• S.

    VIII
     

    DAS VERGREIFEN
     

    Der oben erwähnten Arbeit von Meringer und Mayer
    entnehme ich noch die Stelle (S. 98):
     

    ,,Die Sprechfehler stehen nicht ganz allein da. Sie entsprechen
    den Fehlern, die bei anderen Tätigkeiten der Menschen sich
    oft einstellen und ziemlich töricht,Vergeßlichkeiten genannt
    werden."
     

    Ich bin also keinesfalls der erste, der Sinn und Absicht
    hinter den kleinen Funktionsstörungen des täglichen Lebens
    Gesunder vermutet.
     

    Wenn die Fehler beim Sprechen, das ja eine motorische
    Leistung ist, eine solche Auffassung zugelassen haben, so liegt es
    nahe, auf die Fehler unserer sonstigen motorischen Verrichtungen
    die nämliche Erwartung zu übertragen. Ich habe hier zwei
    Gruppen von Fällen gebildet; alle die Fälle, in denen der
    Fehleffekt das Wesentliche scheint, also die Abirrung von der
    Intention, bezeichne ich als „Vergreifen", die anderen, in
    denen eher die ganze Handlung unzweckmäßig erscheint, benenne
    ich „Symptom- und Zufallshandlungen". Die Scheidung
    ist aber wiederum nicht reinlich durchzuführen; wir kommen ja
    wohl zur Einsicht, daß alle in dieser Abhandlung gebrauchten
     

    1) Eine zweite Publikation Meringers hat mir später gezeigt, wie sehr
    ich diesem Autor unrecht tat, als ich ihm solches Verständnis zumutete.
     

    12*
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    180
     

    Einteilungen nur deskriptiv bedeutsame sind und der inneren
    Einheit des Erscheinungsgebietes widersprechen.
     

    Das psychologische Verständnis des "Vergreifens" erfährt
    offenbar keine besondere Förderung, wenn wir es der Ataxie
    und speziell der „kortikalen Ataxie" subsumieren. Versuchen wir
    lieber, die einzelnen Beispiele auf ihre jeweiligen Bedingungen
    zurückzuführen. Ich werde wiederum Selbstbeobachtungen hiezu
    verwenden, zu denen sich die Anlässe bei mir nicht besonders
    häufig finden.
     

    a) In früheren Jahren, als ich Hausbesuche bei Patienten noch
    häufiger machte als gegenwärtig, geschah es mir oft, daß ich,
    vor der Tür, an die ich anklopfen oder anläuten sollte, angekommen,
    die Schlüssel meiner eigenen Wohnung aus der Tasche zog, um
     

    sie dann fast beschämt wieder einzustecken. Wenn ich mir
    zusammenstelle, bei welchen Patienten dies der Fall war, so
    muß ich annehmen, die Fehlhandlung Schlüssel herausziehen
    anstatt läuten bedeutete eine Huldigung für das Haus, wo
    ich in diesen Mißgriff verfiel. Sie war äquivalent dem Gedanken:
    „Hier bin ich wie zu Hause," denn sie trug sich nur zu, wo
    ich den Kranken liebgewonnen hatte. (An meiner eigenen
    Wohnungstür läute ich natürlich niemals.)
     

    Die Fehlhandlung war also eine symbolische Darstellung eines
    doch eigentlich nicht für ernsthafte, bewußte Annahme bestimmten
    Gedankens, denn in der Realität weiß der Nervenarzt genau,
    daß der Kranke ihm nur so lange anhänglich bleibt, als er noch
    Vorteil von ihm erwartet, und daß er selbst nur zum Zwecke
    der psychischen Hilfeleistung ein übermäßig warmes Interesse für
    seine Patienten bei sich gewähren läßt.
     

    Daß das sinnvoll fehlerhafte Hantieren mit dem Schlüssel
    keineswegs eine Besonderheit meiner Person ist, geht aus zahl-
    reichen Selbstbeobachtungen anderer hervor.
     

    Eine fast identische Wiederholung meiner Erfahrungen beschreibt
    A. Maeder (Contrib. à la psychopathologie de la vie quotidienne,
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    181
     

    Arch. de Psychol., VI, 1906): Il est arrivé à chacun de sortir
    son trousseau, en arrivant à la porte d'un ami particulièrement
    cher, de se surprendre pour ainsi dire, en train d'ouvrir avec sa
    clé comme chez soi. C'est un retard, puisqu'il faut sonner malgré
    tout, mais c'est une preuve qu'on se sent ou qu'on voudrait
    se sentir comme chez soi, auprès de cet ami.
     

    E. Jones (1. C., p. 509): The use of keys is a fertile source
    of occurrences of this kind of which two examples may be given.
    If I am disturbed in the midst of some engrossing work at home
    by having to go to the hospital to carry out some routine work,
    I am very apt to find myself trying to open the door of my
    laboratory there with the key of my desk at home, although the
    two keys are quite unlike each other. The mistake unconsciously
    demonstrates where I would rather be at the moment.
     

    Some years ago I was acting in a subordinate position at a
    certain institution, the front door of which was kept locked, so
    that it was necessary to ring for admission. On several occas-
    sions I found myself making serious attempts to open the door
    with my house key. Each one of the permanent visiting staff,
    of which I aspired to be a member, was provided with a key
    to avoid the trouble of having to wait at the door. My mistakes
    thus expressed my desire to be on a similar footing, and to be
    quite at home" there.
     

    Ähnlich berichtet Dr. Hanns Sachs: Ich trage stets zwei
    Schlüssel bei mir, von denen der eine die Tür zur Kanzlei, der
    andere die zu meiner Wohnung öffnet. Leicht verwechselbar
    sind sie durchaus nicht, da der Kanzleischlüssel mindestens
    dreimal so groß ist wie der Wohnungsschlüssel. Überdies trage
    ich den ersteren in der Hosentasche, den anderen in der Weste.
    Trotzdem geschah es öfters, daß ich vor der Tür stehend bemerkte,
    daß ich auf der Treppe den falschen Schlüssel vorbereitet hatte.
    Ich beschloß, einen statistischen Versuch zu machen; da ich ja
    täglich ungefähr in derselben Gemütsverfassung vor den beiden
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    182
     

    Türen stehe, mußte auch die Verwechslung der beiden Schlüssel,
    wenn anders sie psychisch determiniert sein sollte, eine regel-
    mäßige Tendenz zeigen. Die Beobachtung bei späteren Fällen
    ergab dann, daß ich regelmäßig den Wohnungsschlüssel vor der
    Kanzleitür herausnahm, nur ein einziges Mal war das Umgekehrte
    der Fall: ich kam ermüdet nach Hause, wo, wie ich wußte, ein
    Gast meiner wartete. Vor der Tür machte ich einen Versuch,
    sie mit dem natürlich viel zu großen Kanzleischlüssel aufzu-
    sperren.
     

    b) In einem bestimmten Hause, wo ich seit sechs Jahren
    zweimal täglich zu festgesetzten Zeiten vor einer Tür im zweiten
    Stock auf Einlaß warte, ist es mir während dieses langen Zeit-
    raumes zweimal (mit einem kurzen Intervall) geschehen, daß ich
    um einen Stock höher gegangen bin, also mich „verstiegen"
    habe. Das eine Mal befand ich mich in einem ehrgeizigen Tag-
    traum, der mich höher und immer höher steigen" ließ. Ich
    überhörte damals sogar, daß sich die fragliche Tür geöffnet hatte,
    als ich den Fuß auf die ersten Stufen des dritten Stockwerks
    setzte. Das andere Mal ging ich wiederum „,in Gedanken versunken"
    zu weit; als ich es bemerkte, umkehrte und die mich beherrschende
    Phantasie zu erhaschen suchte, fand ich, daß ich mich über
    eine (phantasierte) Kritik meiner Schriften ärgerte, in welcher
    mir der Vorwurf gemacht wurde, daß ich immer zu weit
    ginge", und in die ich nun den wenig respektvollen Ausdruck
    verstiegen" einzusetzen hatte.
     

    c) Auf meinem Schreibtisch liegen seit vielen Jahren neben-
    einander ein Reflexhammer und eine Stimmgabel. Eines Tages
    eile ich nach Schluß der Sprechstunde fort, weil ich einen
    bestimmten Stadtbahnzug erreichen will, stecke bei vollem Tages-
    licht anstatt des Hammers die Stimmgabel in die Rocktasche und
    werde durch die Schwere des die Tasche herabziehenden Gegen-
    standes auf meinen Mißgriff aufmerksam gemacht. Wer sich
    über so kleine Vorkommnisse Gedanken zu machen nicht gewohnt
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    183
     

    ist, wird ohne Zweifel den Fehlgriff durch die Eile des Moments
    erklären und entschuldigen. Ich habe es trotzdem vorgezogen,
    mir die Frage zu stellen, warum ich eigentlich die Stimmgabel
    anstatt des Hammers genommen. Die Eilfertigkeit hätte eben-
    sowohl ein Motiv sein können, den Griff richtig auszuführen,
    um nicht Zeit mit der Korrektur zu versäumen.
     

    Wer hat zuletzt nach der Stimmgabel gegriffen? lautet die
    Frage, die sich mir da aufdrängt. Das war vor wenigen Tagen
    ein idiotisches Kind, bei dem ich die Aufmerksamkeit auf
    Sinneseindrücke prüfte, und das durch die Stimmgabel so gefesselt
    wurde, daß ich sie ihm nur schwer entreißen konnte. Soll das
    also heißen, ich sei ein Idiot? Allerdings scheint es so, denn der
    nächste Einfall, der sich an Hammer assoziiert, lautet "Chamer"
    (hebräisch: Esel).
     

    Was soll aber dieses Geschimpfe? Man muß hier die Situation
    befragen. Ich eile zu einer Konsultation in einem Orte an der
    Westbahnstrecke, zu einer Kranken, die nach der brieflich mitge-
    teilten Anamnese vor Monaten vom Balkon herabgestürzt ist
    und seither nicht gehen kann. Der Arzt, der mich einlädt,
    schreibt, er wisse trotzdem nicht, ob es sich um Rückenmarks-
    verletzung oder um traumatische Neurose
     

    handle.
    Da soll ich nun entscheiden. Da wäre also eine Mahnung am
    Platze, in der heiklen Differentialdiagnose besonders vorsichtig
    zu sein. Die Kollegen meinen ohnedies, man diagnostiziere viel
    zu leichtsinnig Hysterie, wo es sich um ernstere Dinge handle.
    Aber die Beschimpfung ist noch nicht gerechtfertigt! Ja, es
    kommt hinzu, daß die kleine Bahnstation der nämliche Ort ist,
    an dem ich vor Jahren einen jungen Mann gesehen, der seit
    einer Gemütsbewegung nicht ordentlich gehen konnte. Ich
    diagnostizierte damals Hysterie und nahm den Kranken später in
    psychische Behandlung, und dann stellte es sich heraus, daß ich
    freilich nicht unrichtig diagnostiziert hatte, aber auch nicht
    richtig. Eine ganze Anzahl der Symptome des Kranken war
     

    Hysterie
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    184
     

    hysterisch gewesen, und diese schwanden auch prompt im Laufe
    der Behandlung. Aber hinter diesen wurde nun ein für die
    Therapie unantastbarer Rest sichtbar, der sich nur auf eine
    multiple Sklerose beziehen ließ. Die den Kranken nach mir
    sahen, hatten es leicht, die organische Affektion zu erkennen; ich
    hätte kaum anders vorgehen und anders urteilen können, aber
    der Eindruck war doch der eines schweren Irrtums; das Ver-
    sprechen der Heilung, das ich ihm gegeben hatte, war natürlich
    nicht zu halten. Der Mißgriff nach der Stimmgabel anstatt nach
    dem Hammer ließ sich also so in Worte übersetzen: Du Trottel,
    du Esel, nimm dich diesmal zusammen, daß du nicht wieder
    eine Hysterie diagnostizierst,
    eine unheilbare Krankheit
    vorliegt, wie bei dem armen Mann an demselben Ort vor
    Jahren Und zum Glück für diese kleine Analyse, wenn auch
    zum Unglück für meine Stimmung, war dieser selbe Mann mit
    schwerer spastischer Lähmung wenige Tage vorher und einen
    Tag nach dem idiotischen Kind in meiner Sprechstunde gewesen.
     

    Man merkt, es ist diesmal die Stimme der Selbstkritik, die
    sich durch das Fehlgreifen vernehmlich macht. Zu solcher Ver-
    wendung als Selbstvorwurf ist der Fehlgriff ganz besonders geeignet.
    Der Miẞgriff hier will den Mißgriff, den man anderswo begangen
    hat, darstellen.
     

    d) Selbstverständlich kann das Fehlgreifen auch einer ganzen
    Reihe anderer dunkler Absichten dienen. Hier ein erstes Beispiel:
    Es kommt sehr selten vor, daß ich etwas zerschlage. Ich bin nicht
    besonders geschickt, aber infolge der anatomischen Integrität
    meiner Nervmuskelapparate sind Gründe für so ungeschickte
    Bewegungen mit unerwünschtem Erfolge bei mir offenbar nicht
    gegeben. Ich weiß also kein Objekt in meinem Hause zu erinnern,
    dessengleichen ich je zerschlagen hätte. Ich war durch die Enge
    in meinem Studierzimmer oft genötigt, in den unbequemsten
    Stellungen mit einer Anzahl von antiken Ton- und Steinsachen,
    von denen ich eine kleine Sammlung habe, zu hantieren, so daß
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    185
     

    Zuschauer die Besorgnis ausdrückten, ich würde etwas herunter-
    schleudern und zerschlagen. Es ist aber niemals geschehen. Warum
    habe ich also einmal den marmornen Deckel meines einfachen
    Tintengefäßes zu Boden geworfen, so daß er zerbrach?
     

    Mein Tintenzeug besteht aus einer Platte von Untersberger
    Marmor, die für die Aufnahme des gläsernen Tintenfäßchens
    ausgehöhlt ist; das Tintenfaß trägt einen Deckel mit Knopf aus
    demselben Stein. Ein Kranz von Bronzestatuetten und Terrakotta-
    figürchen ist hinter diesem Tintenzeug aufgestellt. Ich setze mich
    an den Tisch, um zu schreiben, mache mit der Hand, welche
    den Federstiel hält, eine merkwürdig ungeschickte, ausfahrende
    Bewegung und werfe so den Deckel des Tintenfasses, der bereits
    auf dem Tische lag, zu Boden. Die Erklärung ist nicht schwer
    zu finden. Einige Stunden vorher war meine Schwester im
    Zimmer gewesen, um sich einige neue Erwerbungen anzusehen.
    Sie fand sie sehr schön und äußerte dann: „Jetzt sieht dein
    Schreibtisch wirklich hübsch aus, nur das Tintenzeug paßt nicht
    dazu. Du mußt ein schöneres haben." Ich begleitete die Schwester
    hinaus und kam erst nach Stunden zurück. Dann aber habe ich,
    wie es scheint, an dem verurteilten Tintenzeug die Exekution
    vollzogen. Schloß ich etwa aus den Worten der Schwester, daß
    sie sich vorgenommen habe, mich zur nächsten festlichen
    Gelegenheit mit einem schöneren Tintenzeug zu beschenken,
    und zerschlug das unschöne alte, um sie zur Verwirklichung
    ihrer angedeuteten Absicht zu nötigen? Wenn dem so ist, so war
    meine schleudernde Bewegung nur scheinbar ungeschickt; in
    Wirklichkeit war sie höchst geschickt und zielbewußt und ver-
    stand es, allen wertvolleren, in der Nähe befindlichen Objekten
    schonend auszuweichen.
     

    Ich glaube wirklich, daß man diese Beurteilung für eine ganze
    Reihe von anscheinend zufällig ungeschickten Bewegungen
    annehmen muß. Es ist richtig, daß diese etwas Gewaltsames,
    Schleuderndes, wie Spastisch-Ataktisches zur Schau tragen, aber
     

  • S.

    186
     

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    sie erweisen sich als von einer Intention beherrscht und treffen
    ihr Ziel mit einer Sicherheit, die man den bewußt willkürlichen
    Bewegungen nicht allgemein nachrühmen kann. Beide Charaktere,
    die Gewaltsamkeit wie die Treffsicherheit, haben sie übrigens mit
    den motorischen Äußerungen der hysterischen Neurose und zum
    Teile auch mit den motorischen Leistungen des Somnambulismus
    gemeinsam, was wohl hier wie dort auf die nämliche unbekannte
    Modifikation des Innervationsvorganges hinweist.
     

    Auch eine von Frau Lou Andreas-Salomé mitgeteilte
    Selbstbeobachtung kann überzeugend dartun, wie eine hartnäckig
    festgehaltene „Ungeschicklichkeit" in sehr geschickter Weise
    uneingestandenen Absichten dient.
     

    "Genau von der Zeit an, wo die Milch seltene und kostbare
    Ware geworden war, geschah es mir, zu meinem
    meinem ständigen
    Schrecken und Ärgernis, sie beständig überkochen zu lassen.
    Umsonst mühte ich mich, dessen Herr zu werden, obwohl ich
    durchaus nicht sagen kann, daß ich mich bei sonstigen Gelegen-
    heiten zerstreut oder unachtsam bewiesen hätte. Eher hätte das
    Ursache gehabt nach dem Tode meines lieben weißen Terriers
    (der so berechtigterweise wie nur je ein Mensch,Freund'
    [russisch Drujok] hieß). Aber siehe da! niemals seitdem
    ist die Milch auch nur um ein Tröpfchen übergekocht. Mein
    nächster Gedanke darüber lautete: Wie gut ist das, da das auf
    Herdplatte oder Fußboden sich Ergießende nun nicht einmal
    Verwändung fände! Und gleichzeitig sah ich meinen,Freund'
    vor mir, wie er gespannt dasaß, die Kochprozedur zu beobachten:
    den Kopf etwas schiefgeneigt und mit dem Schwanzende schon
    erwartungsvoll wedelnd, mit getroster Sicherheit des sich voll-
    ziehenden prächtigen Unglücks gewärtig. Damit war freilich alles
    klar, und auch dies: daß er mir noch mehr lieb gewesen war,
    als ich selbst wußte."
     

    Es ist mir in den letzten Jahren, seitdem ich solche Beob-
    achtungen sammle, noch einigemal geschehen, daß ich Gegen-
     

  • S.

    187
     

    VIII. Das Vergreifen
     

    stände von gewissem Werte zerschlagen oder zerbrochen habe,
    aber die Untersuchung dieser Fälle hat mich überzeugt, daß es
    niemals ein Erfolg des Zufalls oder meiner absichtslosen Unge-
    schicklichkeit war. So habe ich eines Morgens, als ich im Bade-
    kostüm, die Füße mit Strohpantoffeln bekleidet, durch ein Zimmer
    ging, einem plötzlichen Impuls folgend, einen der Pantoffel vom
    Fuß weg gegen die Wand geschleudert, so daß er eine hübsche
    kleine Venus von Marmor von ihrer Konsole herunterholte.
    Während sie in Stücke ging, zitierte ich ganz ungerührt die
    Verse von Busch:
     

    Ach die Venus ist perdü
     

    Klickeradoms ! von Medici !
     

    Dieses tolle Treiben und meine Ruhe bei dem Schaden finden
    ihre Aufklärung in der damaligen Situation. Wir hatten eine
    Schwerkranke in der Familie, an deren Genesung ich im stillen
    bereits verzweifelt hatte. An jenem Morgen hatte ich von einer
    großen Besserung erfahren; ich weiß, daß ich mir gesagt hatte:
    also bleibt sie doch am Leben. Dann diente mein Anfall von
    Zerstörungswut zum Ausdruck einer dankbaren Stimmung gegen
    das Schicksal und gestattete mir, eine „Opferhandlung" zu
    vollziehen, gleichsam als hätte ich gelobt, wenn sie gesund wird,
    bringe ich dies oder jenes zum Opfer! Daß ich für dieses Opfer
    die Venus von Medici ausgesucht, sollte gewiß nichts anderes als
    eine galante Huldigung für die Genesende sein; unbegreiflich
    bleibt mir aber auch diesmal, daß ich so rasch entschlossen, so
    geschickt gezielt und kein anderes der in so großer Nähe
    befindlichen Objekte getroffen habe.
     

    Ein anderes Zerbrechen, für das ich mich wiederum des der
    Hand entfahrenden Federstieles bedient habe, hatte gleichfalls die
    Bedeutung eines Opfers, aber diesmal eines Bittopfers zur
    Abwendung. Ich hatte mir einmal darin gefallen, einem treuen
    und verdienten Freunde einen Vorwurf zu machen, der sich auf
    die Deutung gewisser Zeichen aus seinem Unbewußten, auf nichts
     

  • S.

    188
     

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    anderes, stützte. Er nahm es übel auf und schrieb mir einen
    Brief, in dem er mich bat, meine Freunde nicht psychoanalytisch
    zu behandeln. Ich mußte ihm recht geben und beschwichtigte
    ihn durch meine Antwort. Während ich diesen Brief schrieb,
    hatte ich meine neueste Erwerbung, ein prächtig glasiertes
    ägyptisches Figürchen, vor mir stehen. Ich zerschlug es auf die
    beschriebene Weise und wußte dann sofort, daß ich dies Unheil
    angerichtet, um ein größeres abzuwenden. Zum Glück ließ sich
    beides die Freundschaft wie die Figur so kitten, daß man
     

    den Sprung nicht merken würde.
     

    Ein drittes Zerbrechen stand in weniger ernsthaftem Zusammen-
    hang; es war nur eine maskierte,,Exekution", um den Ausdruck
    von Th. Vischer (,,Auch einer") zu gebrauchen, an einem
    Objekt, das sich meines Gefallens nicht mehr erfreute. Ich hatte
    eine Zeitlang einen Stock mit Silbergriff getragen; als die dünne
    Silberplatte einmal ohne mein Verschulden beschädigt worden
    war, wurde sie schlecht repariert. Bald nachdem der Stock zurück-
    gekommen war, benützte ich den Griff, um im Übermut nach
    dem Beine eines meiner Kleinen zu angeln. Dabei brach er
    natürlich entzwei und ich war von ihm befreit.
     

    Der Gleichmut, mit dem man in all diesen Fällen den ent-
    standenen Schaden aufnimmt, darf wohl als Beweis für das
    Bestehen einer unbewußten Absicht bei der Ausführung in
    Anspruch genommen werden.
     

    Gelegentlich stößt man, wenn man den Begründungen einer so
    geringfügigen Fehlleistung nachforscht, wie es das Zerbrechen
    eines Gegenstandes ist, auf Zusammenhänge, die tief in die Vor-
    geschichte eines Menschen hineinführen und überdies an der
    gegenwärtigen Situation desselben haften. Nachstehende Analyse
    von L. Jekels soll hiefür ein Beispiel geben.
     

    ,Ein Arzt befindet sich im Besitze einer, wenn auch nicht
    kostbaren, so doch sehr hübschen irdenen Blumenvase. Dieselbe
    wurde ihm seinerzeit nebst vielen anderen, darunter auch kost-
     

    "
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    189
     

    baren Gegenständen von einer (verheirateten) Patientin geschenkt.
    Als bei derselben die Psychose manifest wurde, hat er all die
    Geschenke den Angehörigen der Patientin zurückerstattet bis
    auf eine weit weniger kostspielige Vase, von der er sich nicht
    trennen konnte, angeblich wegen ihrer Schönheit. Doch kostete
    diese Unterschlagung den sonst so skrupulösen Menschen einen
    gewissen inneren Kampf, war er sich doch der Ungehörigkeit
    dieser Handlung vollkommen bewußt und half sich bloß über
    seine Gewissensbisse mit dem Vorhalt hinweg, die Vase habe
    eigentlich keinen Materialwert, sei schwerer einzupacken usw. -
    Als er nun einige Monate später im Begriffe war, den ihm streitig
    gemachten Restbetrag für die Behandlung dieser Patientin durch
    einen Rechtsanwalt reklamieren und eintreiben zu lassen, meldeten
    sich die Selbstvorwürfe wieder; flüchtig befiel ihn auch die
    Angst, die vermeintliche Unterschlagung könnte von den Ange-
    hörigen entdeckt und ihm im Strafverfahren entgegengehalten
    werden. Besonders jedoch das erste Moment war eine Weile
    hindurch so stark, daß er schon daran dachte, auf eine etwa
    hundertmal höhere
    verzichten
     

    quasi als
    Entschädigung für den unterschlagenen Gegenstand er über-
    wand jedoch alsbald diesen Gedanken, indem er ihn als absurd
    beiseite schob.
     

    Forderung zu
     

    Während dieser Stimmung passiert es ihm nun, daß er, der
    sonst außerordentlich selten etwas zerbricht und seinen Muskel-
    apparat gut beherrscht, beim Erneuern des Wassers in der Vase
    dieselbe durch eine organisch mit dieser Handlung gar nicht
    zusammenhängende, sonderbar,ungeschickte Bewegung vom
    Tische wirft, so daß sie etwa in fünf oder sechs größere Stücke
    zerbricht. Und dies, nachdem er am Abend zuvor, nur nach
    vorherigem starken Zögern, sich entschlossen hatte, gerade diese
    Vase blumengefüllt vor die geladenen Gäste auf den Tisch des
    Speisezimmers zu stellen, und nachdem er knapp vor dem Zer-
    brechen an sie gedacht, sie in seinem Wohnzimmer angstvoll
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    190
     

    vermißt und eigenhändig aus dem anderen Zimmer geholt hat!
    Als er nun nach der anfänglichen Bestürzung die Stücke auf-
    sammelt, und gerade als er durch Zusammenpassen derselben
    konstatiert, es werde noch möglich sein, die Vase fast lückenlos
    zu rekonstruieren, da gleiten ihm die zwei oder drei
    größeren Bruchstücke aus den Händen; sie
    sie zerstieben in
    tausend Splitter und mit ihnen auch jegliche Hoffnung auf
    diese Vase.
     

    Fraglos hatte diese Fehlleistung die aktuelle Tendenz, dem
    Arzte das Verfolgen seines Rechtes zu ermöglichen, indem
    dieselbe das beseitigte, was er zurückbehalten hatte und was ihn
    einigermaßen behinderte, das zu verlangen, was man ihm zurück-
    behalten hatte.
     

    Doch außer dieser direkten, besitzt für jeden Psychoanalytiker
    diese Fehlleistung noch eine weitere, ungleich tiefere und wichtigere,
    symbolische Determinierung; ist doch Vase ein unzweifelhaftes
    Symbol der Frau.
     

    Der Held dieser kleinen Geschichte hatte seine schöne, junge
    und heißgeliebte Frau auf tragische Weise verloren; er verfiel in
    eine Neurose, deren Grundnote war, er sei an dem Unglück schuld
    Ger habe eine schöne Vase zerbrochen). Auch fand er kein Ver-
    hältnis mehr zu den Frauen und hatte Abneigung vor der Ehe und
    vor dauernden Liebesbeziehungen, die im Unbewußten als Untreue
    gegen seine verstorbene Frau gewertet, im Bewußten aber damit
    rationalisiert wurden, er bringe den Frauen Unglück, es könnte
    sich eine seinetwegen töten usw. (Da durfte er natürlich die
    Vase nicht dauernd behalten!)
     

    Bei seiner starken Libido ist es nun nicht verwunderlich, daß
    ihm als die adäquatesten die ihrer Natur nach doch passageren
    Beziehungen zu verheirateten Frauen vorschwebten (daher Zurück-
    halten der Vase eines anderen).
     

    Eine schöne Bestätigung für diese Symbolik findet sich in
    nachstehenden zwei Momenten: Infolge der Neurose unterzog er
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    191
     

    sich der psychoanalytischen Behandlung. Im Verlaufe der Sitzung,
    in der er von dem Zerbrechen der ,irdenen' Vase erzählte, kam
    er viel später wieder einmal auf sein Verhältnis zu den Frauen
    zu sprechen und meinte, er sei bis zur Unsinnigkeit anspruchs-
    voll; so verlange er z. B. von den Frauen,unirdische Schönheit.
    Doch eine sehr deutliche Betonung, daß er noch an seiner (ver-
    storbenen i. e. unirdischen)
    unirdischen) Frau hänge und von irdischer
    Schönheit nichts wissen wolle; daher das Zerbrechen der,irdenen
    (irdischen) Vase.
     

    Und genau zur Zeit, als er in der Übertragung die Phantasie
    bildete, die Tochter seines Arztes zu heiraten, da verehrte er
    demselben eine Vase, quasi als Andeutung, nach welcher
     

    Richtung ihm die Revanche erwünscht wäre.
     

    Voraussichtlich läßt sich die symbolische Bedeutung der Fehl-
    leistung noch mannigfaltig variieren, z. B. die Vase nicht füllen
    wollen usw. Interessanter erscheint mir jedoch die Erwägung,
    daß das Vorhandensein von mehreren, mindestens zweien, wahr-
    scheinlich auch getrennt aus dem Vor- und Unbewußten wirksamen
    Motiven, sich in der Doppelung der Fehlleistung Umstoßen
    und Entgleiten der Vase
     

    widerspiegelt."
     

    e) Das Fallenlassen von Objekten, Umwerfen, Zerschlagen der-
    selben scheint sehr häufig zum Ausdruck unbewußter Gedanken-
    gänge verwendet zu werden, wie man gelegentlich durch Analyse
    beweisen kann, häufiger aber aus den abergläubisch oder scherzhaft
    daran geknüpften Deutungen im Volksmunde erraten möchte. Es
    ist bekannt, welche Deutungen sich an das Ausschütten von Salz,
    Umwerfen eines Weinglases, Steckenbleiben eines zu Boden gefallenen
    Messers u. dgl. knüpfen. Welches Anrecht auf Beachtung solche
    abergläubische Deutungen haben, werde ich erst an späterer Stelle
    erörtern; hieher gehört nur die Bemerkung, daß die einzelne
    ungeschickte Verrichtung keineswegs einen konstanten Sinn hat,
     

    1) Internat. Zeitschrift für Psychoanalyse, I, 1915.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    192
     

    sondern je nach Umständen sich dieser oder jener Absicht als
    Darstellungsmittel bietet.
     

    Vor kurzem gab es in meinem Hause eine Zeit, in der
    ungewöhnlich viel Glas und Porzellangeschirr zerbrochen wurde;
    ich selbst trug mehreres zum Schaden bei. Allein die kleine
    psychische Endemie war leicht aufzuklären; es waren die Tage
    vor der Vermählung meiner ältesten Tochter. Bei solchen Feiern
    pflegte man sonst mit Absicht ein Gerät zu zerbrechen und
    ein glückbringendes Wort dazu zu sagen. Diese Sitte mag die
    Bedeutung eines Opfers und noch anderen symbolischen Sinn
     

    haben.
     

    Wenn dienende Personen zerbrechliche Gegenstände durch
    Fallenlassen vernichten, so wird man an eine psychologische
    Erklärung hiefür zwar nicht in erster Linie denken, doch ist
    auch dabei ein Beitrag dunkler Motive nicht unwahrscheinlich.
    Nichts liegt dem Ungebildeten ferner als die Schätzung der
    Kunst und der Kunstwerke. Eine dumpfe Feindseligkeit gegen
    deren Erzeugnisse beherrscht unser dienendes Volk, zumal
    die Gegenstände, deren Wert sie nicht einsehen, eine Quelle
    von Arbeitsanforderung für sie werden. Leute von derselben
    Bildungsstufe und Herkunft zeichnen sich dagegen in wissen-
    schaftlichen Instituten oft durch große Geschicklichkeit und
    Verläßlichkeit in der Handhabung heikler Objekte aus, wenn
    sie erst begonnen haben, sich mit ihrem Herrn zu identifizieren
    und sich zum wesentlichen Personal des Instituts zu rechnen.
     

    Ich schalte hier die Mitteilung eines jungen Technikers ein,
    welche Einblick in den Mechanismus einer Sachbeschädigung
     

    gestattet.
     

    ,Vor einiger Zeit arbeitete ich mit mehreren Kollegen im
    Laboratorium der Hochschule einer Reihe komplizierter
    Elastizitätsversuche, eine Arbeit, die wir freiwillig übernommen
    hatten, die aber begann, mehr Zeit zu beanspruchen, als wir
    erwartet hatten. Als ich eines Tages wieder mit meinem
     

    ""
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    193
     

    Kollegen F. ins Laboratorium ging, äußerte dieser, wie unangenehm
    es ihm gerade heute sei, so viel Zeit zu verlieren, er hätte zu
    Hause so viel anderes zu tun; ich konnte ihm nur beistimmen
    und äußerte noch halb scherzhaft, auf einen Vorfall der vergangenen
    Woche anspielend: ,Hoffentlich wird wieder die Maschine versagen,
    so daß wir die Arbeit abbrechen und früher weggehen können!'
    Bei der Arbeitsteilung trifft es sich, daß Kollege F. das Ventil
    der Presse zu steuern bekommt, d. h. er hat die Druckflüssigkeit
    aus dem Akkumulator durch vorsichtiges Öffnen des Ventils
    langsam in den Zylinder der hydraulischen Presse einzulassen;
    der Leiter des Versuches steht beim Manometer und ruft, wenn
    der richtige Druck erreicht ist, ein lautes,Halt'. Auf dieses
    Kommando faßt F. das Ventil und dreht es mit aller Kraft
    nach links (alle Ventile werden ausnahmslos nach rechts
    geschlossen!). Dadurch wird plötzlich der volle Druck des
    Akkumulators in der Presse wirksam, worauf die Rohrleitung
    nicht eingerichtet ist, so daß sofort eine Rohrverbindung platzt
     

    ein ganz harmloser Maschinendefekt, der uns jedoch zwingt,
    für heute die Arbeit einzustellen und nach Hause zu gehen.
    Charakteristisch ist übrigens, daß einige Zeit nachher,
    wir diesen Vorfall besprachen, Freund F. sich an meine von
    mir mit Sicherheit erinnerte Äußerung absolut nicht erinnern
    wollte."
     

    als
     

    Sich selbst fallen lassen, einen Fehltritt machen, ausgleiten,
    braucht gleichfalls nicht immer als rein zufälliges Fehlschlagen
    motorischer Aktion gedeutet zu werden. Der sprachliche Doppel-
    sinn dieser Ausdrücke weist bereits auf die Art von verhaltenen
    Phantasien hin, die sich durch solches Aufgeben des Körper-
    gleichgewichtes darstellen können. Ich erinnere mich an eine
    Anzahl von leichteren nervösen Erkrankungen bei Frauen und
    Mädchen, die nach einem Falle ohne Verletzung aufgetreten
    waren und als traumatische Hysterie zufolge des Schrecks beim
    Falle aufgefaßt wurden. Ich bekam schon damals den Eindruck,
     

    Freud, IV
     

    13
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    194
     

    als ob die Dinge anders zusammenhingen, als wäre das Fallen
    bereits eine Veranstaltung der Neurose und ein Ausdruck derselben
    unbewußten Phantasien sexuellen Inhalts gewesen,
    gewesen, die man
    als die bewegenden Kräfte hinter den Symptomen vermuten
    darf. Sollte dasselbe nicht auch ein Sprichwort sagen wollen,
    welches lautet: Wenn eine Jungfrau fällt, fällt sie auf den
    Rücken?"
     

    "
     

    Zum Vergreifen kann man auch den Fall rechnen, daß
    jemand einem Bettler anstatt einer Kupfer- oder kleinen Silber-
    münze ein Goldstück gibt. Die Auflösung solcher Fehlgriffe ist
    leicht; es sind Opferhandlungen, bestimmt, das Schicksal zu
    erweichen, Unheil abzuwehren u. dgl. Hat man die zärtliche
    Mutter oder Tante unmittelbar vor dem Spaziergang, auf dem
    sie sich so widerwillig großmütig erzeigt, eine Besorgnis über
    die Gesundheit eines Kindes äußern gehört, so kann man
    dem Sinne des angeblich unliebsamen Zufalls nicht mehr zweifeln.
    Auf solche Art ermöglichen unsere Fehlleistungen die Ausübung
    aller jener frommen und abergläubischen Gebräuche, die wegen
    des Sträubens unserer ungläubig gewordenen Vernunft das Licht
    des Bewußtseins scheuen müssen.
     

    f) Daß zufällige Aktionen eigentlich absichtliche sind, wird
    auf keinem anderen Gebiete eher Glauben finden als auf dem
    der sexuellen Betätigung, wo die Grenze zwischen beiderlei
    Arten sich wirklich zu verwischen scheint. Daß eine scheinbar
    ungeschickte Bewegung höchst raffiniert zu sexuellen Zwecken
    ausgenutzt werden kann, davon habe ich vor einigen Jahren an
    mir selbst ein schönes Beispiel erlebt. Ich traf in einem
    befreundeten Hause ein als Gast angelangtes junges Mädchen,
    welches ein längst für erloschen gehaltenes Wohlgefallen bei mir
    erregte und mich darum heiter, gesprächig und zuvorkommend
    stimmte. Ich habe damals auch nachgeforscht, auf welchen Bahnen
    dies zuging; ein Jahr vorher hatte dasselbe Mädchen mich kühl
    gelassen. Als nun der Onkel des Mädchens, ein sehr alter Herr,
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    195
     

    ins Zimmer trat, sprangen wir beide auf, um ihm einen in der
    Ecke stehenden Stuhl zu bringen. Sie war behender als ich,
    wohl auch dem Objekt näher; so hatte sie sich zuerst des Sessels
    bemächtigt und trug ihn mit der Lehne nach rückwärts, beide
    Hände auf die Sesselränder gelegt, vor sich hin. Indem ich später
    hinzutrat und den Anspruch, den Sessel zu tragen, doch nicht
    aufgab, stand ich plötzlich dicht hinter ihr, hatte beide Arme
    von rückwärts um sie geschlungen, und meine Hände trafen
    sich einen Moment lang vor ihrem Schoß. Ich löste natürlich
    die Situation ebenso rasch, als sie entstanden war. Es schien auch
    keinem aufzufallen, wie geschickt ich diese ungeschickte Bewegung
    ausgebeutet hatte.
     

    Gelegentlich habe ich mir auch sagen müssen, daß das
    ärgerliche, ungeschickte Ausweichen auf der Straße, wobei man
    durch einige Sekunden hin und her, aber doch stets nach der
    nämlichen Seite wie der oder die andere, Schritte macht, bis
    endlich beide voreinander stehen bleiben, daß auch dieses ,,den
    Weg Vertreten" ein unartig provozierendes Benehmen früherer
    Jahre wiederholt und sexuelle Absichten unter der Maske der
    Ungeschicklichkeit verfolgt. Aus meinen Psychoanalysen Neurotischer
    weiß ich, daß die sogenannte Naivität junger Leute und Kinder
    häufig nur solch eine Maske ist, um das Unanständige unbeirrt
    durch Genieren aussprechen oder tun zu können.
     

    Ganz ähnliche Beobachtungen hat W. Stekel von seiner
    eigenen Person mitgeteilt: „Ich trete in ein Haus ein und reiche
    der Dame des Hauses meine Rechte. Merkwürdigerweise löse
    ich dabei die Schleife, die ihr loses Morgenkleid zusammenhält.
    Ich bin mir keiner unehrbaren Absicht bewußt, und doch habe
    ich diese ungeschickte Bewegung mit der Geschicklichkeit eines
    Eskamoteurs vollbracht."
     

    Ich habe schon wiederholt Proben dafür geben können, daß
    die Dichter Fehlleistungen ebenso als sinnvoll und motiviert
    auffassen, wie wir es hier vertreten. Es wird uns darum nicht
     

    13*
     

  • S.

    196
     

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    verwundern, an einem neuen Beispiel zu ersehen, wie ein Dichter
    auch eine ungeschickte Bewegung bedeutungsvoll macht und zum
    Vorzeichen späterer Begebenheiten werden läßt.
     

    In Theodor Fontanes Roman: "L'Adultera" heißt es (Bd. II,
    S. 64. der Gesammelten Werke, Verlag S. Fischer):
    Melanie sprang auf und warf ihrem Gatten, wie zur Begrüßung,
    einen der großen Bälle zu. Aber sie hatte nicht richtig gezielt,
    der Ball ging seitwärts und Rubehn fing ihn auf." Bei der
    Heimkehr von dem Ausfluge, der diese kleine Episode gebracht
    hat, findet ein Gespräch zwischen Melanie und Rubehn statt, das
    die erste Andeutung einer keimenden Neigung verrät. Diese
    Neigung wächst zur Leidenschaft, so daß Melanie schließlich
    ihren Gatten verläßt, um dem geliebten Manne ganz anzugehören.
    (Mitgeteilt von H. Sachs.)
     

    "... und
     

    g) Die Effekte, die durch das Fehlgreifen normaler Menschen
    zustandekommen, sind in der Regel von harmlosester Art. Gerade
    darum wird sich ein besonderes Interesse an die Frage knüpfen,
    ob Fehlgriffe von erheblicher Tragweite, die von bedeutsamen
    Folgen begleitet sein können, wie zum Beispiel die des Arztes
    oder Apothekers, nach irgendeiner Richtung unter unsere Gesichts-
    punkte fallen.
     

    Da ich sehr selten in die Lage komme, ärztliche Eingriffe
    vorzunehmen, habe ich nur über ein Beispiel von ärztlichem
    Vergreifen aus eigener Erfahrung zu berichten. Bei einer sehr
    alten Dame, die ich seit Jahren
    ich seit Jahren zweimal täglich besuche,
    beschränkt sich meine ärztliche Tätigkeit beim Morgenbesuch
    auf zwei Akte: ich träufle ihr ein paar Tropfen Augenwasser ins
    Auge und gebe ihr eine Morphiuminjektion. Zwei Fläschchen,
    ein blaues für das Kollyrium und ein weißes für die Morphin-
    lösung, sind regelmäßig vorbereitet. Während der beiden Ver-
    richtungen beschäftigen sich meine Gedanken wohl meist mit
    etwas anderem; das hat sich eben schon so oft wiederholt, daß
    die Aufmerksamkeit sich wie frei benimmt. Eines Morgens
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    197
     

    bemerkte ich, daß der Automat falsch gearbeitet hatte, das
    Tropfröhrchen hatte ins weiße anstatt ins blaue Fläschchen
    eingetaucht und nicht Kollyrium, sondern Morphin ins Auge
    geträufelt. Ich erschrak heftig und beruhigte mich dann durch die
    Überlegung, daß einige Tropfen einer zweiprozentigen Morphin-
    lösung auch im Bindehautsack kein Unheil anzurichten vermögen.
    Die Schreckempfindung war offenbar anderswoher abzuleiten.
     

    Bei dem Versuche, den kleinen Fehlgriff zu analysieren, fiel
    mir zunächst die Phrase ein: „sich an der Alten vergreifen",
    die den kurzen Weg zur Lösung weisen konnte. Ich stand unter
    dem Eindruck eines Traumes, den mir am Abend vorher ein
    junger Mann erzählt hatte, dessen Inhalt sich nur auf den
    sexuellen Verkehr mit der eigenen Mutter deuten ließ. Die
    Sonderbarkeit, daß die Sage keinen Anstoß an dem Alter der
    Königin Jokaste nimmt, schien mir gut zu dem Ergebnis zu
    stimmen, daß es sich bei der Verliebtheit in die eigene Mutter
    niemals um deren gegenwärtige Person handelt, sondern um ihr
    jugendliches Erinnerungsbild aus den Kinderjahren. Solche In-
    kongruenzen stellen sich immer heraus, wo eine zwischen zwei
    Zeiten schwankende Phantasie bewußt gemacht und dadurch an
    eine bestimmte Zeit gebunden wird. In Gedanken solcher Art
    versunken, kam ich zu meiner über neunzigjährigen Patientin,
    und ich muß wohl auf dem Wege gewesen sein, den allgemein
    menschlichen Charakter der Ödipusfabel als das Korrelat des
    Verhängnisses, das sich in den Orakeln äußert, zu erfassen, denn
    ich vergriff mich dann „bei oder an der Alten". Indes dies
    Vergreifen war wiederum harmlos; ich hatte von den beiden
    möglichen Irrtümern, die Morphinlösung fürs Auge zu verwenden
    oder das Augenwasser zur Injektion zu nehmen, den bei weitem
    harmloseren gewählt. Es bleibt immer noch die Frage, ob man.
     

    1) Des Ödipustraumes, wie ich ihn zu nennen pflege, weil er den
    Schlüssel zum Verständnis der Sage von König Ödipus enthält. Im Text des
    Sophokles ist die Beziehung auf einen solchen Traum der Jokaste in den Mund
    gelegt. (Vgl. „Traumdeutung“, S. 182, VII. Aufl., S. 183.)
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    198
     

    bei Fehlgriffen, die schweren Schaden stiften können, in ähnlicher
    Weise wie bei den hier behandelten eine unbewußte Absicht in
    Erwägung ziehen darf.
     

    Hier läßt mich denn, wie zu erwarten steht, das Material im
    Stiche, und ich bleibe auf Vermutungen und Schlüsse angewiesen.
    Es ist bekannt, daß bei den schwereren Fällen von Psychoneurose
    Selbstbeschädigungen gelegentlich als Krankheitssymptome auf-
    treten, und daß der Ausgang des psychischen Konflikts in Selbst-
    mord bei ihnen niemals auszuschließen ist. Ich habe nun erfahren
    und kann es durch gut aufgeklärte Beispiele belegen, daß viele scheinbar
    zufällige Schädigungen, die solche Kranke treffen, eigentlich Selbst-
    beschädigungen sind, indem eine beständig lauernde Tendenz zur
    Selbstbestrafung, die sich sonst als Selbstvorwurf äußert, oder ihren
    Beitrag zur Symptombildung stellt, eine zufällig gebotene äußere
    Situation geschickt ausnützt, oder ihr etwa noch bis zur Erreichung des
    gewünschten schädigenden Effekts nachhilft. Solche Vorkommnisse
    sind auch bei mittelschweren Fällen keineswegs selten, und sie
    verraten den Anteil der unbewußten Absicht durch eine Reihe
    von besonderen Zügen, zum Beispiel durch die auffällige Fassung,
    welche die Kranken bei dem angeblichen Unglücksfalle bewahren'.
     

    Aus meiner ärztlichen Erfahrung will ich anstatt vieler nur
    ein einziges Beispiel ausführlich berichten: Eine junge Frau bricht
    sich bei einem Wagenunfall die Knochen des einen Unterschenkels,
    so daß sie für Wochen bettlägerig wird, fällt dabei durch den
    Mangel an Schmerzensäußerungen und die Ruhe auf, mit der
    sie ihr Ungemach erträgt. Dieser Unfall leitet eine lange und
    schwere neurotische Erkrankung ein, von der sie endlich durch
    Psychoanalyse hergestellt wird. In der Behandlung erfahre ich
     

    1) Die Selbstbeschädigung, die nicht auf volle Selbstvernichtung hinzielt, hat in
    unserem gegenwärtigen Kulturzustand überhaupt keine andere Wahl, als sich hinter
    der Zufälligkeit zu verbergen, oder sich durch Simulation einer spontanen Erkrankung
    durchzusetzen. Früher einmal war sie ein gebräuchliches Zeichen der Trauer; zu
    anderen Zeiten konnte sie Tendenzen der Frömmigkeit und Weltentsagung Ausdruck
    geben.
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    199
     

    die Nebenumstände des Unfalls sowie gewisse Ereignisse, die ihm
    vorausgegangen waren. Die junge Frau befand sich mit ihrem
    sehr eifersüchtigen Manne auf dem Gute einer verheirateten
    Schwester in Gesellschaft ihrer zahlreichen übrigen Geschwister
    und deren Männer und Frauen. Eines Abends gab sie in diesem
    intimen Kreise eine Vorstellung in einer ihrer Künste, sie tanzte
    kunstgerecht Cancan unter großem Beifall der Verwandten, aber
    zur geringen Befriedigung ihres Mannes, der ihr nachher
    zuzischelte: Du hast dich wieder benommen wie eine Dirne. Das
    Wort traf; wir wollen es dahingestellt sein lassen, ob gerade
    wegen der Tanzproduktion. Sie schlief die Nacht unruhig, am
    nächsten Vormittag begehrte sie eine Ausfahrt zu machen. Aber
    sie wählte die Pferde selbst, refüsierte das eine Paar und verlangte
    ein anderes. Die jüngste Schwester wollte ihren Säugling mit
    seiner Amme im Wagen mitfahren lassen; dem widersetzte sie
    sich energisch. Auf der Fahrt zeigte sie sich nervös, mahnte den
    Kutscher, daß die Pferde scheu würden, und als die unruhigen
    Tiere wirklich einen Augenblick Schwierigkeiten machten, sprang
    sie im Schrecken aus dem Wagen und brach sich den Fuß,
    während die im Wagen Verbliebenen heil davonkamen. Kann
     

    nach der Aufdeckung dieser Einzelheiten kaum mehr
    bezweifeln, daß dieser Unfall eigentlich eine Veranstaltung war,
    so wollen wir doch nicht versäumen, die Geschicklichkeit zu
    bewundern, welche den Zufall nötigte, die Strafe so passend für
    die Schuld auszuteilen. Denn nun war ihr das Cancantanzen für
    längere Zeit unmöglich gemacht.
     

    Von eigenen Selbstbeschädigungen weiß ich in ruhigen Zeiten
    wenig zu berichten, aber ich finde mich solcher unter außer-
    ordentlichen Bedingungen nicht unfähig. Wenn eines der Mitglieder
    meiner Familie sich beklagt, jetzt habe es sich auf die Zunge
    gebissen, die Finger gequetscht usw., so erfolgt anstatt der
    erhofften Teilnahme von meiner Seite die Frage: Wozu hast du
    das getan? Aber ich habe mir selbst aufs schmerzhafteste den
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    200
     

    Daumen eingeklemmt, nachdem ein jugendlicher Patient in der
    Behandlungsstunde die (natürlich nicht ernsthaft zu nehmende)
    Absicht bekannt hatte, meine älteste Tochter zu heiraten, während
    ich wußte, daß sie sich gerade im Sanatorium in äußerster
    Lebensgefahr befand.
     

    Einer meiner Knaben, dessen lebhaftes Temperament der
    Krankenpflege Schwierigkeiten zu bereiten pflegte, hatte eines
    Morgens einen Zornanfall gehabt, weil ihm zugemutet
    hatte, den Vormittag im Bette zuzubringen, und gedroht sich
    umzubringen, wie es ihm aus der Zeitung bekannt geworden
    war. Abends zeigte er mir eine Beule, die er sich durch
    Anstoßen an die Türklinke an der Seite des Brustkorbes zugezogen
    hatte. Auf meine ironische Frage, wozu er das getan und was
    er damit gewollt habe, antwortete das elfjährige Kind wie
    erleuchtet: Das war mein Selbstmordversuch, mit dem ich in der
    Früh gedroht habe. Ich glaube übrigens nicht, daß meine
    Anschauungen über die Selbstbeschädigung meinen Kindern damals
    zugänglich waren.
     

    Wer an das Vorkommen von halb absichtlicher Selbstbeschädigung
    wenn der ungeschickte Ausdruck gestattet ist - glaubt, der
    wird dadurch vorbereitet, anzunehmen, daß es außer dem bewußt
    absichtlichen Selbstmord auch halb absichtliche Selbstvernichtung
    mit unbewußter Absicht gibt, die eine Lebensbedrohung
    geschickt auszunützen und sie als zufällige Verunglückung zu
    maskieren weiß. Eine solche braucht keineswegs selten zu sein.
    Denn die Tendenz zur Selbstvernichtung ist bei sehr viel mehr
    Menschen in einer gewissen Stärke vorhanden, als bei denen sie
    sich durchsetzt; die Selbstbeschädigungen sind in der Regel ein
    Kompromiẞ zwischen diesem Trieb und den ihm noch entgegen-
    wirkenden Kräften, und auch wo es wirklich zum Selbstmord
    kommt, da ist die Neigung dazu eine lange Zeit vorher in
    geringerer Stärke oder als unbewußte und unterdrückte Tendenz
    vorhanden gewesen.
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    201
     

    Auch die bewußte Selbstmordabsicht wählt ihre Zeit, Mittel
    und Gelegenheit; es ist ganz im Einklang damit, wenn die
    unbewußte einen Anlaß abwartet, der einen Teil der Verursachung
    auf sich nehmen und sie durch Inanspruchnahme der Abwehr-
    kräfte der Person von ihrer Bedrückung frei machen kann'.
    sind keineswegs müßige Erwägungen, die ich da vorbringe; mir
    ist mehr als ein Fall von anscheinend zufälligem Verunglücken
    (zu Pferde oder aus dem Wagen) bekannt geworden, dessen
    nähere Umstände den Verdacht auf unbewußt zugelassenen Selbst-
    mord rechtfertigen. Da stürzt z. B. während eines Offizierswett-
    rennens ein Offizier vom Pferde und verletzt sich so schwer, daß
    er mehrere Tage nachher erliegt. Sein Benehmen, nachdem er zu
    sich gekommen, ist in manchen Stücken auffällig. Noch bemerkens-
    werter ist sein Benehmen vorher gewesen. Er ist tief verstimmt
    durch den Tod seiner geliebten Mutter, wird von Weinkrämpfen
    in der Gesellschaft seiner Kameraden befallen, er äußert Lebens-
    überdruß gegen seine vertrauten Freunde, will den Dienst
    quittieren, um an einem Kriege in Afrika Anteil zu nehmen,
    der ihn sonst nicht berührt; früher ein schneidiger Reiter, weicht
    er jetzt dem Reiten aus, wo es nur möglich ist. Vor dem Wett-
     

    Es
     

    1) Der Fall ist dann schließlich kein anderer als der des sexuellen Attentats auf
    eine Frau, bei dem der Angriff des Mannes nicht durch die volle Muskelkraft des
    Weibes abgewehrt werden kann, weil ihm ein Teil der unbewußten Regungen der
    Angegriffenen fördernd entgegenkommt. Man sagt ja wohl, eine solche Situation
    lähme die Kräfte der Frau; man braucht dann nur noch die Gründe für diese
    Lähmung hinzuzufügen. Insofern ist der geistreiche Richterspruch des Sancho
    Pansa, den er als Gouverneur auf seiner Insel fällt, psychologisch ungerecht (Don
    Quijote, II. Teil, Kap. XLV). Eine Frau zerrt einen Mann vor den Richter, der sie
    angeblich gewaltsam ihrer Ehre beraubt hat. Sancho entschädigt sie durch die volle
    Geldbörse, die er dem Angeklagten abnimmt, und gibt diesem nach dem Abgange
    der Frau die Erlaubnis, ihr nachzueilen und ihr die Börse wieder zu entreißen. Sie
    kommen beide ringend wieder, und die Frau rühmt sich, daß der Bösewicht nicht
    imstande gewesen sei, sich der Börse zu bemächtigen. Darauf Sancho: „Hättest du
    deine Ehre halb so ernsthaft verteidigt wie diese Börse, so hätte sie dir der Mann
    nicht rauben können."
     

    2) Daß die Situation des Schlachtfeldes eine solche ist, wie sie der bewußten
    Selbstmordabsicht entgegenkommt, die doch den direkten Weg scheut, ist einleuchtend.
    Vgl. im „Wallenstein" die Worte des schwedischen Hauptmannes über den Tod des
    Max Piccolomini: „Man sagt, er wollte sterben."
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    202
     

    rennen endlich, dem er sich nicht entziehen kann, äußert er eine
    trübe Ahnung; wir werden uns bei unserer Auffassung nicht
    mehr verwundern, daß diese Ahnung recht behielt. Man wird
    mir entgegenhalten, es sei ja ohne weiteres verständlich, daß ein
    Mensch in solch nervöser Depression das Tier nicht zu meistern
    versteht wie in gesunden Tagen. Ich bin ganz einverstanden; nur
    möchte ich den Mechanismus dieser motorischen Hemmung durch
    die Nervosität" in der hier betonten Selbstvernichtungsabsicht
     

    suchen.
     

    S. Ferenczi in Budapest hat mir die Analyse eines Falles
    von angeblich zufälliger Schußverletzung, den er für einen
    unbewußten Selbstmordversuch erklärt, zur Veröffentlichung über-
    lassen. Ich kann mich mit seiner Auffassung nur einverstanden
    erklären:
     

    ,,J. Ad., 22jähriger Tischlergeselle, suchte mich am 18. Jänner
    1908 auf. Er wollte von mir erfahren, ob die Kugel, die ihm
    am 20. März 1907 in die linke Schläfe eindrang, operativ entfernt
    werden könne oder müsse. Von zeitweise auftretenden, nicht allzu
    heftigen Kopfschmerzen abgesehen, fühlt er sich ganz gesund,
    auch die objektive Untersuchung ergibt außer der charakteristischen,
    pulvergeschwärzten Schußnarbe an der linken Schläfe gar nichts,
    so daß ich die Operation widerrate. Über die Umstände des Falles
    befragt, erklärt er, sich zufällig verletzt zu haben. Er spielte mit
    dem Revolver des Bruders, glaubte, daß er nicht geladen.
    ist, drückte ihn mit der linken Hand an die linke Schläfe (er
    ist nicht Linkshänder), legte den Finger an den Hahn, und der
    Schuß ging los. Drei Patronen waren in der sechs
    läufigen Schußwaffe. Ich frage ihn: wie er auf die Idee
    kam, den Revolver zu sich zu nehmen. Er erwidert, daß es zur
    Zeit seiner Assentierung war; den Abend zuvor nahm
    Waffe ins Wirtshaus mit, weil er Schlägereien befürchtete. Bei
    der Musterung wurde er wegen Krampfadern für untauglich
    erklärt, worüber er sich sehr schämte. Er ging nach Hause,
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    203
     

    spielte mit dem Revolver, hatte aber nicht die Absicht, sich
    wehe zu tun; da kam es zum Unfall. Auf die weitere Frage,
    wie er sonst mit seinem Schicksal zufrieden gewesen sei, antwortete
    er mit einem Seufzer und erzählte seine Liebesgeschichte mit
    einem Mädchen, das ihn auch liebte und ihn trotzdem verließ; sie
    wanderte rein aus Geldgier nach Amerika aus. Er wollte ihr
    nach, doch die Eltern hinderten ihn daran. Seine Geliebte reiste
    am 20. Jänner 1907, also zwei Monate vor dem Unglücksfalle,
    ab. Trotz all dieser Verdachtsmomente beharrte der Patient dabei,
    daß der Schuß ein,Unfall' war. Ich aber bin fest überzeugt, daß
    die Nachlässigkeit, sich von der Ladung der Waffe vor dem
    Spielen nicht überzeugt zu haben, wie auch die Selbstbeschädigung
    psychisch bestimmt war. Er war noch ganz unter dem depri-
    mierenden Eindruck der unglücklichen Liebschaft und wollte
    offenbar beim Militär,vergessen. Als ihm auch diese Hoffnung
    genommen wurde, kam es zum Spiele mit der Schußwaffe, das
    heißt zum unbewußten Selbstmordversuch. Daß er den Revolver
    nicht in der rechten, sondern in der linken Hand hielt, spricht
    entschieden dafür, daß er wirklich nur spielte, d. h. bewußt
    keinen Selbstmord begehen wollte."
     

    Eine andere, mir vom Beobachter überlassene Analyse einer
    anscheinend zufälligen Selbstbeschädigung bringt das Sprichwort:
    Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein" in Erinnerung.
     

    Frau X., aus gutem bürgerlichen Milieu, ist verheiratet und
    hat drei Kinder. Sie ist zwar nervös, brauchte aber nie eine
    energische Behandlung, da sie dem Leben doch genügend gewachsen
    ist. Eines Tages zog sie sich in folgender Weise eine momentan
    ziemlich imponierende, aber vorübergehende Entstellung ihres
    Gesichtes zu. In einer Straße, welche zurecht gemacht wurde,
    stolperte sie über einen Steinhaufen und kam mit dem Gesichte
    in Berührung mit einer Hausmauer. Das ganze Gesicht war
    geschrammt, die Augenlider wurden blau und ödematös, und da
    sie Angst bekam, es möchte mit ihren Augen etwas passieren,
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    204
     

    Nachdem sie deswegen beruhigt war,
     

    ließ sie den Arzt rufen.
    fragte ich: Aber warum sind Sie eigentlich so gefallen?" Sie
    erwiderte, daß sie gerade zuvor ihren Mann, der seit einigen
    Monaten eine Gelenksaffektion hatte, wodurch er schlecht zu
    Fuß war, gewarnt hatte, in dieser Straße gut aufzupassen, und
    sie hatte ja schon öfters die Erfahrung gemacht, daß in derartigen
    Fällen merkwürdigerweise ihr selber dasjenige passierte, wovor
    sie eine andere Person gewarnt hatte.
     

    Ich war mit dieser Determinierung ihres Unfalles nicht zufrieden
    und fragte, ob sie nicht vielleicht etwas mehr zu erzählen wüßte.
    Ja, gerade vor dem Unfall hatte sie in einem Laden von der
    entgegengesetzten Seite der Straße ein hübsches Bild gesehen,
    das sie sich ganz plötzlich als Schmuck für die Kinderstube
    wünschte und darum sofort kaufen wollte: da ging sie geradeaus
    auf den Laden zu, ohne auf die Straße zu achten, stolperte über
    den Steinhaufen und fiel mit ihrem Gesichte gegen die Haus-
    mauer, ohne auch nur den leisesten Versuch zu machen, sich
    mit den Händen zu schützen. Der Vorsatz, das Bild zu kaufen,
    war gleich vergessen, und sie ging eiligst nach Hause. ,Aber
    warum haben Sie nicht besser zugeschaut?" fragte ich. ,Ja,'
    antwortete sie,,es war vielleicht doch eine Strafe! Wegen der
    Geschichte, welche ich Ihnen schon im Vertrauen erzählt habe."
    ,Hat diese Geschichte Sie dann noch immer so gequält?"
    ,Ja nachher habe ich es sehr bedauert, mich selbst boshaft,
    verbrecherisch und unmoralisch gefunden, aber ich war damals
    fast verrückt vor Nervosität."
     

    Es hatte sich um einen Abortus gehandelt, welchen sie mit
    Einverständnis ihres Mannes, da sie beide wegen ihrer pekuniären
    Verhältnisse von mehr Kindersegen verschont bleiben wollten, von
    einer Kurpfuscherin hatte einleiten und von einem Spezialarzt
    zu Ende bringen lassen.
     

    ,Öfters mache ich mir den Vorwurf: aber du hast doch dein
    Kind töten lassen, und ich hatte Angst, daß so etwas doch nicht
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    205
     

    ohne Strafe bleiben könnte. Jetzt, da Sie mir versichert haben,
    daß mit den Augen nichts Schlimmes vorliegt, bin ich ganz
    beruhigt: ich bin nun sowieso schon genügend gestraft.
     

    Dieser Unfall war also eine Selbstbestrafung einerseits, um für
    ihre Untat zu büßen, andererseits aber, um einer vielleicht viel
    größeren unbekannten Strafe, vor welcher sie monatelang fort-
    während Angst hatte, zu entgehen. In dem Augenblick, als sie
    auf den Laden losstürzte, um sich das Bild zu kaufen, war die
    Erinnerung an die ganze Geschichte mit all ihren Befürchtungen,
    welche sich schon während der Warnung ihres Mannes in ihrem
    Unbewußten ziemlich stark regte, überwältigend geworden und
    hätte vielleicht in einem etwa derartigen Wortlaut Ausdruck
    finden können: Aber wofür brauchst du einen Schmuck für die
    Kinderstube, du hast dein Kind umbringen lassen! Du bist eine
    Mörderin! Die große Strafe naht ganz gewiß!
     

    Dieser Gedanke wurde nicht bewußt, aber statt dessen benützte
    sie in diesem, ich möchte sagen, psychologischen Moment die
    Situation, um den Steinhaufen, der ihr dafür geeignet schien, in
    unauffälliger Weise für die Selbstbestrafung zu verwenden; des-
    wegen streckte sie beim Fallen auch nicht einmal die Hände
    aus und darum kam es auch nicht zu einem heftigen Erschrecken.
    Die zweite, wahrscheinlich geringere Determinierung ihres Unfalles
    ist wohl die Selbstbestrafung wegen des unbewußten
    Beseitigungswunsches gegen ihren, allerdings in dieser Affäre mit-
    schuldigen Mann. Dieser Wunsch hatte sich durch die vollkommen
    überflüssige Warnung verraten, in der Straße mit dem Steinhaufen
    ja gut aufzupassen, da der Mann, eben weil er schlecht zu Fuß
    war, sehr vorsichtig ging"."
     

    1) Van Emden, Selbstbestrafung wegen Abortus. (Zentralbl. f. Psychoanalyse,
    II/12.) Ein Korrespondent schreibt zum Thema der „Selbstbestrafung durch Fehl-
    leistungen: Wenn man darauf achtet, wie sich die Leute auf der Straße benehmen,
    hat man Gelegenheit zu konstatieren, wie oft den Männern, die wie schon üblich
    den vorübergehenden Frauen nachschauen, ein kleiner Unfall passiert. Bald ver-
    staucht einer auf ebener Erde den Fuß, bald rennt er eine Laterne an oder
    verletzt sich auf andere Art.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    206
     

    Wenn man die näheren Umstände des Falles erwägt, wird
    man auch geneigt sein, J. Stärcke (l. c) recht zu geben, wenn
    er eine anscheinend zufällige Selbstbeschädigung durch Verbrennung
    als Opferhandlung" auffaßt:
     

    "
     

    ,,Eine Dame, deren Schwiegersohn nach Deutschland abreisen
    mußte, um dort in Militärdienst zu gehen, verbrühte sich den
    Fuß unter folgenden Umständen. Ihre Tochter erwartete bald die
    Niederkunft, und die Gedanken an die Kriegsgefahren stimmten
    selbstverständlich die ganze Familie nicht sehr munter. Am Tage
    vor der Abreise hatte sie ihren Schwiegersohn und ihre Tochter
    zum Essen eingeladen. Sie bereitete selber in der Küche das
    Essen, nachdem sie zuerst, sonderbar genug, ihre hohen Schnür-
    stiefel mit Plattfußsohlen, auf denen sie bequem gehen kann und
    die sie auch zu Hause gewöhnlich trägt, mit einem Paar zu
    großer, oben offener Pantoffeln ihres Mannes vertauscht hatte.
    Als sie eine große Pfanne kochender Suppe vom Feuer nahm,
    ließ sie diese fallen und verbrühte sich dadurch ziemlich ernst
    einen Fuß, zumal den Fußrücken, der vom offenen Pantoffel
    nicht geschützt wurde. Selbstverständlich wurde dieser Unfall
    von jedermann auf Rechnung ihrer begreiflichen,Nervosität'
    geschrieben. Die ersten Tage nach diesem Brandopfer war sie mit
    heißen Gegenständen sehr vorsichtig, wodurch sie aber nicht
    gehindert wurde, sich wenige Tage später den einen Puls mit
    heißer Brühe zu verbrühen'.
     

    1) In einer sehr großen Anzahl solcher Fälle von Unfallsbeschädigung oder Tötung
    bleibt die Auffassung zweifelhaft. Der Fernerstehende wird keinen Anlaß finden, im
    Unfall etwas anderes als einen Zufall zu sehen, während eine dem Verunglückten
    nahestehende und mit intimen Einzelheiten bekannte Person Gründe hat, die unbe-
    wußte Absicht hinter dem Zufall zu vermuten. Welcher Art diese Kenntnis sein soll
    und auf was für Nebenumstände es dabei ankommt, davon gibt der nachstehende
    Bericht eines jungen Mannes, dessen Braut auf der Straße überfahren worden, ein
    gutes Beispiel:
     

    Im September vorigen Jahres lernte ich ein Fräulein Z. kennen, Alter 34 Jahre.
    Sie lebte in wohlhabenden Verhältnissen, war vor dem Kriege verlobt gewesen, der
    Bräutigam jedoch als aktiver Offizier 1916 gefallen. Wir lernten einander kennen
    und lieben, zunächst ohne den Gedanken einer Heirat, da die Umstände, namentlich
    der Altersunterschied ich selbst war 27 Jahre es beiderseitig nicht zuzulassen
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    207
     

    Wenn so ein Wüten gegen die eigene Integrität und das
    eigene Leben hinter anscheinend zufälliger Ungeschicklichkeit und
    motorischer Unzulänglichkeit verborgen sein kann, so braucht
    man keinen großen Schritt mehr zu tun, um die Übertragung
    der nämlichen Auffassung auf Fehlgriffe möglich zu finden, welche
    Leben und Gesundheit anderer ernstlich in Gefahr bringen. Was
    ich an Belegen für die Triftigkeit dieser Auffassung vorbringen
    kann, ist der Erfahrung an Neurotikern entnommen, deckt sich
    also nicht völlig mit dem Erfordernis. Ich werde über einen Fall
    berichten, in dem mich nicht eigentlich ein Fehlgriff, sondern,
    eher eine Symptom- oder Zufallshandlung nennen
    kann, auf die Spur brachte, welche dann die Lösung des Konflikts
    bei dem Patienten ermöglichte. Ich übernahm es einmal, die Ehe
    eines sehr intelligenten Mannes zu bessern, dessen Miẞhelligkeiten
    mit seiner ihn zärtlich liebenden jungen Frau sich gewiß auf
    reale Begründungen berufen konnten, aber, wie er selbst zugab,
    durch diese nicht voll erklärt wurden. Er beschäftigte sich unab-
    schienen. Da wir in der gleichen Straße uns gegenüber wohnten und wir täglich
    zusammen waren, nahm der Verkehr im Laufe der Zeit intime Formen an. Damit
    rückte der Gedanke einer ehelichen Verbindung näher, und ich stimmte ihm
    schließlich selbst zu. Zu Ostern d. J. war die Verlobung geplant; Fräulein Z. beab-
    sichtigte jedoch vorher eine Reise zu ihren Verwandten in M. zu unternehmen, die
    durch einen infolge des Kapp-Putsches hervorgerufenen Eisenbahnerstreik plötzlich
    verhindert wurde. Die trüben Aussichten, die sich für die weitere Zukunft durch den
    Sieg der Arbeiterschaft und dessen Folgen zu eröffnen schienen, machten sich kurze
    Zeit auch in unserer Stimmung, besonders aber bei Fräulein Z., die auch sonst recht
    wechselnden Stimmungen unterworfen war, geltend, da sie neue Hindernisse für
    unsere Zukunft zu sehen glaubte. Am Samstag, dem 20. März, jedoch befand sie sich
    in ausnehmend froher Gemütsverfassung, ein Umstand, der mich geradezu über-
    raschte und mitriß, so daß wir alles in den rosigsten Farben zu sehen glaubten. Wir
    hatten einige Tage vorher davon gesprochen, gelegentlich gemeinsam zur Kirche zu
    gehen, ohne jedoch eine bestimmte Zeit festzusetzen. Am folgenden Morgen, Sonntag
    den 21. März, um 9 Uhr 15 Minuten, rief sie mich telephonisch an, ich möchte sie
    gleich zum Kirchgang abholen, was ich ihr indes abschlug, da ich nicht rechtzeitig
    hätte fertig werden können und überdies Arbeiten erledigen wollte. Fräulein Z. war
    merklich enttäuscht, machte sich dann allein auf den Weg, traf auf der Treppe ihres
    Hauses einen Bekannten, mit dem zusammen sie den kurzen Weg durch die Tauen-
    zienstraße bis zur Rankestraße ging, in bester Stimmung, ohne daß sie irgend etwas
    über unser Gespräch äußerte. Der Herr verabschiedete sich mit einem Scherzwort
    Fräulein Z. hatte nur den an dieser Stelle verbreiterten und klar übersehbaren
    Damm zu überschreiten da wurde sie dicht am Bürgersteig von einer Pferde-
     

    was
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    208
     

    lässig mit dem Gedanken der Scheidung, den er dann wieder
    verwarf, weil er seine beiden kleinen Kinder zärtlich liebte.
    Trotzdem kam er immer wieder auf den Vorsatz zurück und
    versuchte dabei kein Mittel, um sich die Situation erträglich zu
    gestalten. Solches Nichtfertigwerden mit einem Konflikt gilt mir
    als Beweis dafür, daß sich unbewußte und verdrängte Motive zur
    Verstärkung der miteinander streitenden bewußten bereit gefunden
    haben, und ich unternehme es in solchen Fällen, den Konflikt
    durch psychische Analyse zu beenden. Der Mann erzählte mir
    eines Tages von einem kleinen Vorfall, der ihn aufs äußerste
    erschreckt hatte. Er hetzte" mit seinem älteren Kinde, dem
    weitaus geliebteren, hob es hoch und ließ es nieder und einmal
    an solcher Stelle und so hoch, daß das Kind mit dem Scheitel
    fast an den schwer herabhängenden Gasluster angestoßen wäre.
    Fast, aber doch eigentlich nicht oder gerade eben noch! Dem
    Kinde war nichts geschehen, aber es wurde vor Schreck schwindlig.
    Der Vater blieb entsetzt mit dem Kinde im Arme stehen, die
    droschke überfahren (Leberquetschung, die einige Stunden später den Tod herbei-
    führte). Die Stelle haben wir früher Hunderte von Malen begangen; Fräulein Z.
    war überaus vorsichtig, hat mich selbst sehr oft vor Unvorsichtigkeiten zurück-
    gehalten, an diesem Morgen fuhren fast überhaupt keine Fuhrwerke, die Straßen-
    bahnen, Omnibusse usw. streikten gerade um diese Zeit herrschte fast absolute
    Ruhe, die Droschke mußte sie, wenn nicht sehen, unbedingt hören! Alle Welt
    glaubt an einen Zufall' mein erster Gedanke war: Das ist unmöglich
    einer Absicht kann allerdings auch keine Rede sein. Ich versuchte eine psychologische
    Erklärung. Nach längerer Zeit glaubte ich sie in Ihrer Psychopathologie des Alltags-
    lebens gefunden zu haben. Zumal Fräulein Z. bisweilen eine gewisse Neigung zum
    Selbstmord äußerte, ja, auch mich dazu zu veranlassen suchte, Gedanken, die ich
    ihr oft genug ausgeredet habe; z. B. begann sie noch zwei Tage vorher nach der
    Rückkehr von einem Spaziergang äußerlich ganz unmotiviert von ihrem Tode und
    Erbschaftsregulierungen zu sprechen; letztere hat sie übrigens nicht vorgenommen!
    Ein Zeichen, daß diese Äußerungen bestimmt auf keine Absicht zurückzuführen sind.
    Wenn ich mein unmaßgebliches Urteil darüber aussprechen darf, so wäre es das,
    daß ich in diesem Unglück nicht einen Zufall, auch keine Wirkung einer Bewußt-
    seinstrübung, sondern eine in unbewußter Absicht ausgeführte absichtliche Selbst-
    vernichtung sehe, die als zufällige Verunglückung maskiert war. Bestärkt werde ich
    in dieser Auffassung durch Äußerungen von Fräulein Z. gegenüber ihren Verwandten,
    sowohl früher, als sie mich noch nicht kannte, als auch später, wie auch mir gegen-
    über bis in die letzten Tage hinein alles aufzufassen als eine Wirkung des Ver-
    lustes ihres früheren Bräutigams, den nichts in ihren Augen zu ersetzen imstande
    war."
     

    "
     

    von
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    209
     

    Mutter bekam einen hysterischen Anfall. Die besondere Geschick-
    lichkeit dieser unvorsichtigen Bewegung, die Heftigkeit der Reaktion
    bei den Eltern legten es mir nahe, in dieser Zufälligkeit eine
    Symptomhandlung zu suchen, welche eine böse Absicht gegen
    das geliebte Kind zum Ausdruck bringen sollte. Den Widerspruch
    gegen die aktuelle Zärtlichkeit dieses Vaters zu seinem Kinde
    konnte ich aufheben, wenn ich den Impuls zur Schädigung in
    die Zeit zurückverlegte, da dieses Kind das einzige und so klein
    gewesen war, daß sich der Vater noch nicht zärtlich für dasselbe
    zu interessieren brauchte. Dann hatte ich es leicht anzunehmen,
    daß der von seiner Frau wenig befriedigte Mann damals den
    Gedanken gehabt oder den Vorsatz gefaßt: Wenn dieses kleine
    Wesen, an dem mir gar nichts liegt, stirbt, dann bin ich frei
    und kann mich von der Frau scheiden lassen. Ein Wunsch nach
    dem Tode dieses jetzt so geliebten Wesens mußte also unbewußt
    weiterbestehen. Von hier ab war der Weg zur unbewußten
    Fixierung dieses Wunsches leicht zu finden. Eine mächtige Deter-
    minierung ergab sich wirklich aus der Kindheitserinnerung des
    Patienten, daß der Tod eines kleines Bruders, den die Mutter
    der Nachlässigkeit des Vaters zur Last legte, zu heftigen Aus-
    einandersetzungen zwischen den Eltern mit Scheidungsandrohung
    geführt hatte. Der weitere Verlauf der Ehe meines Patienten
    bestätigte meine Kombination auch durch den therapeutischen
    Erfolg.
     

    J. Stärcke (l. c.) hat ein Beispiel dafür gegeben, daß Dichter
    kein Bedenken tragen, ein Vergreifen an die Stelle einer absicht-
    lichen Handlung zu setzen und es somit zur Quelle der schwersten
    Konsequenzen zu machen:
     

    „In einer der Skizzen von Heyermans' kommt ein Beispiel
    von Vergreifen oder, genauer gesagt, Fehlgreifen vor, das vom
    Autor als dramatisches Motiv angewandt wird.
     

    1) Hermann Heyermans, Schetsen van Samuel Falkland, 18. Bundel, Amster-
    dam, H. J. W. Becht, 1914.
     

    Freud, IV
     

    14
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    210
     

    Es ist die Skizze,Tom und Teddie'. Von einem Taucher-
    paar das in einem Spezialitätentheater auftritt, längere Zeit
    unterm Wasser bleibt und dort Kunststücke ausführt in einem
    eisernen Bassin mit gläsernen Wänden hält die Frau es seit
    kurzem mit einem anderen Mann, einem Dresseur. Der Mann-
    Taucher hat sie gerade vor der Vorstellung
    der Vorstellung zusammen im
    Ankleidezimmer ertappt. Stille Szene, drohende Blicke
    der Taucher sagt: „Nachher!" Die Vorstellung fängt an.
    Der Taucher wird das schwierigste Kunststück machen,
    bleibt zwei und eine halbe Minute in einer hermetisch
    geschlossenen Kiste unterm Wasser'.
    Sie hatten dieses
    Kunststück schon öfters gemacht, die Kiste wurde geschlossen,
    und,Teddie zeigt dem Publikum, das auf seinen Uhren die Zeit
    kontrollierte, den Schlüssel'. Sie ließ auch absichtlich den
    Schlüssel ein paarmal ins Bassin fallen und tauchte dann eilig
    danach, um nicht zu spät zu sein, wenn der Koffer geöffnet
    werden mußte.
     

    und
     

    Blicke
     

    er
     

    An diesem Abend des 31. Jänner wurde Tom wie gewöhnlich
    von den kleinen Fingern des munter-frischen Weibchens einge-
    sperrt. Er lächelte hinter dem Guckloch
    sie spielte mit dem
    Schlüssel und wartete auf sein warnendes Zeichen. Zwischen den
    Kulissen stand der Dresseur mit seinem tadellosen Frack, seiner
    weißen Krawatte, seiner Reitpeitsche. Um ihre Aufmerksamkeit
    auf sich zu ziehen, pfiff er ganz kurz, der Dritte. Sie schaute
    hin, lachte und mit der ungeschickten Gebärde von jemand, dessen
    Aufmerksamkeit abgelenkt wird, warf sie den Schlüssel so wild
    in die Höhe, daß er genau zwei Minuten zwanzig Sekunden,
    gut gezählt, neben das Bassin, zwischen dem das Fußgestell
    verdeckenden Flaggentuch fiel. Keiner hatte es gesehen. Keiner
    konnte es sehen. Vom Saal aus gesehen, war die optische
    Täuschung so, daß jedermann den Schlüssel ins Wasser gleiten
    sah und keiner der Theaterhelfer merkte es, weil das Flaggen-
    tuch den Laut milderte.
     

  • S.

    VIII. Das Vergreifen
     

    211
     

    Lachend, ohne zu zaudern, kletterte Teddie über den Rand des
    Bassins. Lachend er hielt es wohl aus kam sie die Leiter
    herunter. Lachend verschwand sie unter dem Fußgestell, um
    dort zu suchen, und als sie den Schlüssel nicht sofort fand,
    bückte sie sich mit einer Mimik zum Stehlen, mit einem Aus-
    druck auf ihrem Gesichte, als ob sie sagte: ,0 jemine, wie das
    doch lästig ist an der Vorderseite des Flaggentuches.
     

    Unterdessen machte Tom seine drolligen Grimassen hinter
    dem Guckloch, wie wenn auch er unruhig würde. Man sah das
    Weiß seines falschen Gebisses, das Kauen seiner Lippen unter
    dem Flachsschnurrbart, die komischen Atemblasen, die man auch
    beim Apfelessen gesehen hatte. Man sah das Grabsen und
    Wühlen seiner bleichen Knöchelfinger und man lachte, so wie
    man diesen Abend schon öfter gelacht hatte.
     

    Zwei Minuten und achtundfünfzig Sekunden...
     

    Drei Minuten sieben Sekunden... zwölf Sekunden...
    Bravo! Bravo! Bravo!...
     

    Da entstand eine Bestürzung im Saale und ein Scharren mit
    den Füßen, weil auch die Knechte und der Dresseur zu suchen
    anfingen und der Vorhang fiel, bevor der Deckel aufgehoben war.
     

    Sechs englische Tänzerinnen traten auf dann der Mann
    mit den Ponys, Hunden und Affen. Und so weiter.
     

    Erst am nächsten Morgen vernahm das Publikum, daß ein
    Unglück geschehen war, daß Teddie als Witwe auf der Welt
    zurückblieb..."
     

    Aus dem Zitierten geht hervor, wie vorzüglich dieser Künstler
    selber das Wesen der Symptomhandlung verstanden haben muß,
    so treffend die tiefere Ursache der tödlichen Unge-
    schicklichkeit vorzuführen."
     

    14*