• S.

    [267]

    XII

    DETERMINISMUS
    ZUFALLS- UND ABERGLAUBEN
    GESICHTSPUNKTE

    Als das allgemeine Ergebnis der vorstehenden Einzelerörterungen
    kann man folgende Einsicht hinstellen: Gewisse Unzuläng-
    lichkeiten unserer psychischen Leistungen — deren
    gemeinsamer Charakter sogleich näher bestimmt werden soll —
    und gewisse absichtslos erscheinende Verrichtungen
    erweisen sich, wenn man das Verfahren der psycho
    -
    analytischen Untersuchung auf sie anwendet, als
    wohlmotiviert und durch dem Bewußtsein unbe
    -
    kannte Motive determiniert.

    Um in die Klasse der so zu erklärenden Phänomene eingereiht
    zu werden, muß eine psychische Fehlleistung folgenden Bedingungen
    genügen.

    a) Sie darf nicht über ein gewisses Maß hinausgehen, welches
    von unserer Schätzung festgesetzt ist und durch den Ausdruck
    „innerhalb der Breite des Normalen“ bezeichnet wird.

    b) Sie muß den Charakter der momentanen und zeitweiligen
    Störung an sich tragen. Wir müssen die nämliche Leistung vorher
    korrekter ausgeführt haben oder uns jederzeit zutrauen, sie korrekter
    auszuführen. Wenn wir von anderer Seite korrigiert werden,
    müssen wir die Richtigkeit der Korrektur und die Unrichtigkeit
    unseres eigenen psychischen Vorganges sofort erkennen.

  • S.

    268

    c) Wenn wir die Fehlleistung überhaupt wahrnehmen, dürfen
    wir von einer Motivierung derselben nichts in uns verspüren,
    sondern müssen versucht sein, sie durch „Unaufmerksamkeit“ zu
    erklären oder als „Zufälligkeit“ hinzustellen.

    Es verbleiben somit in dieser Gruppe die Fälle von Vergessen
    und die Irrtümer bei besserem Wissen, das Versprechen,
    Verlesen, Verschreiben, Vergreifen und die sogenannten Zufalls-
    handlungen,

    Die gleiche Zusammensetzung mit der Vorsilbe „ver-“ deutet für
    die meisten dieser Phänomene die innere Gleichartigkeit sprachlich
    an. An die Aufklärung dieser so bestimmten psychischen Vorgänge
    knüpft aber eine Reihe von Bemerkungen an, die zum Teile ein
    weitergehendes Interesse erwecken dürfen.

    A) Indem wir einen Teil unserer psychischen Leistungen als
    unaufklärbar durch Zielvorstellungen preisgeben, verkennen wir
    den Umfang der Determinierung im Seelenleben. Dieselbe reicht
    hier und noch auf anderen Gebieten weiter, als wir es vermuten.
    Ich habe im Jahre 1900 in einem Aufsatz des Literaturhistorikers
    R. M. Meyer in der „Zeit“ ausgeführt und an Beispielen
    erläutert gefunden, daß es unmöglich ist, absichtlich und will-
    kürlich einen Unsinn zu komponieren. Seit längerer Zeit weiß
    ich, daß man es nicht zustande bringt, sich eine Zahl nach freiem
    Belieben einfallen zu lassen, ebenso wenig wie etwa einen Namen.
    Untersucht man die scheinbar willkürlich gebildete, etwa mehr-
    stellige, wie im Scherz oder Übermut ausgesprochene Zahl, so
    erweist sich deren strenge Determinierung, die man wirklich
    nicht für möglich gehalten hätte. Ich will nun zunächst ein
    Beispiel eines willkürlich gewählten Vornamens kurz erörtern und
    dann ein analoges Beispiel einer „gedankenlos hingeworfenen“
    Zahl ausführlicher analysieren.

    1) Im Begriffe, die Krankengeschichte einer meiner Patientinnen
    für die Publikation herzurichten, erwäge ich, welchen Vornamen

  • S.

    269

    ich ihr in der Arbeit geben soll. Die Auswahl scheint sehr groß;
    gewiß schließen sich einige Namen von vornherein aus, in erster
    Linie der echte Name, sodann die Namen meiner eigenen Familien-
    angehörigen, an denen ich Anstoß nehmen würde, etwa noch
    andere Frauennamen von besonders seltsamem Klang; im übrigen
    aber brauchte ich um einen solchen Namen nicht verlegen zu
    sein. Man sollte erwarten und ich erwarte selbst, daß sich mir
    eine ganze Schar weiblicher Namen zur Verfügung stellen wird.
    Anstatt dessen taucht ein einzelner auf, kein zweiter neben ihm,
    der Name Dora. Ich frage nach seiner Determinierung. Wer
    heißt denn nur sonst Dora? Ungläubig möchte ich den nächsten
    Einfall zurückweisen, der lautet, daß das Kindermädchen meiner
    Schwester so heißt. Aber ich besitze so viel Selbstzucht oder Übung
    im Analysieren, daß ich den Einfall festhalte und weiterspinne.
    Da fällt mir auch sofort eine kleine Begebenheit des vorigen
    Abends ein, welche die gesuchte Determinierung bringt. Ich sah
    auf dem Tisch im Speisezimmer meiner Schwester einen Brief
    liegen mit der Aufschrift: „An Fräulein Rosa W.“ Erstaunt frage
    ich, wer so heißt, und werde belehrt‚ daß die vermeintliche Dora
    eigentlich Rosa heißt und diesen ihren Namen beim Eintritt ins
    Haus ablegen mußte, weil meine Schwester den Ruf „Rosa“ auch
    auf ihre eigene Person beziehen kann. Ich sagte bedauernd: Die
    armen Leute, nicht einmal ihren Namen können sie beibehalten!
    Wie ich mich jetzt besinne, wurde ich dann für einen Moment
    still und begann an allerlei ernsthafte Dinge zu denken, die ins
    Unklare verliefen, die ich mir jetzt aber leicht bewußt machen
    könnte. Als ich dann am nächsten Tag nach einem Namen für
    eine Person suchte, die ihren eigenen nicht beibehalten
    durfte
    , fiel mir kein anderer als „Dora“ ein. Die Ausschließ-
    lichkeit beruht hier auf fester inhaltlicher Verknüpfung, denn
    in der Geschichte meiner Patientin führte ein auch für den
    Verlauf der Kur entscheidender Einfluß von der im fremden
    Haus dienenden Person, von einer Gouvernante, her.

  • S.

    270

    Diese kleine Begebenheit fand Jahre später eine unerwartete
    Fortsetzung. Als ich einmal die längst veröffentlichte Kranken-
    geschichte des nun Dora genannten Mädchens in meiner Vor-
    lesung besprach, fiel mir ein, daß ja eine meiner beiden Hörerinnen
    den gleichen Namen Dora, den ich in den verschiedensten Ver-
    knüpfungen so oft auszusprechen hatte, trage, und ich wandte
    mich an die junge Kollegin, die mir auch persönlich bekannt
    war, mit der Entschuldigung, ich hätte wirklich nicht daran
    gedacht, daß sie auch so heiße, sei aber gern bereit, den Namen
    in der Vorlesung durch einen anderen zu ersetzen. Ich hatte nun
    die Aufgabe, rasch einen anderen zu wählen, und überlegte
    dabei, jetzt dürfe ich nur nicht auf den Vornamen der anderen
    Hörerin kommen und so den psychoanalytisch bereits geschulten
    Kollegen ein schlechtes Beispiel geben. Ich war also sehr zufrieden,
    als mir zum Ersatze für Dora der Name Erna einfiel, dessen
    ich mich nun im Vortrag bediente. Nach der Vorlesung fragte
    ich mich, woher wohl der Name Erna stammen möge, und
    mußte lachen, als ich merkte, daß die gefürchtete Möglichkeit
    sich bei der Wahl des Ersatznamens dennoch, wenigstens teilweise,
    durchgesetzt hatte. Die andere Dame hieß mit ihrem Familien-
    namen Lucerna, wovon Erna ein Stück ist.

    2) In einem Briefe an einen Freund kündige ich ihm an, daß
    ich jetzt die Korrekturen der Traumdeutung abgeschlossen habe
    und nichts mehr an dem Werke ändern will, „möge es auch
    2467 Fehler enthalten“. Ich versuche sofort, mir diese Zahl auf-
    zuklären und füge die kleine Analyse noch als Nachschrift
    dem Briefe an. Am besten zitiere ich jetzt, wie ich damals
    geschrieben, als ich mich auf frischer Tat ertappte:

    „Noch rasch einen Beitrag zur Psychopathologie des Alltags-
    lebens. Du findest im Briefe die Zahl 2467 als übermütige
    Willkürschätzung der Fehler, die sich im Traumbuch finden
    werden. Es soll heißen: irgend eine große Zahl, und da stellt
    sich diese ein. Nun gibt es aber nichts Willkürliches, Undeter-

  • S.

    271

    miniertes im Psychischen. Du wirst also auch mit Recht erwarten,
    daß das Unbewußte sich beeilt hat, die Zahl zu determinieren,
    die von dem Bewußten freigelassen wurde. Nun hatte ich gerade
    vorher in der Zeitung gelesen, daß ein General E. M. als Feld-
    zeugmeister in den Ruhestand getreten ist. Du mußt wissen, der
    Mann interessiert mich. Während ich als militärärztlicher Eleve
    diente, kam er einmal, damals Oberst, in den Krankenstand und
    sagte zum Arzte: ‚Sie müssen mich aber in acht Tagen gesund
    machen, denn ich habe etwas zu arbeiten, worauf der Kaiser wartet.‘
    Damals nahm ich mir vor, die Laufbahn des Mannes zu ver-
    folgen, und siehe da, heute (1899) ist er am Ende derselben,
    Feldzeugmeister und schon im Ruhestande. Ich wollte ausrechnen,
    in welcher Zeit er diesen Weg zurückgelegt, und nahm an, daß
    ich ihn 1882 im Spital gesehen. Das wären also 17 Jahre. Ich
    erzähle meiner Frau davon und sie bemerkt: ‚Da müßtest du also auch
    schon im Ruhestand sein?‘ Und ich protestiere: Davor bewahre
    mich Gott. Nach diesem Gespräche setzte ich mich an den Tisch,
    um Dir zu schreiben. Der frühere Gedankengang setzt sich aber
    fort und mit gutem Recht. Es war falsch gerechnet; ich habe
    einen festen Punkt dafür in meiner Erinnerung. Meine Groß-
    jährigkeit, meinen 24. Geburtstag also, habe ich im Militärarrest
    gefeiert (weil ich mich eigenmächtig absentiert hatte). Das war
    also 1880; es sind 19 Jahre her. Da hast Du nun die Zahl 24
    in 2467! Nimm nun meine Alterszahl 43 und gib 24 Jahre
    hinzu, so bekommst Du 67! Das heißt auf die Frage, ob ich
    auch in den Ruhestand treten will, habe ich mir im Wunsche
    noch 24 Jahre Arbeit zugelegt. Offenbar bin ich gekränkt darüber,
    daß ich es in dem Intervall, durch das ich den Obersten M. ver-
    folgt, selbst nicht weit gebracht habe, und doch wie in einer
    Art von Triumph darüber, daß er jetzt schon fertig ist, während
    ich noch alles vor mir habe. Da darf man mit Recht sagen, daß
    nicht einmal die absichtslos hingeworfene Zahl 2467 ihrer Deter-
    minierung aus dem Unbewußten entbehrt.“

  • S.

    272

    3) Seit diesem ersten Beispiel von Aufklärung einer scheinbar
    willkürlich gewählten Zahl habe ich den gleichen Versuch viel-
    mals mit dem nämlichen Erfolge wiederholt; aber die meisten
    Fälle sind so sehr intimen Inhalts, daß sie sich der Mitteilung
    entziehen.

    Gerade darum aber will ich es nicht versäumen, eine sehr
    interessante Analyse eines „Zahleneinfalls“ hier anzufügen, welche
    Dr. Alfred Adler (Wien) von einem ihm bekannten „durchaus
    gesunden“ Gewährsmann erhielt.1 „Gestern abends“ — so berichtet
    dieser Gewährsmann — „habe ich mich über die ,Psychopatho-
    logie des Alltags‘ hergemacht und ich hätte das Buch gleich
    ausgelesen, wenn mich nicht ein merkwürdiger Zwischenfall
    gehindert hätte. Als ich nämlich las, daß jede Zahl, die wir
    scheinbar ganz willkürlich ins Bewußtsein rufen, einen bestimmten
    Sinn hat, beschloß ich, einen Versuch zu machen. Es fiel mir
    die Zahl 1734 ein. Nun überstürzten sich folgende
    Einfälle
    : 1734:17=102; 102:17=6. Dann zerreiße ich die
    Zahl in 17 und 34. Ich bin 34 Jahre alt. Ich betrachte, wie
    ich Ihnen, glaube ich, einmal gesagt habe, das 34. Jahr als das
    letzte Jugendjahr, und ich habe mich darum an meinem letzten
    Geburtstag sehr miserabel gefühlt. Am Ende meines 17. Jahres
    begann für mich eine sehr schöne und interessante Periode
    meiner Entwicklung. Ich teile mein Leben in Abschnitte von
    17 Jahren. Was haben nun die Divisionen zu bedeuten? Es fällt
    mir zu der Zahl 102 ein, daß die Nummer 102 der Reclamschen
    Universalbibliothek das Kotzebuesche Stück ,Menschenhaß und
    Reue‘ enthält.“

    „Mein gegenwärtiger psychischer Zustand ist Menschenhaß
    und Reue. Nr. 6 der U.-B. (ich weiß eine ganze Menge Nummern
    auswendig) ist Müllners ‚Schuld‘. Mich quält in einem fort
    der Gedanke, daß ich durch meine Schuld nicht geworden bin,

    1) Psych.-Neur. Wochensch.‚ Nr. 28, 1905.

  • S.

    273

    was ich nach meinen Fähigkeiten hätte werden können. Weiter
    fällt mit ein, daß Nr. 34 der U.-B. eine Erzählung desselben
    Müllner, betitelt ‚Der Kaliber‘, enthält. Ich zerreiße das Wort
    in ‚Ka-liber‘; weiters fällt mir ein, daß es die Worte ‚Ali‘ und
    ‚Kali‘ enthält. Das erinnert mich daran, daß ich einmal mit
    meinem (sechsjährigen) Sohne Ali Reime machte. Ich forderte
    ihn auf, einen Reim auf Ali zu suchen. Es fiel ihm keiner ein
    und ich sagte ihm, als er einen von mir wollte: ‚Ali reinigt den
    Mund mit hypermangansaurem Kali.‘ Wir lachten viel und Ali
    war sehr lieb. In den letzten Tagen mußte ich mit Verdruß
    konstatieren, daß er ‚ka (kein) lieber Ali sei‘.“

    „Ich fragte mich nun: Was ist Nr. 17 der U.-B.?, konnte es
    aber nicht herausbringen. Ich habe es aber früher ganz bestimmt
    gewußt, nehme also an, daß ich diese Zahl vergessen wollte.
    Alles Nachsinnen blieb umsonst. Ich wollte weiter lesen, las aber
    nur mechanisch, ohne ein Wort zu verstehen, da mich die 17
    quälte. Ich löschte das Licht aus und suchte weiter. Schließlich
    fiel mir ein, daß Nr. 17 ein Stück von Shakespeare sein muß.
    Welches aber? Es fällt mir ein: ,Hero und Leander‘. Offenbar ein
    blödsinniger Versuch meines Willens mich abzulenken. Ich stehe
    endlich auf und suche den Katalog der U.-B. Nr. 17 ist ‚Macbeth‘.
    Zu meiner Verblüffung muß ich konstatieren, daß ich von dem
    Stücke fast gar nichts weiß, trotzdem es mich nicht weniger
    beschäftigt hat als andere Dramen Shakespeares. Es fällt mir
    nur ein: Mörder, Lady Macbeth, Hexen, ‚Schön ist häßlich‘, und
    daß ich seinerzeit Schillers Macbeth-Bearbeitung sehr schön
    gefunden habe. Zweifellos habe ich also das Stück vergessen
    wollen. Noch fällt mir ein, daß 17 und 34 durch 17 dividiert
    1 und 2 ergibt. Nr. 1 und 2 der U.-B. ist Goethes ‚Faust‘. Ich
    habe früher sehr viel Faustisches in mir gefunden.“

    Wir müssen bedauern, daß die Diskretion des Arztes uns keinen
    Einblick in die Bedeutung dieser Reihe von Einfallen gegönnt
    hat. Adler bemerkt, daß dem Manne die Synthese seiner Aus-

  • S.

    274

    einandersetzung nicht gelungen ist. Dieselben würden uns
    auch kaum mitteilenswert erschienen sein, wenn in deren
    Fortsetzung nicht etwas aufträte, was uns den Schlüssel zum
    Verständnis der Zahl 1734 und der ganzen Einfallsreihe in die
    Hand spielte.

    „Heute früh hatte ich freilich ein Erlebnis, das sehr für die
    Richtigkeit der Freudschen Auffassung spricht. Meine Frau, die
    ich beim Aufstehen des Nachts aufgeweckt hatte, fragte mich,
    was ich denn mit dem Katalog der U.-B. gewollt hätte. Ich
    erzählte ihr die Geschichte. Sie fand, daß alles Rabulistik sei, nur
    — sehr interessant — den Macbeth, gegen den ich mich so sehr
    gewehrt hatte, ließ sie gelten. Sie sagte, ihr falle gar nichts ein,
    wenn sie sich eine Zahl denke. Ich antwortete: ‚Machen wir eine
    Probe‘. Sie nannte die Zahl 117. Ich erwiderte darauf sofort:
    ‚17 ist eine Beziehung auf das, was ich dir erzählt habe, ferner
    habe ich dir gestern gesagt: wenn eine Frau im 82. Jahre steht
    und ein Mann im 35., so ist das ein arges Mißverhältnis.‘ Ich
    frozzle seit ein paar Tagen meine Frau mit der Behauptung, daß
    sie ein altes Mütterchen von 82 Jahren sei. 82+35=117.“

    Der Mann, der seine eigene Zahl nicht zu determinieren wußte,
    fand also sofort die Auflösung, als seine Frau ihm eine angeblich
    willkürlich gewählte Zahl nannte. In Wirklichkeit hatte die Frau
    sehr wohl aufgefaßt, aus welchem Komplex die Zahl ihres Mannes
    stammte, und wählte die eigene Zahl aus dem nämlichen
    Komplex, der gewiß beiden Personen gemeinsam war, da es
    sich in ihm um das Altersverhältnis der beiden handelte. Wir
    haben es nun leicht, den Zahleneinfall des Mannes zu über-
    setzen. Er spricht, wie Adler andeutet, einen unterdrückten
    Wunsch des Mannes aus, der voll entwickelt lauten würde:
    „Zu einem Manne von 34 Jahren, wie ich einer bin, paßt nur
    eine Frau von 17 Jahren.“

    Damit man nicht allzu geringschätzig von solchen „Spielereien“
    denken möge, will ich hinzufügen, was ich kürzlich von Dr. Adler

  • S.

    275

    erfahren habe, daß ein Jahr nach Veröffentlichung dieser Analyse
    der Mann von seiner Frau geschieden war.1

    4.) Ähnliche Aufklärungen gibt Adler für die Entstehung
    obsedierender Zahlen. Auch die Wahl sogenannter „Lieblings-
    zahlen“ ist nicht ohne Beziehung auf das Lebenden der betreffenden
    Person und entbehrt nicht eines gewissen psychologischen
    Interesses. Ein Mann, der sich zu der besonderen Vorliebe für
    die Zahlen 17 und 19 bekannte, wußte nach kurzem Besinnen
    anzugeben, daß er mit 17 Jahren in die langersehnte akade-
    mische Freiheit, auf die Universität, gekommen, und daß er
    mit 19 Jahren seine erste große Reise und bald darauf seinen
    ersten wissenschaftlichen Fund gemacht. Die Fixierung dieser
    Vorliebe erfolgte aber zwei Lustren später, als die gleichen Zahlen
    zur Bedeutung für sein Liebesleben gelangten. — Ja, selbst
    Zahlen, die man anscheinend willkürlich in gewissem Zusammen-
    hange besonders häufig gebraucht, lassen sich durch die Analyse
    auf unerwarteten Sinn zurückführen. So fiel es einem meiner
    Patienten eines Tages auf, daß er im Unmut besonders gern zu
    sagen pflegte: Das habe ich dir schon 17- bis 36mal gesagt,
    und er fragte sich, ob es auch dafür eine Motivierung gebe. Es
    fiel ihm alsbald ein, daß er an einem 27. Monatstag geboren sei,
    sein jüngerer Bruder aber an einem 26., und daß er Grund habe,
    darüber zu klagen, daß das Schicksal ihm soviel von den Gütern des
    Lebens geraubt, um sie diesem jüngeren Bruder zuzuwenden. Diese
    Parteilichkeit des Schicksals stellte er also dar, indem er von seinem
    Geburtsdatum zehn abzog und diese zum Datum des Bruders hinzu-
    fügte. „Ich bin der Ältere und dennoch so verkürzt worden.“

    5) Ich will bei den Analysen von Zahleinfällen länger verweilen,
    denn ich kenne keine anderen Einzelbeobachtungen, die so

    1) Zur Aufklärung des „Macbeth“ in Nr. 17 der U.-B. teilt mir Adler mit, daß
    der Betreffende in seinem 17. Lebensjahr einer anarchistischen Gesellschaft beigetreten
    war, die sich den Königsmord zum Ziel gesetzt hatte. Darum verfiel wohl der Inhalt
    des „Macbeth“ dem Vergessen. Zu jener Zeit erfand die nämliche Person eine Geheim-
    schrift, in der die Buchstaben durch Zahlen ersetzt waren.

  • S.

    276

    schlagend die Existenz von hoch zusammengesetzten Denkvor-
    gäugen erweisen würden, von denen das Bewußtsein doch keine
    Kunde hat, und anderseits kein besseres Beispiel von Analysen,
    bei denen die häufig angeschuldigte Mitarbeit des Arztes (die
    Suggestion) so sicher außer Betracht kommt. Ich werde daher
    die Analyse eines Zahleneinfalles eines meiner Patienten (mit
    seiner Zustimmung) hier mitteilen, von dem ich nur anzugeben
    brauche, daß er das jüngste Kind einer langen Kinderreihe ist,
    und daß er den bewunderten Vater in jungen Jahren verloren
    hat. In besonders heiterer Stimmung läßt er sich die Zahl 426718
    einfallen und stellt sich die Frage: „Also was fällt mir dazu ein?
    Zunächst ein Witz, den ich gehört habe: ‚Wenn man einen
    Schnupfen ärztlich behandelt, dauert er 42 Tage, wenn man ihn
    aber unbehandelt läßt — 6 Wochen.‘“ Das entspricht den ersten
    Ziffern der Zahl 42 = 6 X 7. In der Stockung, die sich bei ihm
    nach dieser ersten Lösung einstellt, mache ich ihn aufmerksam,
    daß die von ihm gewählte sechsstellige Zahl alle ersten Ziffern
    enthalte bis auf 3 und 5. Nun findet er sofort die Fortsetzung
    der Deutung. „Wir sind 7 Geschwister, ich der jüngste. 3 ent-
    spricht in der Kinderreihe der Schwester A., 5 dem Bruder L.,
    das waren meine beiden Feinde. Ich pflegte als Kind jeden
    Abend zu Gott zu beten, daß er diese meine beiden Quälgeister
    aus dem Leben abberufen solle. Es scheint mir nun, daß ich mir
    hier diesen Wunsch selbst erfüllte; 3 und 5, der böse Bruder und die
    gehaßte Schwester sind übergangen.“ — Wenn die Zahl ihre
    Geschwisterreihe bedeutet, was soll das 18 am Ende? Sie wären
    doch nur 7. — „Ich habe oft gedacht, wenn der Vater noch
    länger gelebt hätte, so wäre ich nicht das jüngste Kind geblieben.
    Wenn noch 1 gekommen wäre, so wären wir 8 gewesen, und
    ich hätte ein kleineres Kind hinter mir gehabt, gegen das ich
    den Älteren gespielt hätte.“

    Somit war die Zahl aufgeklärt, aber es lag uns noch ob, den
    Zusammenhang zwischen dem ersten Stück der Deutung und den

  • S.

    277

    folgenden herzustellen. Das ergab sich sehr leicht aus der für
    die letzten Zahlen benötigten Bedingung: Wenn der Vater noch
    länger gelebt hätte. 42 = 6 X 7 bedeutete den Hohn gegen die
    Ärzte, die dem Vater nicht hatten helfen können, drückte also
    in dieser Form den Wunsch nach dem Fortleben des Vaters aus.
    Die ganze Zahl entsprach eigentlich der Erfüllung seiner beiden
    infantilen Wünsche in betreff seines Familienkreises, die beiden
    bösen Geschwister sollten sterben, und ein kleines Geschwisterchen
    hinter ihnen nachkommen, oder auf den kürzesten Ausdruck
    gebracht: Wenn doch lieber die beiden gestorben wären anstatt
    des geliebten Vaters!1

    6) Ein kleines Beispiel aus meiner Korrespondenz. Ein Tele-
    graphendirektor in L. schreibt, sein 18½ jähriger Sohn, der
    Medizin studieren wolle, beschäftige sich schon jetzt mit der
    Psychopathologie des Alltags und suche seine Eltern von der
    Richtigkeit meiner Aufstellungen zu überzeugen. Ich gebe einen
    der von ihm angestellten Versuche wieder, ohne mich über die
    daran geknüpfte Diskussion zu äußern.

    „Mein Sohn unterhält sich mit meiner Frau über den soge-
    nannten Zufall und erläutert ihr, daß sie kein Lied, keine Zahl
    nennen könne, die ihr wirklich nur ‚zufällig‘ einfielen. Es ent-
    spinnt sich folgende Unterhaltung: Sohn: Nenne mir irgend-
    eine Zahl. — Mutter: 79. — Sohn: Was fällt dir dabei ein? —
    Mutter: Ich denke an den schönen Hut, den ich gestern besich-
    tigte. — Sohn: Was kostete er? — Mutter: 158 M. — Sohn:
    Da haben wir es: 158 : 2 = 79. Dir war der Hut zu teuer und
    du hast gewiß gedacht: ‚Wenn er halb soviel kostete, würde ich
    ihn kaufen.‘

    Gegen diese Ausführungen meines Sohnes erhob ich zunächst
    den Einwand, daß Damen im allgemeinen nicht besonders rech-
    neten und daß sich auch Mutter gewiß nicht klar gemacht habe,

    1) Zur Vereinfachung habe ich einige nicht minder gut passende Zwischeneinfälle
    des Patienten weggelassen.

  • S.

    278

    79 sei die Hälfte von 158. Also setze seine Theorie die immer-
    hin unwahrscheinliche Tatsache voraus, daß das Unterbewußtsein
    besser rechne als das normale Bewußtsein. ‚Durchaus nicht,‘
    erhielt ich zur Antwort; ‚zugegeben, daß Mutter die Rechnung
    158 : 2= 79 nicht gemacht hat, sie kann aber recht gut diese
    Gleichung gelegentlich gesehen haben; ja sie kann im Traume
    sich mit dem Hute beschäftigt und dabei sich klar gemacht
    haben, wie teuer er wäre, wenn er nur die Hälfte kostete.‘“

    7) Eine andere Zahlenanalyse entnehme ich Jones (l. c. p. 478).
    Ein Herr seiner Bekanntschaft ließ sich die Zahl 986 einfallen
    und forderte ihn dann heraus, sie mit irgend etwas, was er sich
    denke, in Zusammenhang zu bringen. „Die nächste Assoziation
    der Versuchsperson war die Erinnerung an einen längst vergessenen
    Scherz. Am heißesten Tage des Jahres vor sechs Jahren hatte
    eine Zeitung die Notiz gebracht, das Thermometer zeige 986°
    Fahrenheit, offenbar eine groteske Übertreibung von 98·6, dem
    wirklichen Thermometerstand! Wir saßen während dieser Unter-
    haltung vor einem starken Feuer im Kamin, von dem er sich
    wegrückte, und er bemerkte wahrscheinlich mit Recht, daß die
    große Hitze ihn auf diese Erinnerung gebracht habe. Ich gab
    mich aber nicht so leicht zufrieden und verlangte zu wissen,
    wieso gerade diese Erinnerung bei ihm so fest gehaftet habe. Er
    erzählte, er habe über diesen Scherz so fürchterlich gelacht und
    sich jedesmal von neuem über ihn amüsiert, so oft er ihm wieder
    eingefallen sei. Da ich aber den Scherz nicht besonders gut
    finden konnte, wurde meine Erwartung eines geheimen Sinnes
    dahinter nur noch verstärkt. Sein nächster Gedanke war, daß die
    Vorstellung der Wärme ihm immer soviel bedeutet habe. Wärme
    sei das Wichtigste in der Welt, die Quelle alles Lebens usw.
    Eine solche Schwärmerei eines sonst recht nüchternen jungen
    Mannes mußte nachdenklich stimmen; ich hat ihn, mit seinen
    Assoziationen fortzufahren. Sein nächster Einfall ging auf den
    Rauchfang einer Fabrik, den er von seinem Schlafzimmer aus

  • S.

    279

    sehen konnte. Er pflegte oft des Abends auf den Rauch und das
    Feuer zu starren, der aus ihm hervorging, und dabei über die
    beklagenswerte Vergeudung von Energie nachzudenken. Wärme,
    Feuer, die Quelle alles Lebens, die Vergeudung von Energie
    aus einer hohen hohlen Röhre — es war nicht schwer, aus
    diesen Assoziationen zu erraten, daß die Vorstellung Wärme und
    Feuer bei ihm mit der Vorstellung von Liebe verknüpft waren,
    wie es im symbolischen Denken gewöhnlich ist, und daß ein
    starker Masturbationskomplex seinen Zahleneinfall motiviert habe.
    Es blieb ihm nichts übrig, als meine Vermutung zu bestätigen.

    Wer sich von der Art, wie das Material der Zahlen im un-
    bewußten Denken verarbeitet wird, einen guten Eindruck holen
    will, den verweise ich auf C. G. Jungs Aufsatz „Ein Beitrag
    zur Kenntnis des Zahlentraumes“ (Zentralbl. für Psychoanalyse,
    I, 1912) und auf einen anderen von E. Jones („Unconscious
    manipulations of numbers“, ibid. II, 5, 1912).

    In eigenen Analysen dieser Art ist mir zweierlei besonders
    auffällig: Erstens die geradezu somnambule Sicherheit, mit der
    ich auf das mir unbekannte Ziel losgehe, mich in einen rech-
    nenden Gedankengang versenke, der dann plötzlich bei der
    gesuchten Zahl angelangt ist, und die Raschheit, mit der sich
    die ganze Nacharbeit vollzieht; zweitens aber der Umstand, daß
    die Zahlen meinem unbewußten Denken so bereitwillig zur
    Verfügung stehen, während ich ein schlechter Rechner bin und
    die größten Schwierigkeiten habe, mir Jahreszahlen, Hausnummern
    und dergleichen bewußt zu merken. Ich finde übrigens in diesen
    unbewußten Gedankenoperationen mit Zahlen eine Neigung zum
    Aberglauben, deren Herkunft mir lange Zeit fremd geblieben ist.1

    1) Herr Rudolf Schneider in München hat eine interessante Einwendung
    gegen die Beweiskraft solcher Zahlenanalysen erhoben. (Zu Freuds analytischer
    Untersuchung des Zahleneinfalles. lnternat. Zeitschr. für Psychoanalyse, 1920, Heft 1.)
    Er griff gegebene Zahlen auf, z. B. eine solche, die ihm in einem aufgeschlagenen
    Geschichtswerke zuerst in die Augen fiel, oder er legte einer anderen Person eine
    von ihm ausgewählte Zahl vor und sah nun zu, ob sich auch zu dieser aufgedrängten
    Zahl anscheinend determinierende Einfälle einstellten. Das war nun wirklich der

  • S.

    280

    Es wird uns nicht überraschen zu finden, daß nicht nur Zahlen,
    sondern auch Worteinfälle anderer Art sich der analytischen
    Untersuchung regelmäßig als gut determiniert erweisen.

    8) Ein hübsches Beispiel von Herleitung eines obsedierenden,
    d.h. verfolgenden Wortes findet sich bei Jung (Diagnost. Asso-
    ziationsstudien, IV, S. 215). „Eine Dame erzählte mir, daß ihr seit
    einigen Tagen beständig das Wort ‚Taganrog‘ im Munde liege,

    Fall; in dem einen ihn selbst betreffenden Beispiel, das er mitteilt, ergaben die
    Einfälle eine ebenso reichliche und sinnvolle Determinierung wie in unseren Ana-
    lysen von spontan aufgetauchten Zahlen, während doch die Zahl im Versuche
    Schneiders als von außen gegeben einer Determinierung nicht bedürfte. In einem
    zweiten Versuch mit einer fremden Person machte er sich die Aufgabe offenbar zu
    leicht, denn er gab ihr die Zahl 2 auf, deren Determinierung durch irgendwelches
    Material bei jedermann gelingen muß. — R. Schneider schließt nun aus seinen
    Erfahrungen zweierlei, erstens „das Psychische besitze zu Zahlen dieselben Assozia-
    tionsmöglichkeiten wie zu Begriffen“, zweitens das Auftauchen determinierender
    Einfälle zu spontanen Zahleneinfällen beweise nichts für die Herkunft dieser Zahlen
    aus den in ihrer „Analyse“ gefundenen Gedanken. Die erstere Folgerung ist nun
    unzweifelhaft richtig. Man kann zu einer gegebenen Zahl ebenso leicht etwas
    Passendes assoziieren wie zu einem zugerufenen Wort, ja vielleicht noch leichter,
    da die Verknüpfbarkeit der wenigen Zahlzeichen eine besonders große ist. Man
    befindet sich denn einfach in der Situation des sogenannten Assoziationsexperiments,
    das von der Bleuler-Jungschen Schule nach den mannigfaltigsten Richtungen
    studiert worden ist. In dieser Situation wird der Einfall (Reaktion) durch das
    gegebene Wort (Reizwort) determiniert. Diese Reaktion könnte aber noch von sehr
    verschiedener Art sein und die Jungschen Versuche haben gezeigt, daß auch die
    weitere Unterscheidung nicht dem „Zufall“ überlassen ist, sondern daß unbewußte
    „Komplexe“ sich an der Determinierung beteiligen, wenn sie durch des Reizwort
    angerührt worden sind. — Die zweite Folgerung Schneiders geht zu weit. Aus
    der Tatsache, daß zu gegebenen Zahlen (oder Worten) passende Einfälle auftauchen,
    ergibt sich nichts für die Ableitung spontan auftauchender Zahlen (oder Worte),
    was nicht schon vor Kenntnis dieser Tatsache in Betracht zu ziehen war. Diese
    Einfälle (Worte oder Zahlen) könnten undeterminiert sein oder durch die Gedanken
    determiniert, die sich in der Analyse ergeben, oder durch andere Gedanken, die sich
    in der Analyse nicht verraten haben, in welchem Falle uns die Analyse irregeführt
    hätte. Man muß sich nur von dem Eindruck frei machen, daß dies Problem für
    Zahlen anders liege als für Worteinfälle. Eine kritische Untersuchung des Problems
    und somit eine Rechtfertigung der psychoanalytischen Einfallstechnik liegt nicht in
    der Absicht dieses Buches. In der analytischen Praxis geht man von der Voraus-
    setzung aus, daß die zweite der erwähnten Möglichkeiten zutreffend und in der
    Mehrzahl der Fälle verwertbar ist. Die Untersuchungen eines Experimentalpsycho-
    logen haben gelehrt, daß sie die bei weitem wahrscheinlichste ist (Poppelreuter).
    (Vgl. übrigens hiezu die beachtenswerten Ausführungen Bleulers in seinem Buch:
    Du autistisch-undisziplinierte Denken usw., 1919, Abschnitt 9: Von den Wahrschein-
    lichkeiten der psychologischen Erkenntnis.)

  • S.

    281

    ohne daß sie eine Idee habe, woher das komme. Ich fragte die
    Dame nach den affektbetonten Ereignissen und verdrängten
    Wünschen der Jüngstvergangenheit. Nach einigem Zögern erzählte
    sie mir, daß sie sehr gern einen ‚Morgenrock‘ hätte, ihr
    Mann aber nicht das gewünschte Interesse dafür habe. ‚Morgen-
    rock: Tag-an-rock‘, man sieht die partielle Sinn- und Klangver-
    wandtschaft. Die Determination der russischen Form kommt daher,
    daß ungefähr zu gleicher Zeit die Dame eine Persönlichkeit aus
    Taganrog kennen gelernt hatte.

    9) Dr. E. Hitschmann verdanke ich die Auflösung eines
    anderen Falles, in dem sich ein Vers wiederholt in einer bestimmten
    Örtlichkeit als Einfall aufdrängte, ohne daß dessen Herkunft und
    Beziehungen ersichtlich gewesen wären.

    „Erzählung des Dr. jur. E.: Ich fuhr vor sechs Jahren von
    Biarritz nach San Sebastian. Die Eisenbahnstrecke führt über den
    Bidassoafluß, der hier die Grenze zwischen Frankreich und Spanien
    bildet. Auf der Brücke hat man einen schönen Blick, auf der
    einen Seite über ein weites Tal und die Pyrenäen, auf der anderen
    Seite weithin über das Meer. Es war ein schöner, heller Sommer-
    tag, alles war erfüllt von Sonne und Licht, ich war auf einer
    Ferienreise, freute mich nach Spanien zu kommen — da fielen mir
    die Verse ein: ‚Aber frei ist schon die Seele, schwebet in dem Meer
    von Licht.‘

    Ich erinnere mich, daß ich damals darüber nachdachte, woher
    diese Verse seien, und mich dessen nicht entsinnen konnte; nach
    dem Rhythmus mußten die Worte aus einem Gedicht stammen,
    welches aber meiner Erinnerung vollständig entfallen war. Ich
    glaube später, da mir die Verse wiederholt in den Sinn kamen,
    noch mehrere Leute danach gefragt zu haben, ohne etwas
    erfahren zu können.

    Im Vorjahre fuhr ich, von einer spanischen Reise zurückkehrend,
    auf derselben Bahnstrecke. Es war stockfinstere Nacht und es
    regnete. Ich sah zum Fenster hinaus, um zu sehen, ob wir schon

  • S.

    282

    in der Grenzstation ankämen, und bemerkte, daß wir auf der
    Bidassoabrücke waren. Sofort kamen mir die oben angeführten
    Verse wieder ins Gedächtnis, und wieder konnte ich mich ihrer
    Herkunft nicht erinnern.

    Mehrere Monate nachher kamen mir zu Hause die Uhland-
    schen Gedichte in die Hand. Ich öffnete den Band und mein
    Blick fiel auf die Verse: ‚Aber frei ist schon die Seele, schwebet
    in dem Meer von Licht‘, die den Schluß eines Gedichtes: ‚Der
    Waller‘ bilden. Ich las das Gedicht und erinnerte mich nun ganz
    dunkel, es einmal vor vielen Jahren gekannt zu haben. Der Schau-
    platz der Handlung ist in Spanien, und dies schien mir die einzige
    Beziehung der zitierten Verse zu der von mir beschriebenen Stelle
    der Eisenbahnstrecke zu bilden. Ich war von meiner Entdeckung
    nur halb befriedigt und blätterte mechanisch in dem Buche weiter.
    Die Verse, ‚Aber frei ist schon usw.‘ standen als die letzten auf
    einer Seite. Beim Umblättern fand ich auf der nächsten Seite ein
    Gedicht mit der Überschrift ‚Die Bidassoabrücke‘.

    Ich bemerke noch, daß mir der Inhalt dieses letzten Gedichtes
    fast noch fremder schien, als der des ersten, und daß seine ersten
    Verse lauten: ‚Auf der Bidassoabrücke steht ein Heiliger altersgrau,
    segnet rechts die span’schen Berge, segnet links den fränk’schen
    Gau.‘“

    B) Diese Einsicht in die Determinierung scheinbar willkürlich
    gewählter Namen und Zahlen kann vielleicht zur Klärung eines
    anderen Problems beitragen. Gegen die Annahme eines durch-
    gehenden psychischen Determinismus berufen sich bekanntlich
    viele Personen auf ein besonderes Überzeugungsgefühl für die
    Existenz eines freien Willens. Dieses Überzeugungsgefühl besteht
    und weicht auch dem Glauben an den Determinismus nicht. Es
    muß wie alle normalen Gefühle durch irgend etwas berechtigt
    sein. Es äußert sich aber, soviel ich beobachten kann, nicht bei
    den großen und wichtigen Willensentscheidungen; bei diesen

  • S.

    283

    Gelegenheiten hat man vielmehr die Empfindung des psychischen
    Zwanges und beruft sich gern auf sie („Hier stehe ich, ich kann
    nicht anders“). Hingegen möchte man gerade bei den belanglosen,
    indifferenten Entschließungen versichern, daß man ebensowohl
    anders hätte handeln können, daß man aus freiem, nicht
    motiviertem Willen gehandelt hat. Nach unseren Analysen braucht
    man nun das Recht des Überzeugungsgefühls vom freien Willen
    nicht zu bestreiten. Führt man die Unterscheidung der Motivierung
    aus dem Bewußten von der Motivierung aus dem Unbewußten
    ein, so berichtet uns das Überzeugungsgefühl, daß die bewußte
    Motivierung sich nicht auf alle unsere motorischen Entscheidungen
    erstreckt. Minima non curat praetor. Was aber so von der einen
    Seite freigelassen wird, das empfängt seine Motivierung von
    anderer Seite, aus dem Unbewußten, und so ist die Determinierung
    im Psychischen doch lückenlos durchgeführt.1

    C) Wenngleich dem bewußten Denken die Kenntnis von der
    Motivierung der besprochenen Fehlleistungen nach der ganzen
    Sachlage abgehen muß, so wäre es doch erwünscht, einen psycho-
    logischen Beweis für deren Existenz aufzufinden; ja es ist aus
    Gründen, die sich bei näherer Kenntnis des Unbewußten ergeben,
    wahrscheinlich, daß solche Beweise irgendwo auffindhar sind. Es
    lassen sich wirklich auf zwei Gebieten Phänomene nachweisen,
    welche einer unbewußten und darum verschobenen Kenntnis von
    dieser Motivierung zu entsprechen scheinen:

    1) Diese Anschauungen über die strenge Determinierung anscheinend willkürlicher
    psychischer Aktionen haben bereits reiche Früchte für die Psychologie — vielleicht
    auch für die Rechtspflege — getragen. Bleuler und Jung haben in diesem Sinne
    die Reaktionen beim sogenannten Assoziationsexperiment verständlich gemacht, bei
    dem die untersuchte Person auf ein ihr zugerufenes Wort mit einem ihr dazu ein-
    fallenden antwortet (Reizwort-Reaktion), und die dabei verlaufene Zeit gemessen wird
    (Reaktionszeit). Jung hat in seinen „Diagnostischen Assoziationsstudien“ (1906) gezeigt,
    welch feines Reagens für psychische Zustände wir in dem so gedeuteten Assoziations-
    experiment besitzen. Zwei Schüler des Strafrechtslehrers H. Groß in Prag, Wertheimer
    und Klein, haben aus diesen Experimenten eine Technik zur „Tatbestands-Diagnostik“
    in strafrechtlichen Fällen entwickelt, deren Prüfung Psychologen und Juristen
    beschäftigt.

  • S.

    284

    a) Es ist ein auffälliger und allgemein bemerkter Zug im
    Verhalten der Paranoiker, daß sie den kleinen, sonst von uns
    vernachlässigten Details im Benehmen der anderen die größte
    Bedeutung beilegen, dieselben ausdeuten und zur Grundlage
    weitgehender Schlüsse machen. Der letzte Paranoiker z. B., den
    ich gesehen habe, schloß auf ein allgemeines Einverständnis in
    seiner Umgebung, weil die Leute bei seiner Abreise auf dem
    Bahnhof eine gewisse Bewegung mit der einen Hand gemacht
    hatten. Ein anderer hat die Art notiert, wie die Leute auf der
    Straße gehen, mit den Spazierstöcken fuchteln u. dgl.1

    Die Kategorie des Zufälligen, der Motivierung nicht Bedürftigen,
    welche der Normale für einen Teil seiner eigenen psychischen
    Leistungen und Fehlleistungen gelten läßt, verwirft der Paranoiker
    also in der Anwendung auf die psychischen Äußerungen der
    anderen. Alles, was er an den anderen bemerkt, ist bedeutungs-
    voll, alles ist deutbar. Wie kommt er nur dazu? Er projiziert
    wahrscheinlich in das Seelenleben der anderen, was im eigenen
    unbewußt vorhanden ist, hier wie in so vielen ähnlichen Fällen.
    In der Paranoia drängt sich ebenso vielerlei zum Bewußtsein
    durch, was wir bei Normalen und Neurotikern erst durch die
    Psychoanalyse als im Unbewußten vorhanden nachweisen.2 Der
    Paranoiker hat also hierin in gewissem Sinne recht, er erkennt
    etwas, was dem Normalen entgeht, er sieht schärfer als das normale
    Denkvermögen, aber die Verschiebung des so erkannten Sachver-
    halts auf andere macht seine Erkenntnis wertlos. Die Recht-
    fertigung der einzelnen paranoischen Deutungen wird man dann
    hoffentlich von mir nicht erwarten. Das Stück Berechtigung aber,
    welches wir der Paranoia bei dieser Auffassung der Zufallshand-

    1) Von anderen Gesichtspunkten ausgehend, hat man diese Beurteilung unwesent-
    licher und zufälliger Äußerungen bei anderen zum „Beziehungswahn“ gerechnet.

    2) Die durch Analyse bewußt zu machenden Phantasien der Hysteriker von
    sexuellen und grausamen Mißhandlungen decken sich z. B. gelegentlich bis ins Einzelne
    mit den Klagen verfolgter Paranoiker. Es ist bemerkenswert, aber nicht unverständlich,
    wenn der identische Inhalt uns auch als Realität in den Veranstaltungen Perverser
    zur Befriedigung ihrer Gelüste entgegentritt.

  • S.

    285

    lungen zugestehen, wird uns das psychologische Verständnis
    der Überzeugung erleichtern, welche sich beim Paranoiker
    an alle diese Deutungen geknüpft hat. Es ist eben etwas
    Wahres daran
    ; auch unsere nicht als krankhaft zu bezeich-
    nenden Urteilsirrtümer erwerben das ihnen zugehörige Über-
    zeugungsgefühl auf keine andere Art. Dies Gefühl ist für ein
    gewisses Stück des irrtümlichen Gedankenganges oder für die
    Quelle, aus der er stammt, berechtigt und wird dann von uns
    auf den übrigen Zusammenhang ausgedehnt.

    b) Ein anderer Hinweis auf die unbewußte und verschobene
    Kenntnis der Motivierung bei Zufalls- und Fehlleistungen findet
    sich in den Phänomen des Aberglaubens. Ich will meine Meinung
    durch die Diskussion des kleinen Erlebnisses klarlegen, welches für
    mich der Ausgangspunkt dieser Überlegungen war.

    Von den Ferien zurückgekehrt, richten sich meine Gedanken
    alsbald auf die Kranken, die mich in dem neu beginnenden
    Arbeitsjahre beschäftigen sollen. Mein erster Weg gilt einer sehr
    alten Dame, bei der ich (s. oben S. 182) seit Jahren die nämlichen
    ärztlichen Manipulationen zweimal täglich vornehme. Wegen
    dieser Gleichförmigkeit haben sich unbewußte Gedanken sehr
    häufig auf dem Wege zu der Kranken und während der
    Beschäftigung mit ihr Ausdruck verschafft. Sie ist über neunzig
    Jahre alt; es liegt also nahe, sich bei Beginn eines jeden Jahres
    zu fragen, wie lange sie wohl noch zu leben hat. An dem Tage,
    von dem ich erzähle, habe ich Eile, nehme also einen Wagen, der
    mich vor ihr Haus führen soll. Jeder der Kutscher auf dem
    Wagenstandplatz vor meinem Hause kennt die Adresse der alten
    Frau, denn jeder hat mich schon oftmals dahin geführt. Heute
    ereignete es sich nun, daß der Kutscher nicht vor ihrem Hause,
    sondern vor dem gleichbezifferten in einer nahegelegenen und
    wirklich ähnlich aussehenden Parallelstraße Halt macht. Ich merke
    den Irrtum und werfe ihn dem Kutscher vor, der sich entschuldigt.
    Hat das nun etwas zu bedeuten, daß ich vor ein Haus geführt

  • S.

    286

    werde, in dem ich die alte Dame nicht vorfinde? Für mich
    gewiß nicht, aber wenn ich abergläubisch wäre, würde ich
    in dieser Begebenheit ein Vorzeichen erblicken, einen Fingerzeig
    des Schicksals, daß dieses Jahr das letzte für die alte Frau sein
    wird. Recht viele Vorzeichen, welche die Geschichte aufbewahrt
    hat, sind in keiner besseren Symbolik begründet gewesen. Ich
    erkläre allerdings den Vorfall für eine Zufälligkeit ohne weiteren
    Sinn.

    Ganz anders läge der Fall, wenn ich den Weg zu Fuß gemacht
    und dann in „Gedanken“, in der „Zerstreutheit“ vor das Haus
    der Parallelstraße anstatt vors richtige gekommen wäre. Das
    würde ich für keinen Zufall erklären, sondern für eine der
    Deutung bedürftige Handlung mit unbewußter Absicht. Diesem
    „Vergehen“ müßte ich wahrscheinlich die Deutung geben, daß
    ich die alte Dame bald nicht mehr anzutreffen erwarte.

    Ich unterscheide mich also von einem Abergläubischen in
    folgendem:

    Ich glaube nicht, daß ein Ereignis, an dessen Zustandekommen
    mein Seelenleben unbeteiligt ist, mir etwas Verborgenes über die
    zukünftige Gestaltung der Realität lehren kann; ich glaube aber,
    daß eine unbeabsichtigte Äußerung meiner eigenen Seelentätigkeit
    mir allerdings etwas Verborgenes enthüllt, was wiederum nur
    meinem Seelenleben angehört; ich glaube zwar an äußeren
    (realen) Zufall, aber nicht an innere (psychische) Zufälligkeit. Der
    Abergläubische umgekehrt: er weiß nichts von der Motivierung
    seiner zufälligen Handlungen und Fehlleistungen, er glaubt, daß
    es psychische Zufälligkeiten gibt; dafür ist er geneigt, dem äußeren
    Zufall eine Bedeutung zuzuschreiben, die sich im realen Geschehen
    äußern wird, im Zufall ein Ausdrucksmittel für etwas draußen
    ihm Verborgenes zu sehen. Die Unterschiede zwischen mir und
    dem Abergläubischen sind zwei: erstens projiziert er eine Moti-
    vierung nach außen, die ich innen suche; zweitens deutet er den
    Zufall durch ein Geschehen, den ich auf einen Gedanken zurück-

  • S.

    287

    führe. Aber das Verborgene bei ihm entspricht dem Unbewußten
    bei mir, und der Zwang, den Zufall nicht als Zufall gelten zu
    lassen, sondern ihn zu deuten, ist uns beiden gemeinsam.1

    Ich nehme nun an, daß diese bewußte Unkenntnis und
    unbewußte Kenntnis von der Motivierung der psychischen Zufällig-
    keiten eine der psychischen Wurzeln des Aberglaubens ist. Weil
    der Abergläubische von der Motivierung der eigenen zufälligen
    Handlungen nichts weiß, und weil die Tatsache dieser Moti-
    vierung nach einem Platze in seiner Anerkennung drängt, ist er
    genötigt, sie durch Verschiebung in der Außenwelt unterzubringen.
    Besteht ein solcher Zusammenhang, so wird er kaum auf diesen
    einzelnen Fall beschränkt sein. Ich glaube in der Tat, daß ein
    großes Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in
    die modernsten Religionen hinein reicht, nichts anderes ist als
    in die Außenwelt projizierte Psychologie. Die dunkle
    Erkenntnis (sozusagen endopsychische Wahrnehmung) psychischer
    Faktoren und Verhältnisse2 des Unbewußten spiegelt sich — es
    ist schwer, es anders zu sagen, die Analogie mit der Paranoia

    1) Ich knüpfe hier ein schönes Beispiel an, an dem N. Ossipow die
    Verschiedenheit von abergläubischer, psychoanalytischer und mystischer Auffassung
    erörtert (Psychoanalyse und Aberglauben, Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse,
    VIII, 1922). Er hatte in einer kleinen russischen Provinzstadt geheiratet und fuhr
    unmittelbar nachher mit seiner jungen Frau nach Moskau. Auf einer Station, zwei
    Stunden vor dem Ziel, kam ihm der Wunsch, zum Ausgang des Bahnhofes zu gehen
    und einen Blick auf die Stadt zu werfen. Der Zug sollte nach seiner Erwartung
    genügend lange verweilen, aber als er nach wenigen Minuten zurückkam, war der
    Zug mit seiner jungen Frau bereits abgefahren. Als seine alte Njanja zu Hause von
    diesem Zufall erfuhr, äußerte sie kopfschüttelnd: „Aus dieser Ehe wird nichts
    Ordentliches.“ Ossipow lachte damals über diese Prophezeiung. Da er aber fünf
    Monate später von seiner Frau geschieden war, kann er nicht umhin, sein Verlassen
    des Zuges nachträglich als einen „unbewußten Protest“ gegen seine Eheschließung
    zu verstehen. Die Stadt, in welcher sich ihm diese Fehlleistung ereignete, gewann
    Jahre nachher eine große Bedeutung für ihn, denn in ihr lebte eine Person, mit
    welcher ihn später das Schicksal eng verknüpfte. Diese Person, ja die Tatsache
    ihrer Existenz war ihm damals völlig unbekannt. Aber die mystische Erklärung
    seinen Verhaltens würde lauten, er habe in jener Stadt den Zug nach Moskau und
    seine Frau verlassen, weil sich die Zukunft andeuten wollte. die ihm in der
    Beziehung zu dieser Person vorbereitet war.

    2) Die natürlich nichts vom Charakter einer Erkenntnis hat.

  • S.

    288

    muß hier zu Hilfe genommen werden — in der Konstruktion
    einer übersinnlichen Realität, welche von der Wissen-
    schaft in Psychologie des Unbewußten zurückverwandelt
    werden soll. Man könnte sich getrauen, die Mythen vom Paradies
    und Sündenfall, von Gott, vom Guten und Bösen, von der
    Unsterblichkeit u. dgl. in solcher Weise aufzulösen, die Meta-
    physik in Metapsychologie umzusetzen. Die Kluft zwischen
    der Verschiebung des Paranoikers und der des Abergläubischen
    ist minder groß, als sie auf den ersten Blick erscheint. Als die
    Menschen zu denken begannen, waren sie bekanntlich genötigt,
    die Außenwelt anthropomorphisch in eine Vielheit von Persönlich-
    keiten nach ihrem Gleichnis aufzulösen; die Zufälligkeiten, die
    sie abergläubisch deuteten, waren also Handlungen, Äußerungen
    von Personen, und sie haben sich demnach genau so benommen
    wie die Paranoiker, welche aus den unscheinbaren Anzeichen, die
    ihnen die anderen geben, Schlüsse ziehen, und wie die Gesunden
    alle, welche mit Recht die zufälligen und unbeabsichtigten Hand-
    lungen ihrer Nebenmenschen zur Grundlage der Schätzung ihres
    Charakters machen. Der Aberglaube erscheint nur so sehr
    deplaciert in unserer modernen, naturwissenschaftlichen, aber noch
    keineswegs abgerundeten Weltanschauung; in der Weltanschauung
    vorwissenschaftlicher Zeiten und Völker war er berechtigt und
    konsequent.

    Der Römer, der eine wichtige Unternehmung aufgab, wenn
    ihm ein widriger Vogelflug begegnete, war also relativ im Recht;
    er handelte konsequent nach seinen Voraussetzungen. Wenn er
    aber von der Unternehmung abstand, weil er an der Schwelle
    seiner Tür gestolpert war („un Romain retournerait“), so war er
    uns Ungläubigen auch absolut überlegen, ein besserer Seelen-
    kundiger, als wir uns zu sein bemühen. Denn dieses Stolpern
    mußte ihm die Existenz eines Zweifels, einer Gegenströmung in
    seinem Innern beweisen, deren Kraft sich im Moment der
    Ausführung von der Kraft seiner Intention abziehen konnte. Des

  • S.

    289

    vollen Erfolges ist man nämlich nur dann sicher, wenn alle
    Seelenkräfte einig dem gewünschten Ziel entgegenstreben. Wie
    antwortet Schillers Tell, der so lange gezaudert, den Apfel
    vom Haupte seines Knaben zu schießen, auf die Frage des Vogts,
    wozu er den zweiten Pfeil eingesteckt?

    Mit diesem Pfeil durchbohrt’ ich — Euch,
    Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte,
    Und Euer — wahrlich — hätt’ ich nicht gefehlt.

    D) Wer die Gelegenheit gehabt hat, die verborgenen Seelen-
    regungen der Menschen mit dem Mittel der Psychoanalyse zu
    studieren, der kann auch über die Qualität der unbewußten
    Motive, die sich im Aberglauben ausdrücken, einiges Neue sagen.
    Am deutlichsten erkennt man bei den oft sehr intelligenten, mit
    Zwangsdenken und Zwangszuständen behafteten Nervösen, daß
    der Aberglaube aus unterdrückten feindseligen und grausamen
    Regungen hervorgeht. Aberglaube ist zum großen Teile Unheils-
    erwartung, und wer anderen häufig Böses gewünscht, aber infolge
    der Erziehung zur Güte solche Wünsche ins Unbewußte verdrängt
    hat, dem wird es besonders nahe liegen, die Strafe für solches
    unbewußte Böse als ein ihm drohendes Unheil von außen zu
    erwarten.

    Wenn wir zugeben, daß wir die Psychologie des Aberglaubens
    mit diesen Bemerkungen keineswegs erschöpft haben, so werden
    wir auf der anderen Seite die Frage wenigstens streifen müssen,
    ob denn reale Wurzeln des Aberglaubens durchaus zu bestreiten
    seien, ob es gewiß keine Ahnungen, prophetische Träume, tele-
    pathische Erfahrungen, Äußerungen übersinnlicher Kräfte und
    dergleichen gebe. Ich bin nun weit davon entfernt, diese Phäno-
    mene überall so kurzerhand aburteilen zu wollen, über welche
    so viele eingehende Beobachtungen selbst intellektuell hervor-
    ragender Männer vorliegen, und die am besten die Objekte
    weiterer Untersuchungen bilden sollen. Es ist dann sogar zu

  • S.

    290

    hoffen, daß ein Teil dieser Beobachtungen durch unsere beginnende
    Erkenntnis der unbewußten seelischen Vorgänge zur Aufklärung
    gelangen wird, ohne uns zu grundstürzenden Abänderungen
    unserer heutigen Anschauungen zu nötigen.1 Wenn noch andere,
    wie z. B. die von den Spiritisten behaupteten Phänomene,
    erweisbar werden sollten, so werden wir eben die von der neuen
    Erfahrung geforderten Modifikationen unserer „Gesetze“ vornehmen,
    ohne an dem Zusammenhang der Dinge in der Welt irre zu
    werden.

    Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen kann ich die nun
    aufgeworfenen Fragen nicht anders als subjektiv, d. i. nach meiner
    persönlichen Erfahrung, beantworten. Ich muß leider bekennen,
    daß ich zu jenen unwürdigen Individuen gehöre, vor denen die
    Geister ihre Tätigkeit einstellen und das Übersinnliche entweicht,
    so daß ich niemals in die Lage gekommen bin, selbst etwas zum
    Wunderglauben Anregendes zu erleben. Ich habe wie alle Menschen
    Ahnungen gehabt und Unheil erfahren, aber die beiden wichen
    einander aus, so daß auf die Ahnungen nichts folgte und das
    Unheil unangekündigt über mich kam. Zur Zeit, als ich, ein
    junger Mann, allein in einer fremden Stadt lebte, habe ich oft
    genug meinen Namen plötzlich von einer unverkennbaren, teuren
    Stimme rufen hören und mir dann den Zeitmoment der Halluzi-
    nation notiert, um mich besorgt bei den Daheimgebliebenen zu
    erkundigen, was um jene Zeit vorgefallen. Es war nichts. Zum
    Ersatz dafür habe ich später ungerührt und ahnungslos mit
    meinen Kranken gearbeitet, während mein Kind einer Verblutung
    zu erliegen drohte. Es hat auch keine der Ahnungen, von denen
    mir Patienten berichtet haben, meine Anerkennung als reales
    Phänomen erwerben können. Doch muß ich gestehen, daß ich
    in den letzten Jahren einige merkwürdige Erfahrungen gemacht

    1) E. Hitschmann, Zur Kritik des Hellsehens, Wiener Klinische Rundschau, 1910,
    Nr. 6, und Ein Dichter und sein Vater, Beitrag zur Psychologie religiöser Bekehrung
    und telepathischer Phänomene, Imago, IV, 1915/16.

  • S.

    XII. Detzrminismw, Zufalls— und Aberglaubm, a„am„„„m 991

    habe, die durch die Annahme telepathiseher Gedankenübertragung
    leichte Aufklärung gefunden hätten.

    Der Glaube an prophetische Träume fihlt viele Anhänger,
    weil er sich darauf stützen kann, daß manches sich wirklich in
    der Zukunft so gestaltet, wie es der Wunsch im Traume vorher
    knnstruiert hat.’ Allein daran ist wenig zu verwundern, und
    zwischen dem Traum und der Erfüllung lassen sich in der Regel
    noch weitgehende Abweichungen nachweisen, welche die Gläubig-
    keit der Träumer zu vernachlässigen liebt. Ein schönes Beispiel
    eines mit Recht propheü'sch zu nennenden Traumes bot mir
    einmal eine intelligente und wahrheitsliebende Patientin zur
    genauen Analyse. Sie erzählte, daß sie einmal geträumt, sie treffe
    ihren früheren Freund und Hausarzt vor einem bestimmten
    Laden einer gewissen Straße, und als sie am nächsten Morgen
    in die innere Stadt ging, traf sie ihn wirklich an der imTraume
    genannten Stelle. Ich bemerke, daß dieses Wunderbare Zusammenv
    treffen seine Bedeutung durch kein nachfolgendes Erlebnis erwies,
    also nicht aus dem Zukünftigen zu rechtfertigen war.

    Das sorgfältige Examen stellte fest, daß kein Beweis dafür
    vorliege, die Dame habe den Traum bereits am Morgen nach
    der Traumnacht‚ also vor. dem Spaziergang und der Begegnung,
    erinnert. Sie konnte nichts gegen eine Darstellung des Sach-
    verhaltes einwenden, die der Begehenheit alles Wunderbare nimmt
    und nur ein interessantes psychologisches Problem übrig läßt. Sie
    ist eines Vormittags durch die gewisse Straße gegangen, hat vor
    dem einen Laden ihren alten Hausarzt begegnet und nun bei
    seinem Anblick die Überzeugung bekommen, daß sie die letzte
    Nacht von diesem Zusammentreifen an der nämlichen Stelle
    geträumt habe. Die Analyse konnte dann mit großer Wahrschein—
    lichkeit andeuten, wie sie zu dieser Überzeugung gekommen war,
    welcher man ja nach allgemeinen Regeln ein gewisses Anrecht

    ;) Vg1‚ r„„a‚ Traum und Telepathie (Image, vm. 19„. Enthalten in Bd, in
    dieser Gesamtausgabe).

    19'

  • S.

    292 Zur P:ychopatholagie de: Alltagst

    auf Glaubwürdigkeit nicht versagen darf. Ein Zusammentreffen
    am bestimmten Orte nach vorheriger Erwartung, das ist ja der
    Tatbestand eines Rendezvous. Der alte Hausarzt rief die Erinnerung
    an alte Zeiten in ihr wach, in denen Zusammenkünfte mit einer
    dritten, auch dem Arzt befreundeten Person für sie bedeutungs»
    voll gewesen waren. Mit diesem Herrn war sie seitdem in Verkehr
    geblieben und hat am Tage vor dem angeblichen Traum vergeb—
    lich auf ihn gewartet. Könnte ich die hier vorliegenden Bezie-
    hungen ausführlicher mitteilen, so wäre es mir leicht zu zeigen,
    daß die Illusion des prophet'ischen Traumes beim Anblick des
    Freundes aus früherer Zeit äquivalent ist etwa folgender Rede:
    „Ach, Herr Doktor, Sie erinnern mich jetzt an vergangene Zeiten,
    in denen ich niemals vergeblich auf N. zu warten brauchte, wenn
    wir eine Zusammenkunft bestellt hatten.“

    Von jenem bekannten „merkwürdigen Zusammentreffen“, daß
    man einer Person begegnet, mit welcher man sich gerade in
    Gedanken beschäftigt hat, habe ich bei mir selbst ein einfaches
    und leicht zu deutendes Beispiel beobachtet, welches wahrschein-
    lich ein gutes Vorbild für ähnliche Vorfälle ist. Wenige Tage,
    nachdem mir der Titel eines Professors verliehen werden war,
    der in monarchisch eingerichteten Staaten selbst viel Autorität
    verleiht, lenkten während eines Spazierganges durch die innere
    Stadt meine Gedanken plötzlich in eine kindjsche Rachephantasie
    ein, die sich gegen ein gewisses Elternpaar richtete. Diese hatten
    mich einige Monate vorher zu ihrem Töchterchen gerufen, bei
    dem sich eine interessante Zwangseischeinung im Anschluß an
    einen Traum eingestellt hatte. Ich brachte dem Falle, dessen
    Genese ich zu durchschauen glaubte, ein großes Interesse entgegen;
    meine Behandlung wurde aber von den Eltern abgelehnt und mir
    zu verstehen gegeben, daß man sich an eine ausländische Autorität,
    die mittels Hypnotismus heile, zu wenden gedenke. Ich phanta-
    sierte nun, daß die Eltern nach dem völligen Mißglücken dieses
    Versuches mich bäten, mit meiner Behandlung einzusetzen, sie

  • S.

    XII. Detzrminirmus‚ z.;f„u;- und Ab„glm„5m‚ Gesichtspunkt: 995

    hätten jetzt volles Vertrauen zu mir usw. Ich aber antwortete:
    Ja, jetzt, nachdem ich auch Professor geworden bin' haben Sie
    Vertrauen. Der Titel hat an meinen Fähigkeiten weiter nichts
    geändert; wenn Sie mich als Dozenten nicht brauchen konnten,
    können Sie mich auch als Professor entbehren. — An dieser
    Stelle wurde meine Phantasie durch den lauten Gruß „Habe
    die Ehre, Herr Professor“ unterbrochen, und als ich aufschante,
    ging das nämliche Elternpaar an mir vorüber, an dem ich soeben
    durch die Abweisung ihres Anerbietens Rache genommen hatte.
    Die nächste Überlegung zerstörte den Anschein des Wunderbaren.
    Ich ging auf einer geraden und breiten, fast menschenleeren
    Straße jenem Paar entgegen, hatte bei einem flüchtigen Auf—
    schauen, vielleicht zwanzig Schritte von ihnen entferne ihre
    stattlichen Persönlichkeiten erblickt und erkannt, diese VVahr—
    nehmung aber — nach dem Muster einer negativen Halluzination
    — aus jenen Gefühlsinotiven beseitigt, die sich dann in der
    anscheinend spontan auftauchenden Phantasie zur Geltung
    brachten.

    Eine andere „Auflösung einer scheinbaren Vorahnung“ berichte
    ich nach Otto Rank: .

    „Vor einiger Zeit erlebte ich selbst eine seltsame Variation
    jenes ‚merkwürdigen Zusammentreffens‘, wobei man einer Person
    begegnet, mit: welcher man sich gerade in Gedanken besch" ‘gt
    hat. Ich gehe unmittelbar vor Weihnachten in die Österreichische
    Ungarische Bank, um mit zehn neue Silberkronen zu Geschenk-
    zwecken einzuwechseln. In ehrgeizige Phantasien versunken,
    die an den Gegensatz meiner geringen Barschaft zu den im
    Bankgebäude aufgestapelten Geldmassen anknüpfen, biege ich
    in die schmale Bankgasse ein, wo die Bank gelegen ist. Vor
    dem Tor sehe ich ein Automobil stehen und viele Leute aus
    und ein gehen. Ich denke mir, die Beamten werden gerade
    für meine paar Kronen Zeit haben; ich werde es jedenfalls
    rasch abmachen, die zu wechselnde Geldnote hinlegen und

  • S.

    994 Zur Psychopatlwhgiz des Alltagslesz

    sagen: Bitte, geben Sie mir Gold! — Sogleich bemerke ich
    meinen Irrtum — ich sollte ja Silber verlangen —— und
    erwache aus meinen Phantasien. Ich befinde mich nur noch
    wenige Schritte vom Eingang entfernt und sehe einen jungen
    Mann mir entgegenkommen, der mir bekannt vorkommt, den ich
    jedoch wegen meiner Kurzsichtigkeit noch nicht mit Sicherheit
    zu erkennen vermag. Wie er näher kommt, erkenne ich in ihm
    einen Schulltollegen meines Bruders, namens Gold, von dessen
    Bruder, einem bekannten Schriftsteller, ich zu Beginn meiner
    literarischen Laufbahn weitgehende Förderung erwartet hatte.
    Sie blieb jedoch aus und mit ihr auch der erhoffte materielle
    Erfolg, mit dem sich meine Phantasie auf dem Wege zur Bank
    beschäftigt hatte. Ich muß also, in meine Phantasien versunken,
    das Herannahen des Herrn Gold unbewußt appenipiert haben,
    was sich meinem von materiellen Erfolgen träumenden Bewußt-
    sein in der Fonn dar-stellte, daß ich beschloß, am Kassenschalter
    Gold —— statt des minderwertigen Silbers —— zu verlangen. Ander—
    seits scheint aber auch die paradoxe Tatsache, daß mein -Unbe—
    wußtes ein Objekt wahrzunehmen imstande ist, welches meinem
    Auge erst später erkennbar wird, zum Teil aus der Komplex»
    bereitschafi (Bleuler) erklärlioh, die ja aufs Materielle eingestellt
    war und meine Schritte gegen mein besseres Wissen von Anfang an
    nach jenem Gebäude gelenkt hatte, wo nur die Gold- und Papier—
    geldverwechslung stattfindet“ (Zentralblatt für Psychoanalyse, II, 5).

    In die Kategorie des Wunderbaren und Unheimlichen gehört
    auch jene eigentümliche Empfindung, die man in manchen
    Momenten und Situationen verspürt‚ als ob man genau das
    nämliche schon einmal erlebt hätte, sich in derselben Lage schon
    einmal befunden hätte, ohne daß es je dem Bemühen gelingt,
    das Frühere, das sich so anzeigt, deutlich zu erinnern. Ich weiß,
    daß ich bloß dem lockeren Sprachgebrauch folge, wenn ich das7
    was sich in solchen Momenten in einem regt, eine Empfindung
    heiße; es handelt sich wohl um ein Urteil, und zwar ein

  • S.

    XII. thzrminismus‚ Zufulls- und Aberglauben‚ Gesichtspunkte 295

    Erkennungsuxteil, aber diese Fälle haben doch einen ganz eigen-
    tümlichen Charakter, und daß man sich niemals an das Gesuchte
    erinnert, darf nicht beiseite gelassen werden. Ich weiß nicht7 ob
    dies Phänomen des „de'jä vu“ im Ernst zum Erweis einer
    früheren psychischen Existenz des Einzelvvesens herangezogen
    werden ist; wohl aber haben die Psychologen ihm ihr Interesse
    zugewendet und die Lösung des Rätsels auf den mannigfaltigsten
    spekulativen Wegen angestrebt. Keiner der beigebrachten Erklärungs-
    versuche scheint mir richtig zu sein, weil in keinem etwas anderes
    als die Begleiterscheinungen und begünstigenden Bedingungen des
    Phänomens in Betracht gezogen wird. Jene psychischen Vorgänge,
    welche nach meinen Beobachtungen allein für die Erklärung
    des „de'jä vu“ verantwortlich sind, die unbewußten Phantasien
    nämlich, werden ja heute noch von den Psychologen allgemein
    vernachlässigt.

    Ich meine, man tut unrecht, die Empfindung des schon einmal
    Erlebtliabens als eine Illusion zu bezeichnen. Es wird vielmehr
    in solchen Momenten wirklich an etwas gerührt, was man bereits
    einmal erlebt hat, nur kann dies letztere nicht bewußt erinnert
    werden, weil es niemals bewußt war. Die Empfindung des „déjä
    vu“ entspricht, kurz gesagt, der Erinnerung an eine unbewußte
    Phantasie. Es gibt unbewußte Phantasien (oder Tagträume), wie
    es bewußte solche Schöpfungen gibt, die ein jeder aus seiner
    eigenen Erfahrung kennt.

    Ich weiß, daß der Gegenstand der eingehendsten Behandlung
    würdig wäre, will aber hier nur die Analyse eines einzigen
    Falles von „de'jä vu“ anführen‚ in dem sich die Empfindung
    durch besondere Intensität und Ausdauer auszeichnete. Eine jetzt
    57jäh.rige Dame behauptet, daß sie sich aufs schärfste erinnere,
    im Alter von zwölfeinhalb Jahren habe sie einen ersten Besuch
    bei Schulfreundinnen auf dem Lande gemacht, und als sie in den
    Garten eintrat, sofort die Empfindung gehabt, hier sei sie schon
    einmal gewesen; diese Empfindung habe sich, als sie die Wohn-

  • S.

    296 Zur Psychaparhalagr'e das Alltagsleben:

    räume betrat, wiederholt, so daß sie vorher zu wissen glaubte,
    welcher Raum der nächste sein würde, welche Aussicht man
    von ihm aus haben werde usw. Es ist aber ganz ausgeschlossen
    und durch ihre Erkundigung bei den Eltern widerlegt, daß dieses
    Bekanntheitsgefühl in einem früheren Besuch des Hauses und
    Gartens, etwa in ihrer ersten Kindheit, seine Quelle haben könnte.
    Die Dame, die das berichtete, suchte nach keiner psychologischen
    Erklärung, sondern sah in dem Auftreten dieser Empfindung
    einen prophetischen Hinweis auf die Bedeutung, welche eben
    diese Freundinnen später für ihr Gefühlsleben gewannen. Die
    Erwägung der Umstände, unter denen das Phänomen bei ihr
    auftrat, zeigt uns aber den Weg zu einer anderen Auflassung.
    Als sie den Besuch unternahm, wußte sie, daß diese Mädchen
    einen einzigen, schwerkranken Bruder hatten. Sie bekam ihn bei
    dem Besuch auch zu Gesichte, fand ihn sehr schlecht aussehend
    und dachte sich, daß er bald sterben werde. Nun war ihr eigener
    einziger Bruder einige Monate vorher an Diphtherie gefährlich
    erkrankt gewesen; während seiner Krankheit hatte sie vom
    Elternhause entfernt wochenlang bei einer Verwandten gewohnt.
    Sie glaubt, daß der Bruder diesen Inndbesuch mitmachte, meint
    sogar, es sei sein erster größerer Ausflug nach der Krankheit
    gewesen; doch ist ihre Erinnerung in diesen Punkten merk»
    würdig unbestimmt, während alle anderen Details, und besonders
    das Kleid1 das sie an jenem Tag trug, ihr überdeutlich vor Augen
    stehen. Dem Kundigen wird es nicht schwer fallen, aus diesen
    Anzeichen zu schließen, daß die Erwartung, ihr Bruder werde
    sterben, bei dem Mädchen damals eine große Rolle gespielt hatte
    und entweder nie bewußt geworden oder nach dern glücklichen
    Ausgang der Krankheit energischer Verdrängung verfallen war.
    Im anderen Falle hätte sie ein anderes Kleid, nämlich Trauer-
    kleidung tragen müssen. Bei den Freundinnen fand sie nun die
    analoge Situation vor, den einn'gen Bruder in Gefahr bald zu
    sterben, wie es auch kun darauf wirklich eintraf. Sie hätte bewußt

  • S.

    XII. Dezermbnismu.s‚ z„f„zz„- und Aberglauben, Gcsl'chtspunklz 297

    erinnern sollen., daß sie diese Situation vor wenigen Monaten
    selbst durchlebt hatte; anstatt dies zu erinnern, was durch die
    Verdrängung verhindert war, übertrug sie das Erinnerungsgefühl
    auf die Lokalitäten, Garten und Haus, und verfiel der „fausse
    remnnaissance“, daß sie das alles genau ebenso schon einmal
    gesehen habe. Aus der Tatsache der Verdrängung dürfen wir
    schließen, daß die seinerzeitige Erwartung, ihr Bruder werde
    sterben, nicht weit entfernt vom Charakter einer Wunschphantasie
    gewesen war. Sie wäre dann das einzige Kind geblieben. In ihrer
    späteren Neurose litt sie in intensivster Weise unter der Angst,
    ihre Eltern zu verlieren, hinter welcher die Analyse wie gewöhnlich
    den unbewußten Wunsch des gleichen Inhalts aufdecken konnte.

    Meine eigenen flüchtigen Erlebnisse von „zie'j4‘z vu“ habe ich
    mir in ähnlicher Weise aus der Gefühlskonstellation des Moments
    ableiten können. „Das wäre wieder ein Anlaß, jene (unbewußte
    und unbekannte) Phantasie zu wecken, die sich damals und damals
    als Wunsch zur Verbesserung der Situation in mir gebildet hat.“
    Diese Erklärung des „de'jz‘z vu“ ist bisher nur von einem einzigen
    Beobachter gewürdigt werden. Dr. Ferenczi, dem die dritte
    Auflage dieses Buches so viel wertvolle Beiträge verdankt, schreibt
    mir hierüber: „Ich habe mich sowohl bei mir als auch bei anderen
    davon überzeugt, daß das unerklärliche Bekanntheitsgefühl auf
    unbevvußte Phantasien zurückzuführen ist, an die man in einer
    aktuellen Situation unbewußt erinnert wird. Bei einem meiner
    Patienten ging es anscheinend anders, in Wirklichkeit aber ganz
    analog zu. Dieses Gefühl kehrte bei ihm sehr oft wieder, erwies sich
    aber regelmäßig als von einem vergessenen (verdrängten)
    Traumstück der vergangenen Nacht herrührend. Es scheint
    also, daß das „de'jä Du“ nicht nur von Tagträumen, sondern
    auch von nächtlichen Träumen abstarnmen kann.“

    Ich habe später erfahren, daß G»rasset 1904 eine Erklärung
    des Phänomens gegeben hat, welche der meinigen sehr nahe
    kommt.

  • S.

    298 Zur Psychopazholngiz de.. Alltagsleben:

    Im Jahre 1915 habe ich in einer kleinen Abhandlung’ ein
    anderes Phänomen beschrieben, welches dem „de'/'!) un“
    recht nahe steht. Es ist das „dz'jä nannte“, die Illusion,
    etwas bereits mitgeteilt zu haben, die besonders interessant ist7
    wenn sie während der psychoanalytischen Behandlung auftritt.
    Der Patient behauptet dann mit allen Anzeichen subjektiver
    Sicherheit, daß er eine bestimmte Erinnerung schon längst
    erzählt hat. Der Arzt ist aber des Gegenteils sicher und kann
    den Patienten in der Regel seines Irrtums überführen. Die
    Erklärung dieser interessanten Fehlleistung ist wohl die, daß der
    Patient den Impuls und Vorsatz gehabt hat, jene Mitteilung zu
    machen, aber versäumt hat, ihn auszuführen und daß er jetzt
    die Erinnerung an die ersteren als Ersatz für das letztere, die
    Ausführung des Vorsatzes, setzt.

    Einen ähnlichen Tatbestand, wahrscheinlich auch den gleichen
    Mechanismus, zeigen die von Ferenczi so benannten „ver-
    meintlichen Fehlhandlungen“? Man glaubt, etwas — einen
    Gegenstand ‚_ vergessen, verlegt, verloren zu haben und kann
    sich überzeugen, daß man nichts dergleichen getan hat, daß alles
    in Ordnung ist. Eine Patientin kommt z. B. ins Zimmer des
    Arztes zurück mit der Mutivierung, sie wolle den Regenschirm
    holen, den sie dort stehen gelassen habe, aber der Arzt bemerkt7
    daß sie ja diesen Schirm — in der Hand hält. Es bestand also
    der Impuls zu einer solchen Fehlleistung und dieser genügte,
    um deren Ausführung zu ersetzen. Bis auf diesen Unterschied
    ist die vermeintliche Fehlleistung der wirklichen gleichmstellen.
    Sie ist aber sozusagen wohlfeiler.

    E) Als ich unlängst Gelegenheit hatte, einem philosophisch
    gebildeten Kollegen einige Beispiele von Namenvergessen mit.
    1) Über fausn munmu'ssnnn („Mia movmé”) wihrend rler p1ychaunalyfischm

    Arbeit. (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, I, 1515. Furthnlten in Band vr

    dieser Ge1mnsusgube.>
    2) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, in, 1915,

  • S.

    XII. Dmmi„i:„„‚ z„f„zu— und Aberglauben, Gesichtspunkte 299

    Analyse vorzutragen, beeilte er sich zu erwidern: Das ist sehr
    schön, aber bei mir geht das Namenvergessen anders zu. So leicht
    darf man es sich offenbar nicht machen; ich glaube nicht, daß
    mein Kollege je vorher an eine Analyse bei Namenvergessen
    gedacht hatte; er konnte auch nicht sagen, wie anders es bei ihm
    zugehe. Aber seine Bemerkung berührt doch ein Problem, welches
    viele in den Vordergrund zu stellen geneigt sein werden. Trifft
    die hier gegebene Auflösung der Fehl— und Zufallshandlungen
    allgemein zu oder nur vereinzelt, und wenn letzteres, welches
    sind die Bedingungen, unter denen sie zur Erklärung der auch
    anderswie ermöglichten Phänomene herangezogen werden darf?
    Bei der Beantwortung dieser Frage lassen mich meine Erfahrungen
    im Stiche. Ich kann nur davon abmahnen, den aufgezeigten
    Zusammenhang für selten zu halten, denn so oft ich bei mir
    selbst und bei meinen Patienten die Probe angestellt, hat er sich
    wie in den mitgeteilten Beispielen sicher nachweisen lassen, oder
    haben sich wenigstens gute Gründe, ihn zu vermuten, ergeben.
    Es ist nicht zu verwundern, wenn es nicht alle Male gelingt,
    den verborgenen Sinn der Symptomhandlung zu finden, da die
    Größe der inneren Widerstände, die sich der Lösung widersetzen,
    als entscheidender Faktor in Betracht kommt Man ist auch nicht
    imstande, bei sich selbst oder bei den Patienten jeden einzelnen
    Traum zu deuten, es genügt, um die Allgemeingültigkeit der
    Theorie zu bestätigen, wenn man nur ein Stück weit in den
    verdeckten Zusammenhang einzudringen vermag. Der Traum,
    der sich beim Versuche, ihn am Tage nachher zu lösen, refi‘aktär
    zeigt, läßt sich oh eine Woche oder einen Monat später sein
    Geheimnis entreißen, wenn eine unterdes erfolgte reale Verän-
    derung die miteinander streitenden psychischen Wertigkeiten
    herabgesetzt hat. Das nämliche gilt für die Lösung der Fehl-
    und Symptomhandlungen; das Beispiel von Verlesen „Im Faß
    durch Europa“ (auf Seite 119) hat mir die Gelegenheit gegeben
    zu zeigen, wie ein anfänglich unlösbares Symptom der Analyse

  • S.

    500 Zur Psywhvpathologie des Allragslebcru

    zugänglich wird, wenn das reale Interesse an den ver—
    drängten Gedanken nachgelassen hat.‘ Solange die Möglichkeit
    bestand, daß mein Bmder den heneideten Titel vor mir erhalte,
    Widerstand das genannte Verlesen allen wiederholten Bemühungen
    der Analyse; nachdem es sich herausgestth hatte, daß diese
    Bevorzugung unwahrscheinlich sei, klärte sich mir plötzlich der
    Weg, der zur Auflösung desselben führte. F; wäre also unlichtig,
    von all den Fällen, welche der Analyse widerstehen, zu behaupten,
    sie seien durch einen anderen als den hier aufgedeckten psychi—
    schen Mechanismus entstanden; es brauchte für diese Annahme
    noch andere als negative Beweise. Auch die bei Gesunden wahr—
    scheinlich allgemein vorhandene Bereitwilligkeit, an eine andere
    Erklärung der Fehl- und Sympwmhnndlungen zu glauben, ist
    jeder Beweiskraft bar; sie ist7 wie selbstverständlich, eine Äuße—
    rung derselben seelischen Kräfte, die das Geheimnis hergestellt
    haben und die sich darum auch für dessen Bewahrung einsetzen,
    gegen dessen Aufhellung aber Sträuben.

    Auf der anderen Seite dürfen wir nicht übersehen, daß die
    verdrängten Gedanken und Begungen sich den Ausdruck in
    Symptom— und Fehlbandlnngen ja nicht selbständig schaffen
    Die technische Möglichkeit für solches Ausgleiten der Inner-
    vstionen muß unabhängig von ihnen gegeben sein; diese wird
    dann van der Absicht des Vexdrängten, zu: bewußten Geltung
    zu kommen, gern ausgenützt. Welche Struktur- und Funktions-
    relationen es sind, die sich solcher Absicht zur Verfügung stellen,
    das haben für den Fall der sprachlichen Fehlleistung eingehende

    1) Hier knüpfen uhr interessante Probleme ökonomitcher Nntur m. man,
    welche auf die Tntnehe Rücklicht nehmen, daß die psychischen Abliufe auf Luiz-
    gewinn und Un'lusuuflxebung fielen. Es m bereits ein ökonnmilnhu Problem, wie
    ei möglich wird inen durch ein Unlustznofiv vergessenen Nimm auf dem Wege
    mmander Anni 'onan wiederzuguwinnen. Eine schöne Arbeit von Tnuk („Em-
    wemiiig de. Venlrängungsmolz'vs durch Bekompense". Internationale Zn'uclm‘ft für
    Plychonnnlyu‚ ], ig;5> zeigt an guten Beispielen, wie det vergessen: Name wieder
    zugänglich wird, wenn „ gelungen in, ihn in eine 1u'‚zbmm Auozi.iion einzu-
    huieh=n‚ die der bei der Reproduktion iu erwartenden Unhm die nge mm. kann.

  • S.

    XII. Demminismw, Zufallv- und Abzrgüzuben, Gesichtspunkte 5a;

    Untersuchungen der Philosophen und Philologen festzustellen
    sich bemüht. Unterscheiden wir so an den Bedingungen der
    ‘ehl- und Symptomhandlung das unbewußte Motiv von den ihm
    entgegenkommenden physiologischen und psychophysischen Rela—
    tionen, so bleibt die Frage offen, ob es innerhalb der Breite der
    Gesundheit noch andere Momente gibt, welche wie das unbe-
    wußte Motiv und an Stelle desselben, auf dem Wege dieser
    Relationen die Fehl— und Symptomhandluugen zu erzeugen ver-
    mögen. Es ist nicht meine Aufgabe, diese Frage zu beantworten.

    Es liegt übrigens auch nicht in meiner Absicht, die Verschieden-
    heiten zwischen der psychoanaly'tischen und der landläufigen
    Auffassung der Fehlleistungen, die ja groß genug sind, noch zu
    übertreiben. Ich möchte vielmehr auf Fälle hinweisen, in denen
    diese Unterschiede viel von ihrer Schärfe einbüßen. Zu den ein—
    fachsten und unauffälligsten Beispielen des Versprechens und
    Verschreibens, bei denen etwa nur Worte zusammengezogen
    oder Worte und Buchstaben ausgelassen werden, entfallen die
    komplizierteren Deutungen. Vom Standpunkt der Psychoanalyse
    muß man behaupten, daß in diesen Fällen sich irgendeine
    Störung der Intention angezeigt hat7 kann aber nicht angeben,
    woher die Störung stammte und was sie beabsichtigte. Sie
    brachte eben nichts anderes zustande, als ihr Vorhandensein zu
    bekunden. In denselben Fällen sieht man dann auch die von
    uns nie bestrittenen Begünstigungen der Fehlleistung durch laut
    liche Wertverhältnisse und naheliegende psychologische Assozia
    tionen in Wirksamkeit treten. Es ist aber eine billige wisen-
    schaftliche Forderung, daß man solche rudimentäre Fälle von
    Versprechen oder Verschreiben nach den besser ausgeprägten
    beurteile, deren Untersuchung so unzweideutige Aufschlüsse über
    die Verursachung der Fehlleistungen ergibt.

    F) Seit den Erörterungen über das Versprechen haben wir uns
    begnügt zu beweisen, daß die Fehlleistlmgen eine verborgene

  • S.

    509 Zur Psyßhapatholagie des Alltagskbzns

    Motivierung haben, und uns mit dem Hilfsmittel der Psychoanalyse
    den Weg zur Kenntnis dieser Motivierung gebahnt, Die allgemeine
    Natur und die Besonderheiten der in den Fehlleistungen zum
    Ausdruck gebrachten Psychischen Faktoren haben wir bisher fast
    ohne Berücksichtigung gelassen, jedenfalls nach nicht versucht,
    dieselben näher zu bestimmen und auf ihre Geselzmäßigkeit zu
    prüfen. Wir werden auch jetzt keine gründliche Erledigung des
    Gegenstandes versuchen, denn die ersten Schritte werden uns bald
    belehrt haben, daß man in dieses Gebiet besser von anderer Seite
    einzudringen vermag.‘ Man kann sich hier mehrere Fragen vorlegen,
    die ich Wenigstens anfiihren und in ihrem Umfang umschreiben
    will. 1.) Welches Inhalts und welcher Herkunft sind die Gedanken
    und Regungen, die sich durch die Fehl- und Zufallshandlungen
    andeuten? 2.) Welches sind die Bedingungen dafür, daß ein Gedanke
    oder eine Regung genötigt und in den Stand gesetzt werde, sich
    dieser Vorfälle als Ausdrucksmittel zu bedienen? 5.) Lassen sich
    konstante und eindeutige Beziehungen zwischen der Art dt?!
    Fehlleistungen und den Qualitäten des durch sie zum Ausdruck
    Gebrachten nachweisen?

    Ich beginne damit, einiges Material zur Beantwortung der letzten
    Frage zusammenzutragen. Bei der Erörterung der Beispiele von
    Versprechen haben wir es für nötig gefunden, über den Inhalt
    der intendierten Rede hinauszugehen, und haben die Ursache
    der Redestörung außerhalb der Intention suchen müssen. Dieselbe
    lag dann in einer Reihe von Fällen nahe und war dem Bewußtsein
    des Sprechenden bekannt. In den scheinbar einfachsten und durch-
    sichtigsten Beispielen war es eine gleichberechtigt klingende, andere
    Fassung desselben Gedankens, die dessen Ausdruck störte, ohne
    daß man hätte angeben können, warum die eine unterlegen‚ die
    andere durchged.rungen war (Kontaminationen von Meringer

    ]) Diese Schrift ist durchaus populär gehalten, will nur durch eine Hänfung von Bei-
    spielen den Weg für die notwendige Annahme unhewuß ter un d do ch wirk-
    s a m e r seelischer Vorgänge ahnen und vermeidet alle theoretischen Erwägungen
    über die Natur dieser Unhewußten.

  • S.

    XII, Determinismus, Zufalb— und Abzrglaulzzn‚ Gerichtspunktz 505

    und Mayer). In einer zweiten Gruppe von Fällen war das
    Unterliegen der einen Fassung motiviert durch eine Rücksicht,
    die sich aber nicht stark genug zur völligen Zurückhaltung erwies
    („zum Vorschwein gekommen“). Auch die zurückgehaltene Fassung
    war klar bewußt. Von der dritten Gruppe erst kann man ohne
    Einschränkung behaupten, daß hier der störende Gedanke von
    dem intendierten verschieden war, und kann hier eine, wie es
    scheint, wesentliche Unterscheidung aufstellen. Der störende Gedanke
    ist entweder mit dem gestörten durch Gedankenassoziationen
    verbunden (Störung durch inneren Widerspruch), oder er ist ihm
    wesensfremd, und durch eine befremdende äu ßerlich e Assoziatinn
    ist gerade das gestörte Wort mit dem störenden Gedanken, der
    oft unbewußt ist, verknüpft. In den Beispielen, die ich aus
    meinen Psychoanalysen gebracht habe, steht die ganze Rede unter
    dem Einfluß gleichzeitig aktiv gewordener, aber völlig unbewuß'ter
    Gedanken, die ich entweder durch die Störung selbst verraten
    (Klapperschlange —— Kleopatra) oder einen indirekten Einfluß
    äußern, indem sie ermöglichen, daß die einzelnen Teile der bewußt
    intendiertenliede einanderstören(Asenatm en: onausenauer-
    straße, Reminiszenzen an eine Französin dahinterstehen). Die
    zurückgehaltenen oder unhewußten Gedanken, von denen die
    Sprechstörung ausgeht, sind von der mannigfaltigsten Herkunft.
    Eine Allgemeinheit enthüllt uns diese Überschau also nach keiner
    Richtung.

    Die vergleichende Prüfung der Beispiele von Vorlesen und
    Verschreiben führt zu den nämlichen Ergebnissen. Einzelne Fälle
    scheinen wie beim Versprechen einer weiter nicht motivierten
    Verdichtungsarbeit ihr Entstehen zu danken (z. B.: der Apfe).
    Man möchte aber gern erfahren, ob nicht doch besondere
    Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine solche Verdichtung,
    die in der Traumarheit regelrecht, in unserem wachen Denken
    fehlerhaft ist, Platz greife, und bekommt hierüber aus den
    Beispielen selbst keinen Aufschluß. Ich würde es aber ablehnen,

  • S.

    304 Zur Psychapathalogiz des Alltagsleben:

    hieraus den Schluß zu ziehen, es gebe keine solchen Bedingungen
    als etwa den Nachlaß der bewußten Aufmerksamkeit, da ich von
    anderswuher weiß, daß sich gerade automatische Verrichtungen
    durch Korrektheit und Verläßlichkeit auszeichnen. Ich möchte
    eher betonen7 daß hier, wie so häufig in der Biologie, die normalen
    oder dem Normalen angenäherten Verhältnisse ungünstigere Objekte
    der Forschung sind als die pathologischen. Was bei der Erklänmg
    dieser leichtesten Störungen dunkel bleibt, wird nach meiner
    Erwartung durch die Aufklärung schwerer Störungen Licht
    empfangen.

    Auch beim Verlesen und Verschreiben fehlt es nicht an Beispielen,
    welche eine entferntere und komplizierten! Motivierung erkennen
    lassen. „Im Faß durch Europa“ ist eine Lesestörung, die sich
    durch den Einfluß eines enflegenen, wesensfremden Gedankens
    aufklän, welcher einer verdrängten Regung von Eifersucht und
    Ehrgeiz entspringt, und den „Wechse “ des Wortes „B ef {ir-derung“
    zur Verknüpfung mit dem gleichgültigen und harmlosen Thema,
    das gelesen wurde, heliützt. Im Falle Burckhard ist der Name
    selbst ein solcher „Wechse “.

    Es ist unverkennbar, daß die Störungen der Sprechfimktionen
    leichter Zustandekommen und weniger Anforderungen an die
    störenden Kräfte stellen als die anderer psychischer Leistungen

    Auf anderem Boden steht man bei der Prüfung des Vergessens
    im eigentlichen Sinne, d. h. des Vergessens von vergangenen
    Erlebnissen (das Vergessen von Eigennamen und Fremdworten,
    wie in den Abschnitten I und II, könnte man als „Entfallen“,
    das von Vorsätzen als „Unterlassen“ von diesem Vergessen sem
    strictiori absondern). Die Grundbedingungen des normalen Vorgangs
    beim Vergessen sind unbekannt.’ Man wird auch daran gemalmt,

    1) Über den Meehlnismus der eigentlichen Vergessen: kann ich etwa falgende
    Andeutungen geben: Das Erinnenmgsrnateriel unterliegt im allgemeinen zwei Ein<
    flüasen. der Verdichtung und der Entstellung. Die EnMellung ist das Werk der im

    Seelenleben herrschenden Tendenzen und wendet sich vor allem gegen die mm-
    wirksam gehlieben- En'nnmngnpnnn, an lich gegen an Verdichtung resinenter

  • S.

    XI]. Derer„n'nimnn‚ Zufalb— und Aberglauben, Gesichtspunkte 505

    daß nicht alles vergessen ist, was man dafür hält. Unsere Erklärung
    hat es hier nur mit jenen Fällen zu tun, in denen das Vergessen
    bei uns ein Befremden erweckt, insofern es die Regel verletzt,
    daß Unw-ichtiges vergessen, Wichtiges aber vom Gedächtnis bewahrt
    wird. Die Analyse der Beispiele von Vergessen, die uns nach
    einer besonderen Aufklärung zu verlangen scheinen, ergibt als
    Motiv des Vergessens jedesmal eine Unlust7 etwas zu erinnern,
    was peinliche Empfindungen erwecken kann. Wir gelangen zur
    Vermutung, daß dieses Motiv im psychischen Leben sich ganz
    allgemein zu äußern strebt, aber durch andere gegenwirkende
    Kräfte verhindert wird, sich irgendwie regelmäßig durchzusetzen.
    Umfang und Bedeutung dieser Erinnerungsunlust gegen peinliche
    Eindrücke scheinen der sorgfältigsten psychologischen Prüfung wert
    zu sein; auch die Frage, welche besonderen Bedingungen das
    allgemein angestrebte Vergessen in einzelnen Fällen ermöglichen,
    ist aus diesem weiteren Zusammenhange nicht zu lösen.

    Beim Vergessen von Vorsätzen tritt ein anderes Moment in den
    Vurdergnmd; der beim Verdrängen des peinlich zu Erinnernden
    nur vermutete Konflikt wird hier greifbar, und man erkennt bei
    der Analyse der Beispiele regelmäßig einen Gegenwillen, der sich
    dem Vorsatz vvidersetzt, ohne ihn aufzuhehen. Wie bei früher

    verhalten. Die indifi'erent gewordenen Spuren reriniien dem Verdichmngevnrgung
    nhne Gegenwehr, doch kann mm beobachten. rhß überdies Entstellungstendenzen
    eich en dem iudifierenten Mauer-in] sättigen, weiche dort, wu sie sich äußern wollten,
    unheiriedigt gehiieheu sind. Du diese Prozerse der Verdichtung und Entsmllung sich
    über lange Zeiten hinzinhen, wihrend welcher alle frischen Erlebnisse auf die
    Umgerulmg des Gedächtnilinhnltes einwirken, meinen wir, er sei die Zeit, welehe
    die Erinnerungen unsicher und undeudich macht. Sehr w.hreeheinhch ist heim
    Vergeuen von einer direkten Funktion der Zeit überhaupt nicht die Rede. _ An den
    Verdringten Erinnerimgsspuren kann men kunst-tieren, duii sie durch die längste
    Zeitdauer keine Veränderungen erfahren hehen. Du Unhewulite ist überhaupt zeitlos.
    Der wichtigste und auch befiemrlenrlshe Charakter der neychienhen Fixierung ist der,
    duii elle Eindrix e einerseits in der nämlichen An erhalten sind, wie eie uufgennmnren
    Wurden. und iiherdiee noch in in den Formen, die sie hei den weit9r— Entwick-
    lungen .ngennrnnien haben, ein Verhiiimie. welches sich durch keinen Vergleich une
    einer .ndeeen Sphäre erläutern Mit Der Theorie nufuige ließe sich also jeder
    frühere Zustand des Gedächrnisinhaltes wieder für die Erinnerung herstellen, auch
    wenn deinen Elemente alle ursprünglichen Beziehungen längst gegen neuere ein.
    getznscht haben.

    Freud. IV. im

  • S.

    506 Zur Psychopat/lologie des Jlltagskbem

    besprochenen Fehlleistungen erkennt man auch hier zwei Typen
    des psychischen Vorganges; der Gegenwille kehrt sich entweder
    direkt gegen den Vorsatz (bei Absichten von einigem Belang)
    oder er ist dem Vorsatz selbst wesensfremd und stellt seine
    Verbindung mit ihm durch eine äußerliche Assoziation her
    (bei fast indifferenten Vorsätzen).

    Derselbe Konflikt beherrscht die Phänomene des Vergreifens.
    Der Impuls, der sich in der Störung der Handlung äußert, ist
    häufig ein Gegenimpuls, doch noch öfter ein überhaupt fremder,
    der nur die Gelegenheit benützt, sich bei der Ausführung der
    Handlung durch eine Störung derselben zum Ausdruck zu bringen.
    Die Fälle, in denen die Störung durch einen inneren Wider-
    spruch erfolgt, sind die bedeutsameren und betreffen auch die
    wichtigeren Vertichtungen.

    Der innere Konflikt tritt dann bei den Zufalls- oder Symptom-
    handlungen immer mehr zurück. Diese vom Bewußtsein gering
    geschätzten oder ganz übersehenen motorischen Äußerungen
    dienen so mannigfachen unbewußten oder zurückgehaltenen
    Regungen zum Ausdruck; sie stellen meist Phantasien oder
    Wünsche symbolisch dar.

    Zur ersten Frage, welcher Herkunft die Gedanken und Regungen
    seien, die sich in den Fehlleistungen zum Ausdruck bringen, läßt
    sich sagen, daß in einer Reihe von Fällen die Herkunft der
    störenden Gedanken von unterdrückte‘n Regungen des Seelenlebens
    leicht nachzuweisen ist. Egoistische, eifersüchtige, feindseliga
    Gefühle und Impulse, auf denen der Druck der moralischtm
    Eniehung lastet, bedienen sich bei Gesunden nicht selten des
    Weges der Fehlleistungen, um ihre unleugbar vorhandene, aber
    von höheren seelischen Instanzen nicht anerkannte Macht irgendwie
    zu äußern. Das Gewährenlassen dieser Fehl- und Zufallshandlungen
    entspricht zum guten Teile einer bequemen Duldung des
    Unmoralischen. Unter diesen unterdrückten Regungen spielen die
    mannigfachen sexuellen Strömungen keine geringfügige Rolle. Es

  • S.

    XII. thzrminirmur, Zufalls— und Abzrglauben, Gesichtspunkte 507

    ist ein Zufall des Materials, wenn gerade sie so selten unter
    den durch die Analyse aufgedeckten Gedanken in meinen
    Beispielen erscheinen. Da ich vorwiegend Beispiele aus meinem
    eigenen Seelenleben der Analyse unterzogen habe, so war die
    Auswahl von vornherein parteiisch und auf den Ausschluß des
    Sexuellen gerichtet. Andere Male scheinen es höchst harmlose
    Einwendungen und Rücksichten zu sein, aus denen die störenden
    Gedanken entspringen.

    Wir stehen nun vor der Beantwortung der zweiten Frage,
    welche psychologischen Bedingungen dafiir gelten, daß ein Gedanke
    seinen Ausdruck nicht in voller Form, sondern in gleichsam
    parasitärer, als Modifikation und Störung eines anderen suchen
    müsse. Es liegt nach den auffälligsten Beispielen von Fehlhandlung
    nahe, diese Bedingungen in einer Beziehung zur Bewußtseins-
    fähigkeit zu suchen, in dem mehr oder minder entschieden
    ausgeprägten Charakter des „Verdrängten“. Aber die Verfolgung
    durch die Reihe der Beispiele löst diesen Charakter in immer
    mehr verschwommene Andeutungen auf. Die Neigung, über etwas
    als zeitrauhend hinwegzukommen, — die Erwägung, daß der
    betreffende Gedanke nicht eigentlich zur intendierten Sache gehört,
    * scheinen als Motive für die Zurückdrängung eines Gedankens,
    der dann auf den Ausdruck durch Störung eines anderen
    angewiesen ist, dieselbe Rolle zu spielen wie die moralische
    Verurteilung einer unhotmäßigen Gefühlsregung oder die Abkunft
    von völlig unbewul3ten Gedankenzügen. Eine Einsicht in die
    allgemeine Natur der Bedingtheit von Fehl- und Zufallsleistungen
    läßt sich auf diese Weise nicht gewinnen. Einer einzigen bedeut-
    samen Tatsache wird man hei diesen Untersuchungen habhaft; je
    harmloser die Motivierung der Fehlleistung ist, je weniger anstößig
    und damm weniger bewußtseinsuniähig der Gedanke ist, der sich
    in ihr zum Ausdruck bringt, desto leichter wird auch die Auf—
    lösung des Phänomens, wenn man ihm seine Aufmerksamkeit
    zugewendet hat; die leichtesten Fälle des Versprechens werden

    „'

  • S.

    503 Zur Psychoputhnlogiz des Alltagslth

    sofort bemerkt und spontan korrigiert. Wo es sich um Motiv-ierung
    durch wirklich verdrängte Regungen handelt, da bedarf es zur
    Lösung einer sorgfältigen Analyse, die selbst zeitweise auf
    Schwierigkeiten stoßen oder mißlingen kann..

    Es ist also wohl berechtigt, das Ergebnis dieser letzten Unter-
    suchung als einen Hinweis darauf zu nehmen, daß die befriedigende
    Aufklärung für die psychologischen Bedingungen der Fehl- und
    Zufallshandlungen auf einem anderen Wege und von anderer
    Seite her zu gewinnen ist. Der nachsichtige Leser möge daher in
    diesen Auseinandersetzungen den Nachweis der Bruchflächen sehen,
    an denen dieses Thema ziemlich künstlich aus einem größeren
    Zusammenhange herausgelöst wurde.

    G ) Einige Worte sollen zum mindesten die Richtung nach
    diesem weiteren Zusammenhänge andeuten. Der Mechanismus
    der Fehl- und Zufallsbandlungen, wie wir ihn durch die Anwendung
    der Analyse kennen gelernt haben, zeigt in den wesentlichsten
    Punkten eine Übereinstimmung mit dem Mechanismus der
    Traumhildung, den ich in dem Abschnitt „Traumarbeit“ meines
    Buches über die Traumdeutung auseinandergesetzt habe. Die
    Verdichtungen und Kompromißbildungen (Kontaminationen) findet
    man hier wie dort; die Situation ist die nämliche, daß unbewußte
    Gedanken sich auf ungewöhnlichen Wegen, über äußere Assozia-
    tionen, als Modifikation von anderen Gedanken zum Ausdruck
    bringen. Die Ungereimtheiten, Absurditäten und Irrtümer des
    Trauminhaltes, denen zufolge der Traum kaum als Produkt
    psychischer Leistung anerkannt wird, entstehen auf dieselbe Weise
    freilich mit freierer Benutzung der vorhandenen Mittel7 wie die
    gemeinen Fehler unseres Alltagslebens; hier wie dort löst sich
    der Anschein inkorrekter Funktion durch die
    eigentümliche Interferenz zweier oder mehrerer
    korrekter Leistungen. Aus diesem Zusammentreffen ist ein
    wichtiger Schluß zu ziehen: Die eigentümliche Arbeitsweise,

  • S.

    XII. Dz!4rminisnwr‚ afau- und Aber;lmbm‚ Gm'chtspunhe 509

    deren auffälligste Leistung wir im Trauminhelt erkennen, darf
    nicht auf den Schlafzustand des Seelenlehens zurückgeführt werden,
    wenn wir in den Fehlhandlungen so reichliche Zeugnisse für
    ihre Wirksamkeit während des wachen Lebens besitzen. Derselbe
    Zusammenhang verbietet uns auch, tiefg-reii'enden Zerfall der
    Seelentätigkeit, krankhafte Zustände der Funktion als die Bedingung
    dieser uns ahnorm und fremdartig erscheinenden psychischen
    Vorgänge anzusehen.‘

    Die richtige Beurteilung der sonderharen psychischen Arbeit,
    welche die Fehlleistung wie die Traumbilder entstehen läßt,
    wird uns erst ermöglicht, wenn wir erfahren haben, daß die
    psychoneurotischen Symptome, speziell die psychischen Bildungen
    der Hysterie und der Zwangsneurose‚ in ihrem Mechanimnus
    alle wesentlichen Züge dieeer Arbeitsweise wiederholen. An dieser
    Stelle schlüsse sich also die Fortsetzung unserer Untersuchungen
    an. Für uns hat es aber noch ein besonderes Interesse, die Fehl-,
    Zufalls- und Symptomhandlungen in dem Lichte dieser letzten
    Analogie zu betrachten. Wenn wir sie den Leistungen der
    Psychoneurosen, den neurotischen Symptomen, gleichstellen,
    gewinnen zwei oft wiederkehrende Behauptungen, daß die Grenze
    zwischen nervöser Norm und Ahnormitiit eine fließende, und daß
    wir alle ein wenig nervös seien, Sinn und Unterlage. Man kann
    sich vor aller ärztlichen Erfahrung verschiedene Typen von
    solcher bloß angedeuteter Nervosität — von formt: frustu der
    Neurosen ——- konstruieren: Fälle, in denen nur wenige Symptome,
    oder diese selten oder nicht heftig auftreten, die Abschwächung
    also in die Zahl, in die Intensität, in die zeitliche Ausbreitung
    der krenkhaften Erscheinungen verlegen; vielleicht würde man
    aber gerade den Typus nicht ernten, welcher als der häufigste
    den Übergang zwischen Gesundheit und Krankheit zu vermitteln
    scheint. Der uns vorliegende Typus, dessen Krankheitsdußerungen
    die Fehl— und Symptomhandlungen sind, zeichnet sich nämlich

    ;) Vgl. n.... „Traumdeutung“, s. 559. (7. Aufl., s. 449.)

  • S.

    Zur Prychopazhohgie des Alltagxlcbßm

    dadurch aus, daß die Symptome in die mindest wichtigen
    psychischen Leistungen verlegt sind, während alles, was höheren
    psychischen Wert beanspruchen kann, frei von Störung var sich
    geht. Die gegeanige Unterbringung der Symptome, ihr Hervor-
    treten an den wichtigsten individuellen und sozialen leistungen,
    so daß sie Nahrungsaufnahme und Sexualverkehr, Berul'sarbeit
    und Geselligkeit zu stören vermögen, kommt den schweren
    Fällen von Neurose zu und charakterisiert diese besser als etwa
    die Mannigfaltigkeit oder die Lebheftigkeit der Krankheits-
    äußerungen.

    Der gemeinsame Charakter aber der leichtesten wie der schwer-
    sten Fälle, an dem auch die F ehl— und Zufallshandlungen Anteil
    haben, liegt in der Rückführharkeit der Phänomene
    auf unvollkommen unterdrücktes psychisches
    Material, das, vom Bewußtsein abgedrängt, doch
    nicht jeder Fähigkeit, sich zu äußern, beraubt
    w o r d e n i s t.