zahlungen durch Vergessen
    aufzuschieben. Unlängst verließ ich eines Morgens die Tabak-
    trafik, in welcher ich meinen täglichen Zigarreneinkauf gemacht
    hatte, ohne ihn zu bezahlen. Es war eine höchst harmlose Unter-
    lassung, denn ich bin dort bekannt und konnte daher erwarten,
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    175
     

    am nächsten Tag an die Schuld gemahnt zu werden. Aber die
    kleine Versäumnis, der Versuch, Schulden zu machen, steht gewiß
    nicht außer Zusammenhang mit den Budgeterwägungen, die mich
    den Vortag über beschäftigt hatten. In Bezug auf das Thema von
    Geld und Besitz lassen sich die Spuren eines zwiespältigen Ver-
    haltens auch bei den meisten sogenannt anständigen Menschen
    leicht nachweisen. Die primitive Gier des Säuglings, der sich
    aller Objekte zu bemächtigen sucht (um sie zum Munde zu
    führen), zeigt sich vielleicht allgemein als nur unvollständig durch
    Kultur und Erziehung überwunden'.
     

    Ich fürchte, ich bin mit allen bisherigen Beispielen einfach
    banal geworden. Es kann mir aber doch nur recht sein, wenn
    ich auf Dinge stoße, die jedermann bekannt sind, und die jeder
    in der nämlichen Weise versteht, da ich bloß vorhabe, das
    Alltägliche zu sammeln und wissenschaftlich zu verwerten. Ich
    sehe nicht ein, weshalb der Weisheit, die Niederschlag der
    gemeinen Lebenserfahrung ist, die Aufnahme unter die Erwerbungen
     

    1) Der Einheit des Themas zuliebe darf ich hier die gewählte Einteilung durch-
    brechen und dem oben Gesagten anschließen, daß in bezug auf Geldsachen das
    Gedächtnis der Menschen eine besondere Parteilichkeit zeigt. Erinnerungstäuschungen,
    etwas bereits bezahlt zu haben, sind, wie ich von mir selbst weiß, oft sehr hart-
    näckig. Wo der gewinnsüchtigen Absicht abseits von den großen Interessen der
    Lebensführung und daher eigentlich zum Scherz freier Lauf gelassen wird wie beim
    Kartenspiel, neigen die ehrlichsten Männer zu Irrtümern, Erinnerungs- und Rechen-
    fehlern und finden sich selbst, ohne recht zu wissen wie, in kleine Betrügereien
    verwickelt. Auf solchen Freiheiten beruht zum Teil der psychisch erfrischende
    Charakter des Spieles. Das Sprichwort, daß man beim Spiel den Charakter des
    Menschen erkennt, ist zuzugeben, wenn man dabei nicht den manifesten Charakter
    im Auge hat.
    Wenn es unabsichtliche Rechenfehler bei Zahlkellnern noch gibt,
    so unterliegen sie offenbar derselben Beurteilung. Im Kaufmannstande kann man
    häufig eine gewisse Zögerung in der Verausgabung von Geldsummen, bei der
    Bezahlung von Rechnungen u. dgl. beobachten, die dem Eigner keinen Gewinn
    bringt, sondern nur psychologisch zu verstehen ist als eine Außerung des Gegen-
    willens, Geld von sich zu tun. Brill bemerkt hierüber mit epigrammatischer
    Schärfe: We are more apt to mislay letters containing bills than checks. Mit den
    intimsten und am wenigsten klar gewordenen Regungen hängt es zusammen, wenn
    gerade Frauen eine besondere Unlust zeigen, den Arzt zu honorieren. Sie haben
    gewöhnlich ihr Portemonnaie vergessen, können darum in der Ordination nicht
    zahlen, vergessen dann regelmäßig, das Honorar vom Hause aus zu schicken, und
    setzen es so durch, daß man sie umsonst um ihrer schönen Augen willen" -
    behandelt hat. Sie zahlen gleichsam mit ihrem Anblick.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    176
     

    der Wissenschaft versagt sein sollte. Nicht die Verschiedenheit
    der Objekte, sondern die strengere Methode bei der Feststellung
    und das Streben nach weitreichendem Zusammenhang machen
    den wesentlichen Charakter der wissenschaftlichen Arbeit aus.
    Für die Vorsätze von einigem Belang haben wir allgemein
    gefunden, daß sie dann vergessen werden, wenn sich dunkle
    Motive gegen sie erheben. Bei noch weniger wichtigen Vorsätzen
    erkennt man als zweiten Mechanismus des Vergessens, daß ein
    Gegenwille sich von wo anders her auf den Vorsatz überträgt,
    nachdem zwischen jenem anderen und dem Inhalt des Vorsatzes
    eine äußerliche Assoziation hergestellt worden ist. Hiezu gehört
    folgendes Beispiel: Ich lege Wert auf schönes Löschpapier und
    nehme mir vor, auf meinem heutigen Nachmittagsweg in die
    Innere Stadt neues. einzukaufen. Aber an vier aufeinander-
    folgenden Tagen vergesse ich es, bis ich mich befrage, welchen.
    Grund diese Unterlassung hat. Ich finde ihn dann leicht, nachdem
    ich mich besonnen habe, daß ich zwar Löschpapier" zu
    schreiben, aber Fließpapier" zu sagen gewohnt bin. „Fließ“ ist
    der Name eines Freundes in Berlin, der mir in den nämlichen
    Tagen Anlaß zu einem quälenden, besorgten Gedanken gegeben
    hatte. Diesen Gedanken kann ich nicht los werden, aber die
    Abwehrneigung (vgl. oben S. 163) äußert sich, indem sie sich
    mittels der Wortgleichheit auf den indifferenten und darum
    wenig resistenten Vorsatz überträgt.
     

    Direkter Gegenwille und entferntere Motivierung treffen in
    folgendem Falle von. Aufschub zusammen: In der Sammlung
    "Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens" hatte ich eine
    kurze Abhandlung über den Traum geschrieben, welche den
    Inhalt meiner ,,Traumdeutung" resümiert. Bergmann in
    Wiesbaden sendet. eine Korrektur und bittet um umgehende
    Erledigung, weil er das Heft noch vor Weihnachten ausgeben
    will. Ich mache die Korrektur noch in der Nacht und lege sie
    auf meinen Schreibtisch, um sie am nächsten Morgen mitzunehmen.
     

  • S.

    VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
     

    177
     

    Am Morgen vergesse ich daran, erinnere mich erst nachmittags
    beim Anblick des Kreuzbandes auf meinem Schreibtisch. Ebenso
    vergesse ich die Korrektur am Nachmittag, am Abend und am
    nächsten Morgen, bis ich mich aufraffe und am Nachmittag des zweiten
    Tages die Korrektur zu einem Briefkasten trage, verwundert, was
    der Grund dieser Verzögerung sein mag. Ich will sie offenbar nicht
    absenden, aber ich finde nicht, warum. Auf demselben Spazier-
    gang trete ich aber bei meinem Wiener Verleger, der auch das
    Traumbuch publiziert hat, ein, mache eine Bestellung und sage
    dann, wie von einem plötzlichen Einfall getrieben: „,Sie wissen
    doch, daß ich den,Traum' ein zweites Mal geschrieben habe?"
    ,,Ah, da würde ich doch bitten." „Beruhigen Sie sich,
    nur ein kurzer Aufsatz für die Löwenfeld-Kurella sche
    Sammlung." Es war ihm aber doch nicht recht; er besorgte, der
    Vortrag würde dem Absatz des Buches schaden. Ich widersprach
    und fragte endlich: „Wenn ich mich früher an Sie gewendet.
    hätte, würden Sie mir die Publikation untersagt haben?" -
    ,,Nein, das keineswegs." Ich glaube selbst, daß ich in meinem
    vollen Recht gehandelt und nichts anderes getan habe, als was
    allgemein üblich ist; doch scheint es mir gewiß, daß ein ähnliches
    Bedenken, wie es der Verleger äußerte, das Motiv meiner
    Zögerung war, die Korrektur abzusenden. Dies Bedenken geht
    auf eine frühere Gelegenheit zurück, bei welcher ein anderer
    Verleger Schwierigkeiten erhob, als ich, wie unvermeidlich, einige
    Blätter Text aus einer früheren, in anderem Verlage erschienenen
    Arbeit über zerebrale Kinderlähmung unverändert in die
    Bearbeitung desselben Themas im Handbuch von Nothnagel
    hinübernahm. Dort findet aber der Vorwurf abermals keine
    Anerkennung; ich hatte auch damals meinen ersten Verleger
    (identisch mit dem der Traumdeutung") loyal von meiner
    Absicht verständigt. Wenn aber diese Erinnerungsreihe noch
    weiter zurückgeht, so rückt sie mir einen noch früheren Anlaß
    vor, den einer Übersetzung aus dem Französischen, bei welchem
     

    Freud, IV.
     

    12
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    178
     

    ich wirklich die bei einer Publikation in Betracht kommenden
    Eigentumsrechte verletzt habe. Ich hatte dem übersetzten Text
    Anmerkungen beigefügt, ohne für diese Anmerkungen die
    Erlaubnis des Autors nachgesucht zu haben, und habe einige
    Jahre später Grund zur Annahme bekommen, daß der Autor mit
    dieser Eigenmächtigkeit unzufrieden war.
     

    Es gibt ein Sprichwort, welches die populäre Kenntnis verrät, daß
    das Vergessen von Vorsätzen nichts Zufälliges ist.,,Was man ein-
    mal zu tun vergessen hat, das vergißt man dann noch öfter."
     

    Ja, man kann sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren,
    daß alles, was man über das Vergessen und die Fehlhandlungen
    überhaupt sagen kann, den Menschen ohnedies wie etwas Selbst-
    verständliches bekannt ist. Wunderbar genug, daß es doch
    notwendig ist, ihnen dies so Wohlbekannte vors Bewußtsein zu
    rücken! Wie oft habe ich sagen gehört: Gib mir diesen Auftrag
    nicht, ich werde gewiß an ihn vergessen. Das Eintreffen dieser
    Vorhersagung hatte dann sicherlich nichts Mystisches an sich.
    Der so sprach, verspürte in sich den Vorsatz, den Auftrag nicht
    auszuführen, und weigerte sich nur, sich zu ihm zu bekennen.
     

    Das Vergessen von Vorsätzen erfährt übrigens eine gute
    Beleuchtung durch etwas, was man als „Fassen von falschen
    Vorsätzen" bezeichnen könnte. Ich hatte einmal einem jungen
    Autor versprochen, ein Referat über sein. kleines Opus zu
    schreiben, schob es aber wegen innerer, mir nicht unbekannter
    Widerstände auf, bis ich mich eines Tages durch sein Drängen.
    bewegen ließ zu versprechen, daß es noch am selben Abend
    geschehen werde. Ich hatte auch die ernste Absicht, so zu tun,
    aber ich hatte vergessen, daß die Abfassung eines unaufschieb-
    baren Gutachtens für den nämlichen Abend angesetzt war.
    Nachdem ich so meinen Vorsatz als falsch erkannt hatte,
    gab ich den Kampf gegen meine Widerstände auf und sagte
    dem Autor ab.