S.
VIII
DAS VERGREIFEN
Der oben erwähnten Arbeit von Meringer und Mayer
entnehme ich noch die Stelle (S. 98):
,,Die Sprechfehler stehen nicht ganz allein da. Sie entsprechen
den Fehlern, die bei anderen Tätigkeiten der Menschen sich
oft einstellen und ziemlich töricht,Vergeßlichkeiten genannt
werden."
Ich bin also keinesfalls der erste, der Sinn und Absicht
hinter den kleinen Funktionsstörungen des täglichen Lebens
Gesunder vermutet.
Wenn die Fehler beim Sprechen, das ja eine motorische
Leistung ist, eine solche Auffassung zugelassen haben, so liegt es
nahe, auf die Fehler unserer sonstigen motorischen Verrichtungen
die nämliche Erwartung zu übertragen. Ich habe hier zwei
Gruppen von Fällen gebildet; alle die Fälle, in denen der
Fehleffekt das Wesentliche scheint, also die Abirrung von der
Intention, bezeichne ich als „Vergreifen", die anderen, in
denen eher die ganze Handlung unzweckmäßig erscheint, benenne
ich „Symptom- und Zufallshandlungen". Die Scheidung
ist aber wiederum nicht reinlich durchzuführen; wir kommen ja
wohl zur Einsicht, daß alle in dieser Abhandlung gebrauchten
1) Eine zweite Publikation Meringers hat mir später gezeigt, wie sehr
ich diesem Autor unrecht tat, als ich ihm solches Verständnis zumutete.
12*
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
180
Einteilungen nur deskriptiv bedeutsame sind und der inneren
Einheit des Erscheinungsgebietes widersprechen.
Das psychologische Verständnis des "Vergreifens" erfährt
offenbar keine besondere Förderung, wenn wir es der Ataxie
und speziell der „kortikalen Ataxie" subsumieren. Versuchen wir
lieber, die einzelnen Beispiele auf ihre jeweiligen Bedingungen
zurückzuführen. Ich werde wiederum Selbstbeobachtungen hiezu
verwenden, zu denen sich die Anlässe bei mir nicht besonders
häufig finden.
a) In früheren Jahren, als ich Hausbesuche bei Patienten noch
häufiger machte als gegenwärtig, geschah es mir oft, daß ich,
vor der Tür, an die ich anklopfen oder anläuten sollte, angekommen,
die Schlüssel meiner eigenen Wohnung aus der Tasche zog, um
sie dann fast beschämt wieder einzustecken. Wenn ich mir
zusammenstelle, bei welchen Patienten dies der Fall war, so
muß ich annehmen, die Fehlhandlung Schlüssel herausziehen
anstatt läuten bedeutete eine Huldigung für das Haus, wo
ich in diesen Mißgriff verfiel. Sie war äquivalent dem Gedanken:
„Hier bin ich wie zu Hause," denn sie trug sich nur zu, wo
ich den Kranken liebgewonnen hatte. (An meiner eigenen
Wohnungstür läute ich natürlich niemals.)
Die Fehlhandlung war also eine symbolische Darstellung eines
doch eigentlich nicht für ernsthafte, bewußte Annahme bestimmten
Gedankens, denn in der Realität weiß der Nervenarzt genau,
daß der Kranke ihm nur so lange anhänglich bleibt, als er noch
Vorteil von ihm erwartet, und daß er selbst nur zum Zwecke
der psychischen Hilfeleistung ein übermäßig warmes Interesse für
seine Patienten bei sich gewähren läßt.
Daß das sinnvoll fehlerhafte Hantieren mit dem Schlüssel
keineswegs eine Besonderheit meiner Person ist, geht aus zahl-
reichen Selbstbeobachtungen anderer hervor.
Eine fast identische Wiederholung meiner Erfahrungen beschreibt
A. Maeder (Contrib. à la psychopathologie de la vie quotidienne,
S.
VIII. Das Vergreifen
181
Arch. de Psychol., VI, 1906): Il est arrivé à chacun de sortir
son trousseau, en arrivant à la porte d'un ami particulièrement
cher, de se surprendre pour ainsi dire, en train d'ouvrir avec sa
clé comme chez soi. C'est un retard, puisqu'il faut sonner malgré
tout, mais c'est une preuve qu'on se sent ou qu'on voudrait
se sentir comme chez soi, auprès de cet ami.
E. Jones (1. C., p. 509): The use of keys is a fertile source
of occurrences of this kind of which two examples may be given.
If I am disturbed in the midst of some engrossing work at home
by having to go to the hospital to carry out some routine work,
I am very apt to find myself trying to open the door of my
laboratory there with the key of my desk at home, although the
two keys are quite unlike each other. The mistake unconsciously
demonstrates where I would rather be at the moment.
Some years ago I was acting in a subordinate position at a
certain institution, the front door of which was kept locked, so
that it was necessary to ring for admission. On several occas-
sions I found myself making serious attempts to open the door
with my house key. Each one of the permanent visiting staff,
of which I aspired to be a member, was provided with a key
to avoid the trouble of having to wait at the door. My mistakes
thus expressed my desire to be on a similar footing, and to be
quite at home" there.
Ähnlich berichtet Dr. Hanns Sachs: Ich trage stets zwei
Schlüssel bei mir, von denen der eine die Tür zur Kanzlei, der
andere die zu meiner Wohnung öffnet. Leicht verwechselbar
sind sie durchaus nicht, da der Kanzleischlüssel mindestens
dreimal so groß ist wie der Wohnungsschlüssel. Überdies trage
ich den ersteren in der Hosentasche, den anderen in der Weste.
Trotzdem geschah es öfters, daß ich vor der Tür stehend bemerkte,
daß ich auf der Treppe den falschen Schlüssel vorbereitet hatte.
Ich beschloß, einen statistischen Versuch zu machen; da ich ja
täglich ungefähr in derselben Gemütsverfassung vor den beiden
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
182
Türen stehe, mußte auch die Verwechslung der beiden Schlüssel,
wenn anders sie psychisch determiniert sein sollte, eine regel-
mäßige Tendenz zeigen. Die Beobachtung bei späteren Fällen
ergab dann, daß ich regelmäßig den Wohnungsschlüssel vor der
Kanzleitür herausnahm, nur ein einziges Mal war das Umgekehrte
der Fall: ich kam ermüdet nach Hause, wo, wie ich wußte, ein
Gast meiner wartete. Vor der Tür machte ich einen Versuch,
sie mit dem natürlich viel zu großen Kanzleischlüssel aufzu-
sperren.
b) In einem bestimmten Hause, wo ich seit sechs Jahren
zweimal täglich zu festgesetzten Zeiten vor einer Tür im zweiten
Stock auf Einlaß warte, ist es mir während dieses langen Zeit-
raumes zweimal (mit einem kurzen Intervall) geschehen, daß ich
um einen Stock höher gegangen bin, also mich „verstiegen"
habe. Das eine Mal befand ich mich in einem ehrgeizigen Tag-
traum, der mich höher und immer höher steigen" ließ. Ich
überhörte damals sogar, daß sich die fragliche Tür geöffnet hatte,
als ich den Fuß auf die ersten Stufen des dritten Stockwerks
setzte. Das andere Mal ging ich wiederum „,in Gedanken versunken"
zu weit; als ich es bemerkte, umkehrte und die mich beherrschende
Phantasie zu erhaschen suchte, fand ich, daß ich mich über
eine (phantasierte) Kritik meiner Schriften ärgerte, in welcher
mir der Vorwurf gemacht wurde, daß ich immer zu weit
ginge", und in die ich nun den wenig respektvollen Ausdruck
verstiegen" einzusetzen hatte.
c) Auf meinem Schreibtisch liegen seit vielen Jahren neben-
einander ein Reflexhammer und eine Stimmgabel. Eines Tages
eile ich nach Schluß der Sprechstunde fort, weil ich einen
bestimmten Stadtbahnzug erreichen will, stecke bei vollem Tages-
licht anstatt des Hammers die Stimmgabel in die Rocktasche und
werde durch die Schwere des die Tasche herabziehenden Gegen-
standes auf meinen Mißgriff aufmerksam gemacht. Wer sich
über so kleine Vorkommnisse Gedanken zu machen nicht gewohnt
S.
VIII. Das Vergreifen
183
ist, wird ohne Zweifel den Fehlgriff durch die Eile des Moments
erklären und entschuldigen. Ich habe es trotzdem vorgezogen,
mir die Frage zu stellen, warum ich eigentlich die Stimmgabel
anstatt des Hammers genommen. Die Eilfertigkeit hätte eben-
sowohl ein Motiv sein können, den Griff richtig auszuführen,
um nicht Zeit mit der Korrektur zu versäumen.
Wer hat zuletzt nach der Stimmgabel gegriffen? lautet die
Frage, die sich mir da aufdrängt. Das war vor wenigen Tagen
ein idiotisches Kind, bei dem ich die Aufmerksamkeit auf
Sinneseindrücke prüfte, und das durch die Stimmgabel so gefesselt
wurde, daß ich sie ihm nur schwer entreißen konnte. Soll das
also heißen, ich sei ein Idiot? Allerdings scheint es so, denn der
nächste Einfall, der sich an Hammer assoziiert, lautet "Chamer"
(hebräisch: Esel).
Was soll aber dieses Geschimpfe? Man muß hier die Situation
befragen. Ich eile zu einer Konsultation in einem Orte an der
Westbahnstrecke, zu einer Kranken, die nach der brieflich mitge-
teilten Anamnese vor Monaten vom Balkon herabgestürzt ist
und seither nicht gehen kann. Der Arzt, der mich einlädt,
schreibt, er wisse trotzdem nicht, ob es sich um Rückenmarks-
verletzung oder um traumatische Neurose
handle.
Da soll ich nun entscheiden. Da wäre also eine Mahnung am
Platze, in der heiklen Differentialdiagnose besonders vorsichtig
zu sein. Die Kollegen meinen ohnedies, man diagnostiziere viel
zu leichtsinnig Hysterie, wo es sich um ernstere Dinge handle.
Aber die Beschimpfung ist noch nicht gerechtfertigt! Ja, es
kommt hinzu, daß die kleine Bahnstation der nämliche Ort ist,
an dem ich vor Jahren einen jungen Mann gesehen, der seit
einer Gemütsbewegung nicht ordentlich gehen konnte. Ich
diagnostizierte damals Hysterie und nahm den Kranken später in
psychische Behandlung, und dann stellte es sich heraus, daß ich
freilich nicht unrichtig diagnostiziert hatte, aber auch nicht
richtig. Eine ganze Anzahl der Symptome des Kranken war
Hysterie
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
184
hysterisch gewesen, und diese schwanden auch prompt im Laufe
der Behandlung. Aber hinter diesen wurde nun ein für die
Therapie unantastbarer Rest sichtbar, der sich nur auf eine
multiple Sklerose beziehen ließ. Die den Kranken nach mir
sahen, hatten es leicht, die organische Affektion zu erkennen; ich
hätte kaum anders vorgehen und anders urteilen können, aber
der Eindruck war doch der eines schweren Irrtums; das Ver-
sprechen der Heilung, das ich ihm gegeben hatte, war natürlich
nicht zu halten. Der Mißgriff nach der Stimmgabel anstatt nach
dem Hammer ließ sich also so in Worte übersetzen: Du Trottel,
du Esel, nimm dich diesmal zusammen, daß du nicht wieder
eine Hysterie diagnostizierst,
eine unheilbare Krankheit
vorliegt, wie bei dem armen Mann an demselben Ort vor
Jahren Und zum Glück für diese kleine Analyse, wenn auch
zum Unglück für meine Stimmung, war dieser selbe Mann mit
schwerer spastischer Lähmung wenige Tage vorher und einen
Tag nach dem idiotischen Kind in meiner Sprechstunde gewesen.
Man merkt, es ist diesmal die Stimme der Selbstkritik, die
sich durch das Fehlgreifen vernehmlich macht. Zu solcher Ver-
wendung als Selbstvorwurf ist der Fehlgriff ganz besonders geeignet.
Der Miẞgriff hier will den Mißgriff, den man anderswo begangen
hat, darstellen.
d) Selbstverständlich kann das Fehlgreifen auch einer ganzen
Reihe anderer dunkler Absichten dienen. Hier ein erstes Beispiel:
Es kommt sehr selten vor, daß ich etwas zerschlage. Ich bin nicht
besonders geschickt, aber infolge der anatomischen Integrität
meiner Nervmuskelapparate sind Gründe für so ungeschickte
Bewegungen mit unerwünschtem Erfolge bei mir offenbar nicht
gegeben. Ich weiß also kein Objekt in meinem Hause zu erinnern,
dessengleichen ich je zerschlagen hätte. Ich war durch die Enge
in meinem Studierzimmer oft genötigt, in den unbequemsten
Stellungen mit einer Anzahl von antiken Ton- und Steinsachen,
von denen ich eine kleine Sammlung habe, zu hantieren, so daß
S.
VIII. Das Vergreifen
185
Zuschauer die Besorgnis ausdrückten, ich würde etwas herunter-
schleudern und zerschlagen. Es ist aber niemals geschehen. Warum
habe ich also einmal den marmornen Deckel meines einfachen
Tintengefäßes zu Boden geworfen, so daß er zerbrach?
Mein Tintenzeug besteht aus einer Platte von Untersberger
Marmor, die für die Aufnahme des gläsernen Tintenfäßchens
ausgehöhlt ist; das Tintenfaß trägt einen Deckel mit Knopf aus
demselben Stein. Ein Kranz von Bronzestatuetten und Terrakotta-
figürchen ist hinter diesem Tintenzeug aufgestellt. Ich setze mich
an den Tisch, um zu schreiben, mache mit der Hand, welche
den Federstiel hält, eine merkwürdig ungeschickte, ausfahrende
Bewegung und werfe so den Deckel des Tintenfasses, der bereits
auf dem Tische lag, zu Boden. Die Erklärung ist nicht schwer
zu finden. Einige Stunden vorher war meine Schwester im
Zimmer gewesen, um sich einige neue Erwerbungen anzusehen.
Sie fand sie sehr schön und äußerte dann: „Jetzt sieht dein
Schreibtisch wirklich hübsch aus, nur das Tintenzeug paßt nicht
dazu. Du mußt ein schöneres haben." Ich begleitete die Schwester
hinaus und kam erst nach Stunden zurück. Dann aber habe ich,
wie es scheint, an dem verurteilten Tintenzeug die Exekution
vollzogen. Schloß ich etwa aus den Worten der Schwester, daß
sie sich vorgenommen habe, mich zur nächsten festlichen
Gelegenheit mit einem schöneren Tintenzeug zu beschenken,
und zerschlug das unschöne alte, um sie zur Verwirklichung
ihrer angedeuteten Absicht zu nötigen? Wenn dem so ist, so war
meine schleudernde Bewegung nur scheinbar ungeschickt; in
Wirklichkeit war sie höchst geschickt und zielbewußt und ver-
stand es, allen wertvolleren, in der Nähe befindlichen Objekten
schonend auszuweichen.
Ich glaube wirklich, daß man diese Beurteilung für eine ganze
Reihe von anscheinend zufällig ungeschickten Bewegungen
annehmen muß. Es ist richtig, daß diese etwas Gewaltsames,
Schleuderndes, wie Spastisch-Ataktisches zur Schau tragen, aber
S.
186
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
sie erweisen sich als von einer Intention beherrscht und treffen
ihr Ziel mit einer Sicherheit, die man den bewußt willkürlichen
Bewegungen nicht allgemein nachrühmen kann. Beide Charaktere,
die Gewaltsamkeit wie die Treffsicherheit, haben sie übrigens mit
den motorischen Äußerungen der hysterischen Neurose und zum
Teile auch mit den motorischen Leistungen des Somnambulismus
gemeinsam, was wohl hier wie dort auf die nämliche unbekannte
Modifikation des Innervationsvorganges hinweist.
Auch eine von Frau Lou Andreas-Salomé mitgeteilte
Selbstbeobachtung kann überzeugend dartun, wie eine hartnäckig
festgehaltene „Ungeschicklichkeit" in sehr geschickter Weise
uneingestandenen Absichten dient.
"Genau von der Zeit an, wo die Milch seltene und kostbare
Ware geworden war, geschah es mir, zu meinem
meinem ständigen
Schrecken und Ärgernis, sie beständig überkochen zu lassen.
Umsonst mühte ich mich, dessen Herr zu werden, obwohl ich
durchaus nicht sagen kann, daß ich mich bei sonstigen Gelegen-
heiten zerstreut oder unachtsam bewiesen hätte. Eher hätte das
Ursache gehabt nach dem Tode meines lieben weißen Terriers
(der so berechtigterweise wie nur je ein Mensch,Freund'
[russisch Drujok] hieß). Aber siehe da! niemals seitdem
ist die Milch auch nur um ein Tröpfchen übergekocht. Mein
nächster Gedanke darüber lautete: Wie gut ist das, da das auf
Herdplatte oder Fußboden sich Ergießende nun nicht einmal
Verwändung fände! Und gleichzeitig sah ich meinen,Freund'
vor mir, wie er gespannt dasaß, die Kochprozedur zu beobachten:
den Kopf etwas schiefgeneigt und mit dem Schwanzende schon
erwartungsvoll wedelnd, mit getroster Sicherheit des sich voll-
ziehenden prächtigen Unglücks gewärtig. Damit war freilich alles
klar, und auch dies: daß er mir noch mehr lieb gewesen war,
als ich selbst wußte."
Es ist mir in den letzten Jahren, seitdem ich solche Beob-
achtungen sammle, noch einigemal geschehen, daß ich Gegen-
S.
187
VIII. Das Vergreifen
stände von gewissem Werte zerschlagen oder zerbrochen habe,
aber die Untersuchung dieser Fälle hat mich überzeugt, daß es
niemals ein Erfolg des Zufalls oder meiner absichtslosen Unge-
schicklichkeit war. So habe ich eines Morgens, als ich im Bade-
kostüm, die Füße mit Strohpantoffeln bekleidet, durch ein Zimmer
ging, einem plötzlichen Impuls folgend, einen der Pantoffel vom
Fuß weg gegen die Wand geschleudert, so daß er eine hübsche
kleine Venus von Marmor von ihrer Konsole herunterholte.
Während sie in Stücke ging, zitierte ich ganz ungerührt die
Verse von Busch:
Ach die Venus ist perdü
Klickeradoms ! von Medici !
Dieses tolle Treiben und meine Ruhe bei dem Schaden finden
ihre Aufklärung in der damaligen Situation. Wir hatten eine
Schwerkranke in der Familie, an deren Genesung ich im stillen
bereits verzweifelt hatte. An jenem Morgen hatte ich von einer
großen Besserung erfahren; ich weiß, daß ich mir gesagt hatte:
also bleibt sie doch am Leben. Dann diente mein Anfall von
Zerstörungswut zum Ausdruck einer dankbaren Stimmung gegen
das Schicksal und gestattete mir, eine „Opferhandlung" zu
vollziehen, gleichsam als hätte ich gelobt, wenn sie gesund wird,
bringe ich dies oder jenes zum Opfer! Daß ich für dieses Opfer
die Venus von Medici ausgesucht, sollte gewiß nichts anderes als
eine galante Huldigung für die Genesende sein; unbegreiflich
bleibt mir aber auch diesmal, daß ich so rasch entschlossen, so
geschickt gezielt und kein anderes der in so großer Nähe
befindlichen Objekte getroffen habe.
Ein anderes Zerbrechen, für das ich mich wiederum des der
Hand entfahrenden Federstieles bedient habe, hatte gleichfalls die
Bedeutung eines Opfers, aber diesmal eines Bittopfers zur
Abwendung. Ich hatte mir einmal darin gefallen, einem treuen
und verdienten Freunde einen Vorwurf zu machen, der sich auf
die Deutung gewisser Zeichen aus seinem Unbewußten, auf nichts
S.
188
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
anderes, stützte. Er nahm es übel auf und schrieb mir einen
Brief, in dem er mich bat, meine Freunde nicht psychoanalytisch
zu behandeln. Ich mußte ihm recht geben und beschwichtigte
ihn durch meine Antwort. Während ich diesen Brief schrieb,
hatte ich meine neueste Erwerbung, ein prächtig glasiertes
ägyptisches Figürchen, vor mir stehen. Ich zerschlug es auf die
beschriebene Weise und wußte dann sofort, daß ich dies Unheil
angerichtet, um ein größeres abzuwenden. Zum Glück ließ sich
beides die Freundschaft wie die Figur so kitten, daß man
den Sprung nicht merken würde.
Ein drittes Zerbrechen stand in weniger ernsthaftem Zusammen-
hang; es war nur eine maskierte,,Exekution", um den Ausdruck
von Th. Vischer (,,Auch einer") zu gebrauchen, an einem
Objekt, das sich meines Gefallens nicht mehr erfreute. Ich hatte
eine Zeitlang einen Stock mit Silbergriff getragen; als die dünne
Silberplatte einmal ohne mein Verschulden beschädigt worden
war, wurde sie schlecht repariert. Bald nachdem der Stock zurück-
gekommen war, benützte ich den Griff, um im Übermut nach
dem Beine eines meiner Kleinen zu angeln. Dabei brach er
natürlich entzwei und ich war von ihm befreit.
Der Gleichmut, mit dem man in all diesen Fällen den ent-
standenen Schaden aufnimmt, darf wohl als Beweis für das
Bestehen einer unbewußten Absicht bei der Ausführung in
Anspruch genommen werden.
Gelegentlich stößt man, wenn man den Begründungen einer so
geringfügigen Fehlleistung nachforscht, wie es das Zerbrechen
eines Gegenstandes ist, auf Zusammenhänge, die tief in die Vor-
geschichte eines Menschen hineinführen und überdies an der
gegenwärtigen Situation desselben haften. Nachstehende Analyse
von L. Jekels soll hiefür ein Beispiel geben.
,Ein Arzt befindet sich im Besitze einer, wenn auch nicht
kostbaren, so doch sehr hübschen irdenen Blumenvase. Dieselbe
wurde ihm seinerzeit nebst vielen anderen, darunter auch kost-
"
S.
VIII. Das Vergreifen
189
baren Gegenständen von einer (verheirateten) Patientin geschenkt.
Als bei derselben die Psychose manifest wurde, hat er all die
Geschenke den Angehörigen der Patientin zurückerstattet bis
auf eine weit weniger kostspielige Vase, von der er sich nicht
trennen konnte, angeblich wegen ihrer Schönheit. Doch kostete
diese Unterschlagung den sonst so skrupulösen Menschen einen
gewissen inneren Kampf, war er sich doch der Ungehörigkeit
dieser Handlung vollkommen bewußt und half sich bloß über
seine Gewissensbisse mit dem Vorhalt hinweg, die Vase habe
eigentlich keinen Materialwert, sei schwerer einzupacken usw. -
Als er nun einige Monate später im Begriffe war, den ihm streitig
gemachten Restbetrag für die Behandlung dieser Patientin durch
einen Rechtsanwalt reklamieren und eintreiben zu lassen, meldeten
sich die Selbstvorwürfe wieder; flüchtig befiel ihn auch die
Angst, die vermeintliche Unterschlagung könnte von den Ange-
hörigen entdeckt und ihm im Strafverfahren entgegengehalten
werden. Besonders jedoch das erste Moment war eine Weile
hindurch so stark, daß er schon daran dachte, auf eine etwa
hundertmal höhere
verzichten
quasi als
Entschädigung für den unterschlagenen Gegenstand er über-
wand jedoch alsbald diesen Gedanken, indem er ihn als absurd
beiseite schob.
Forderung zu
Während dieser Stimmung passiert es ihm nun, daß er, der
sonst außerordentlich selten etwas zerbricht und seinen Muskel-
apparat gut beherrscht, beim Erneuern des Wassers in der Vase
dieselbe durch eine organisch mit dieser Handlung gar nicht
zusammenhängende, sonderbar,ungeschickte Bewegung vom
Tische wirft, so daß sie etwa in fünf oder sechs größere Stücke
zerbricht. Und dies, nachdem er am Abend zuvor, nur nach
vorherigem starken Zögern, sich entschlossen hatte, gerade diese
Vase blumengefüllt vor die geladenen Gäste auf den Tisch des
Speisezimmers zu stellen, und nachdem er knapp vor dem Zer-
brechen an sie gedacht, sie in seinem Wohnzimmer angstvoll
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
190
vermißt und eigenhändig aus dem anderen Zimmer geholt hat!
Als er nun nach der anfänglichen Bestürzung die Stücke auf-
sammelt, und gerade als er durch Zusammenpassen derselben
konstatiert, es werde noch möglich sein, die Vase fast lückenlos
zu rekonstruieren, da gleiten ihm die zwei oder drei
größeren Bruchstücke aus den Händen; sie
sie zerstieben in
tausend Splitter und mit ihnen auch jegliche Hoffnung auf
diese Vase.
Fraglos hatte diese Fehlleistung die aktuelle Tendenz, dem
Arzte das Verfolgen seines Rechtes zu ermöglichen, indem
dieselbe das beseitigte, was er zurückbehalten hatte und was ihn
einigermaßen behinderte, das zu verlangen, was man ihm zurück-
behalten hatte.
Doch außer dieser direkten, besitzt für jeden Psychoanalytiker
diese Fehlleistung noch eine weitere, ungleich tiefere und wichtigere,
symbolische Determinierung; ist doch Vase ein unzweifelhaftes
Symbol der Frau.
Der Held dieser kleinen Geschichte hatte seine schöne, junge
und heißgeliebte Frau auf tragische Weise verloren; er verfiel in
eine Neurose, deren Grundnote war, er sei an dem Unglück schuld
Ger habe eine schöne Vase zerbrochen). Auch fand er kein Ver-
hältnis mehr zu den Frauen und hatte Abneigung vor der Ehe und
vor dauernden Liebesbeziehungen, die im Unbewußten als Untreue
gegen seine verstorbene Frau gewertet, im Bewußten aber damit
rationalisiert wurden, er bringe den Frauen Unglück, es könnte
sich eine seinetwegen töten usw. (Da durfte er natürlich die
Vase nicht dauernd behalten!)
Bei seiner starken Libido ist es nun nicht verwunderlich, daß
ihm als die adäquatesten die ihrer Natur nach doch passageren
Beziehungen zu verheirateten Frauen vorschwebten (daher Zurück-
halten der Vase eines anderen).
Eine schöne Bestätigung für diese Symbolik findet sich in
nachstehenden zwei Momenten: Infolge der Neurose unterzog er
S.
VIII. Das Vergreifen
191
sich der psychoanalytischen Behandlung. Im Verlaufe der Sitzung,
in der er von dem Zerbrechen der ,irdenen' Vase erzählte, kam
er viel später wieder einmal auf sein Verhältnis zu den Frauen
zu sprechen und meinte, er sei bis zur Unsinnigkeit anspruchs-
voll; so verlange er z. B. von den Frauen,unirdische Schönheit.
Doch eine sehr deutliche Betonung, daß er noch an seiner (ver-
storbenen i. e. unirdischen)
unirdischen) Frau hänge und von irdischer
Schönheit nichts wissen wolle; daher das Zerbrechen der,irdenen
(irdischen) Vase.
Und genau zur Zeit, als er in der Übertragung die Phantasie
bildete, die Tochter seines Arztes zu heiraten, da verehrte er
demselben eine Vase, quasi als Andeutung, nach welcher
Richtung ihm die Revanche erwünscht wäre.
Voraussichtlich läßt sich die symbolische Bedeutung der Fehl-
leistung noch mannigfaltig variieren, z. B. die Vase nicht füllen
wollen usw. Interessanter erscheint mir jedoch die Erwägung,
daß das Vorhandensein von mehreren, mindestens zweien, wahr-
scheinlich auch getrennt aus dem Vor- und Unbewußten wirksamen
Motiven, sich in der Doppelung der Fehlleistung Umstoßen
und Entgleiten der Vase
widerspiegelt."
e) Das Fallenlassen von Objekten, Umwerfen, Zerschlagen der-
selben scheint sehr häufig zum Ausdruck unbewußter Gedanken-
gänge verwendet zu werden, wie man gelegentlich durch Analyse
beweisen kann, häufiger aber aus den abergläubisch oder scherzhaft
daran geknüpften Deutungen im Volksmunde erraten möchte. Es
ist bekannt, welche Deutungen sich an das Ausschütten von Salz,
Umwerfen eines Weinglases, Steckenbleiben eines zu Boden gefallenen
Messers u. dgl. knüpfen. Welches Anrecht auf Beachtung solche
abergläubische Deutungen haben, werde ich erst an späterer Stelle
erörtern; hieher gehört nur die Bemerkung, daß die einzelne
ungeschickte Verrichtung keineswegs einen konstanten Sinn hat,
1) Internat. Zeitschrift für Psychoanalyse, I, 1915.
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
192
sondern je nach Umständen sich dieser oder jener Absicht als
Darstellungsmittel bietet.
Vor kurzem gab es in meinem Hause eine Zeit, in der
ungewöhnlich viel Glas und Porzellangeschirr zerbrochen wurde;
ich selbst trug mehreres zum Schaden bei. Allein die kleine
psychische Endemie war leicht aufzuklären; es waren die Tage
vor der Vermählung meiner ältesten Tochter. Bei solchen Feiern
pflegte man sonst mit Absicht ein Gerät zu zerbrechen und
ein glückbringendes Wort dazu zu sagen. Diese Sitte mag die
Bedeutung eines Opfers und noch anderen symbolischen Sinn
haben.
Wenn dienende Personen zerbrechliche Gegenstände durch
Fallenlassen vernichten, so wird man an eine psychologische
Erklärung hiefür zwar nicht in erster Linie denken, doch ist
auch dabei ein Beitrag dunkler Motive nicht unwahrscheinlich.
Nichts liegt dem Ungebildeten ferner als die Schätzung der
Kunst und der Kunstwerke. Eine dumpfe Feindseligkeit gegen
deren Erzeugnisse beherrscht unser dienendes Volk, zumal
die Gegenstände, deren Wert sie nicht einsehen, eine Quelle
von Arbeitsanforderung für sie werden. Leute von derselben
Bildungsstufe und Herkunft zeichnen sich dagegen in wissen-
schaftlichen Instituten oft durch große Geschicklichkeit und
Verläßlichkeit in der Handhabung heikler Objekte aus, wenn
sie erst begonnen haben, sich mit ihrem Herrn zu identifizieren
und sich zum wesentlichen Personal des Instituts zu rechnen.
Ich schalte hier die Mitteilung eines jungen Technikers ein,
welche Einblick in den Mechanismus einer Sachbeschädigung
gestattet.
,Vor einiger Zeit arbeitete ich mit mehreren Kollegen im
Laboratorium der Hochschule einer Reihe komplizierter
Elastizitätsversuche, eine Arbeit, die wir freiwillig übernommen
hatten, die aber begann, mehr Zeit zu beanspruchen, als wir
erwartet hatten. Als ich eines Tages wieder mit meinem
""
S.
VIII. Das Vergreifen
193
Kollegen F. ins Laboratorium ging, äußerte dieser, wie unangenehm
es ihm gerade heute sei, so viel Zeit zu verlieren, er hätte zu
Hause so viel anderes zu tun; ich konnte ihm nur beistimmen
und äußerte noch halb scherzhaft, auf einen Vorfall der vergangenen
Woche anspielend: ,Hoffentlich wird wieder die Maschine versagen,
so daß wir die Arbeit abbrechen und früher weggehen können!'
Bei der Arbeitsteilung trifft es sich, daß Kollege F. das Ventil
der Presse zu steuern bekommt, d. h. er hat die Druckflüssigkeit
aus dem Akkumulator durch vorsichtiges Öffnen des Ventils
langsam in den Zylinder der hydraulischen Presse einzulassen;
der Leiter des Versuches steht beim Manometer und ruft, wenn
der richtige Druck erreicht ist, ein lautes,Halt'. Auf dieses
Kommando faßt F. das Ventil und dreht es mit aller Kraft
nach links (alle Ventile werden ausnahmslos nach rechts
geschlossen!). Dadurch wird plötzlich der volle Druck des
Akkumulators in der Presse wirksam, worauf die Rohrleitung
nicht eingerichtet ist, so daß sofort eine Rohrverbindung platzt
ein ganz harmloser Maschinendefekt, der uns jedoch zwingt,
für heute die Arbeit einzustellen und nach Hause zu gehen.
Charakteristisch ist übrigens, daß einige Zeit nachher,
wir diesen Vorfall besprachen, Freund F. sich an meine von
mir mit Sicherheit erinnerte Äußerung absolut nicht erinnern
wollte."
als
Sich selbst fallen lassen, einen Fehltritt machen, ausgleiten,
braucht gleichfalls nicht immer als rein zufälliges Fehlschlagen
motorischer Aktion gedeutet zu werden. Der sprachliche Doppel-
sinn dieser Ausdrücke weist bereits auf die Art von verhaltenen
Phantasien hin, die sich durch solches Aufgeben des Körper-
gleichgewichtes darstellen können. Ich erinnere mich an eine
Anzahl von leichteren nervösen Erkrankungen bei Frauen und
Mädchen, die nach einem Falle ohne Verletzung aufgetreten
waren und als traumatische Hysterie zufolge des Schrecks beim
Falle aufgefaßt wurden. Ich bekam schon damals den Eindruck,
Freud, IV
13
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
194
als ob die Dinge anders zusammenhingen, als wäre das Fallen
bereits eine Veranstaltung der Neurose und ein Ausdruck derselben
unbewußten Phantasien sexuellen Inhalts gewesen,
gewesen, die man
als die bewegenden Kräfte hinter den Symptomen vermuten
darf. Sollte dasselbe nicht auch ein Sprichwort sagen wollen,
welches lautet: Wenn eine Jungfrau fällt, fällt sie auf den
Rücken?"
"
Zum Vergreifen kann man auch den Fall rechnen, daß
jemand einem Bettler anstatt einer Kupfer- oder kleinen Silber-
münze ein Goldstück gibt. Die Auflösung solcher Fehlgriffe ist
leicht; es sind Opferhandlungen, bestimmt, das Schicksal zu
erweichen, Unheil abzuwehren u. dgl. Hat man die zärtliche
Mutter oder Tante unmittelbar vor dem Spaziergang, auf dem
sie sich so widerwillig großmütig erzeigt, eine Besorgnis über
die Gesundheit eines Kindes äußern gehört, so kann man
dem Sinne des angeblich unliebsamen Zufalls nicht mehr zweifeln.
Auf solche Art ermöglichen unsere Fehlleistungen die Ausübung
aller jener frommen und abergläubischen Gebräuche, die wegen
des Sträubens unserer ungläubig gewordenen Vernunft das Licht
des Bewußtseins scheuen müssen.
f) Daß zufällige Aktionen eigentlich absichtliche sind, wird
auf keinem anderen Gebiete eher Glauben finden als auf dem
der sexuellen Betätigung, wo die Grenze zwischen beiderlei
Arten sich wirklich zu verwischen scheint. Daß eine scheinbar
ungeschickte Bewegung höchst raffiniert zu sexuellen Zwecken
ausgenutzt werden kann, davon habe ich vor einigen Jahren an
mir selbst ein schönes Beispiel erlebt. Ich traf in einem
befreundeten Hause ein als Gast angelangtes junges Mädchen,
welches ein längst für erloschen gehaltenes Wohlgefallen bei mir
erregte und mich darum heiter, gesprächig und zuvorkommend
stimmte. Ich habe damals auch nachgeforscht, auf welchen Bahnen
dies zuging; ein Jahr vorher hatte dasselbe Mädchen mich kühl
gelassen. Als nun der Onkel des Mädchens, ein sehr alter Herr,
S.
VIII. Das Vergreifen
195
ins Zimmer trat, sprangen wir beide auf, um ihm einen in der
Ecke stehenden Stuhl zu bringen. Sie war behender als ich,
wohl auch dem Objekt näher; so hatte sie sich zuerst des Sessels
bemächtigt und trug ihn mit der Lehne nach rückwärts, beide
Hände auf die Sesselränder gelegt, vor sich hin. Indem ich später
hinzutrat und den Anspruch, den Sessel zu tragen, doch nicht
aufgab, stand ich plötzlich dicht hinter ihr, hatte beide Arme
von rückwärts um sie geschlungen, und meine Hände trafen
sich einen Moment lang vor ihrem Schoß. Ich löste natürlich
die Situation ebenso rasch, als sie entstanden war. Es schien auch
keinem aufzufallen, wie geschickt ich diese ungeschickte Bewegung
ausgebeutet hatte.
Gelegentlich habe ich mir auch sagen müssen, daß das
ärgerliche, ungeschickte Ausweichen auf der Straße, wobei man
durch einige Sekunden hin und her, aber doch stets nach der
nämlichen Seite wie der oder die andere, Schritte macht, bis
endlich beide voreinander stehen bleiben, daß auch dieses ,,den
Weg Vertreten" ein unartig provozierendes Benehmen früherer
Jahre wiederholt und sexuelle Absichten unter der Maske der
Ungeschicklichkeit verfolgt. Aus meinen Psychoanalysen Neurotischer
weiß ich, daß die sogenannte Naivität junger Leute und Kinder
häufig nur solch eine Maske ist, um das Unanständige unbeirrt
durch Genieren aussprechen oder tun zu können.
Ganz ähnliche Beobachtungen hat W. Stekel von seiner
eigenen Person mitgeteilt: „Ich trete in ein Haus ein und reiche
der Dame des Hauses meine Rechte. Merkwürdigerweise löse
ich dabei die Schleife, die ihr loses Morgenkleid zusammenhält.
Ich bin mir keiner unehrbaren Absicht bewußt, und doch habe
ich diese ungeschickte Bewegung mit der Geschicklichkeit eines
Eskamoteurs vollbracht."
Ich habe schon wiederholt Proben dafür geben können, daß
die Dichter Fehlleistungen ebenso als sinnvoll und motiviert
auffassen, wie wir es hier vertreten. Es wird uns darum nicht
13*
S.
196
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
verwundern, an einem neuen Beispiel zu ersehen, wie ein Dichter
auch eine ungeschickte Bewegung bedeutungsvoll macht und zum
Vorzeichen späterer Begebenheiten werden läßt.
In Theodor Fontanes Roman: "L'Adultera" heißt es (Bd. II,
S. 64. der Gesammelten Werke, Verlag S. Fischer):
Melanie sprang auf und warf ihrem Gatten, wie zur Begrüßung,
einen der großen Bälle zu. Aber sie hatte nicht richtig gezielt,
der Ball ging seitwärts und Rubehn fing ihn auf." Bei der
Heimkehr von dem Ausfluge, der diese kleine Episode gebracht
hat, findet ein Gespräch zwischen Melanie und Rubehn statt, das
die erste Andeutung einer keimenden Neigung verrät. Diese
Neigung wächst zur Leidenschaft, so daß Melanie schließlich
ihren Gatten verläßt, um dem geliebten Manne ganz anzugehören.
(Mitgeteilt von H. Sachs.)
"... und
g) Die Effekte, die durch das Fehlgreifen normaler Menschen
zustandekommen, sind in der Regel von harmlosester Art. Gerade
darum wird sich ein besonderes Interesse an die Frage knüpfen,
ob Fehlgriffe von erheblicher Tragweite, die von bedeutsamen
Folgen begleitet sein können, wie zum Beispiel die des Arztes
oder Apothekers, nach irgendeiner Richtung unter unsere Gesichts-
punkte fallen.
Da ich sehr selten in die Lage komme, ärztliche Eingriffe
vorzunehmen, habe ich nur über ein Beispiel von ärztlichem
Vergreifen aus eigener Erfahrung zu berichten. Bei einer sehr
alten Dame, die ich seit Jahren
ich seit Jahren zweimal täglich besuche,
beschränkt sich meine ärztliche Tätigkeit beim Morgenbesuch
auf zwei Akte: ich träufle ihr ein paar Tropfen Augenwasser ins
Auge und gebe ihr eine Morphiuminjektion. Zwei Fläschchen,
ein blaues für das Kollyrium und ein weißes für die Morphin-
lösung, sind regelmäßig vorbereitet. Während der beiden Ver-
richtungen beschäftigen sich meine Gedanken wohl meist mit
etwas anderem; das hat sich eben schon so oft wiederholt, daß
die Aufmerksamkeit sich wie frei benimmt. Eines Morgens
S.
VIII. Das Vergreifen
197
bemerkte ich, daß der Automat falsch gearbeitet hatte, das
Tropfröhrchen hatte ins weiße anstatt ins blaue Fläschchen
eingetaucht und nicht Kollyrium, sondern Morphin ins Auge
geträufelt. Ich erschrak heftig und beruhigte mich dann durch die
Überlegung, daß einige Tropfen einer zweiprozentigen Morphin-
lösung auch im Bindehautsack kein Unheil anzurichten vermögen.
Die Schreckempfindung war offenbar anderswoher abzuleiten.
Bei dem Versuche, den kleinen Fehlgriff zu analysieren, fiel
mir zunächst die Phrase ein: „sich an der Alten vergreifen",
die den kurzen Weg zur Lösung weisen konnte. Ich stand unter
dem Eindruck eines Traumes, den mir am Abend vorher ein
junger Mann erzählt hatte, dessen Inhalt sich nur auf den
sexuellen Verkehr mit der eigenen Mutter deuten ließ. Die
Sonderbarkeit, daß die Sage keinen Anstoß an dem Alter der
Königin Jokaste nimmt, schien mir gut zu dem Ergebnis zu
stimmen, daß es sich bei der Verliebtheit in die eigene Mutter
niemals um deren gegenwärtige Person handelt, sondern um ihr
jugendliches Erinnerungsbild aus den Kinderjahren. Solche In-
kongruenzen stellen sich immer heraus, wo eine zwischen zwei
Zeiten schwankende Phantasie bewußt gemacht und dadurch an
eine bestimmte Zeit gebunden wird. In Gedanken solcher Art
versunken, kam ich zu meiner über neunzigjährigen Patientin,
und ich muß wohl auf dem Wege gewesen sein, den allgemein
menschlichen Charakter der Ödipusfabel als das Korrelat des
Verhängnisses, das sich in den Orakeln äußert, zu erfassen, denn
ich vergriff mich dann „bei oder an der Alten". Indes dies
Vergreifen war wiederum harmlos; ich hatte von den beiden
möglichen Irrtümern, die Morphinlösung fürs Auge zu verwenden
oder das Augenwasser zur Injektion zu nehmen, den bei weitem
harmloseren gewählt. Es bleibt immer noch die Frage, ob man.
1) Des Ödipustraumes, wie ich ihn zu nennen pflege, weil er den
Schlüssel zum Verständnis der Sage von König Ödipus enthält. Im Text des
Sophokles ist die Beziehung auf einen solchen Traum der Jokaste in den Mund
gelegt. (Vgl. „Traumdeutung“, S. 182, VII. Aufl., S. 183.)
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
198
bei Fehlgriffen, die schweren Schaden stiften können, in ähnlicher
Weise wie bei den hier behandelten eine unbewußte Absicht in
Erwägung ziehen darf.
Hier läßt mich denn, wie zu erwarten steht, das Material im
Stiche, und ich bleibe auf Vermutungen und Schlüsse angewiesen.
Es ist bekannt, daß bei den schwereren Fällen von Psychoneurose
Selbstbeschädigungen gelegentlich als Krankheitssymptome auf-
treten, und daß der Ausgang des psychischen Konflikts in Selbst-
mord bei ihnen niemals auszuschließen ist. Ich habe nun erfahren
und kann es durch gut aufgeklärte Beispiele belegen, daß viele scheinbar
zufällige Schädigungen, die solche Kranke treffen, eigentlich Selbst-
beschädigungen sind, indem eine beständig lauernde Tendenz zur
Selbstbestrafung, die sich sonst als Selbstvorwurf äußert, oder ihren
Beitrag zur Symptombildung stellt, eine zufällig gebotene äußere
Situation geschickt ausnützt, oder ihr etwa noch bis zur Erreichung des
gewünschten schädigenden Effekts nachhilft. Solche Vorkommnisse
sind auch bei mittelschweren Fällen keineswegs selten, und sie
verraten den Anteil der unbewußten Absicht durch eine Reihe
von besonderen Zügen, zum Beispiel durch die auffällige Fassung,
welche die Kranken bei dem angeblichen Unglücksfalle bewahren'.
Aus meiner ärztlichen Erfahrung will ich anstatt vieler nur
ein einziges Beispiel ausführlich berichten: Eine junge Frau bricht
sich bei einem Wagenunfall die Knochen des einen Unterschenkels,
so daß sie für Wochen bettlägerig wird, fällt dabei durch den
Mangel an Schmerzensäußerungen und die Ruhe auf, mit der
sie ihr Ungemach erträgt. Dieser Unfall leitet eine lange und
schwere neurotische Erkrankung ein, von der sie endlich durch
Psychoanalyse hergestellt wird. In der Behandlung erfahre ich
1) Die Selbstbeschädigung, die nicht auf volle Selbstvernichtung hinzielt, hat in
unserem gegenwärtigen Kulturzustand überhaupt keine andere Wahl, als sich hinter
der Zufälligkeit zu verbergen, oder sich durch Simulation einer spontanen Erkrankung
durchzusetzen. Früher einmal war sie ein gebräuchliches Zeichen der Trauer; zu
anderen Zeiten konnte sie Tendenzen der Frömmigkeit und Weltentsagung Ausdruck
geben.
S.
VIII. Das Vergreifen
199
die Nebenumstände des Unfalls sowie gewisse Ereignisse, die ihm
vorausgegangen waren. Die junge Frau befand sich mit ihrem
sehr eifersüchtigen Manne auf dem Gute einer verheirateten
Schwester in Gesellschaft ihrer zahlreichen übrigen Geschwister
und deren Männer und Frauen. Eines Abends gab sie in diesem
intimen Kreise eine Vorstellung in einer ihrer Künste, sie tanzte
kunstgerecht Cancan unter großem Beifall der Verwandten, aber
zur geringen Befriedigung ihres Mannes, der ihr nachher
zuzischelte: Du hast dich wieder benommen wie eine Dirne. Das
Wort traf; wir wollen es dahingestellt sein lassen, ob gerade
wegen der Tanzproduktion. Sie schlief die Nacht unruhig, am
nächsten Vormittag begehrte sie eine Ausfahrt zu machen. Aber
sie wählte die Pferde selbst, refüsierte das eine Paar und verlangte
ein anderes. Die jüngste Schwester wollte ihren Säugling mit
seiner Amme im Wagen mitfahren lassen; dem widersetzte sie
sich energisch. Auf der Fahrt zeigte sie sich nervös, mahnte den
Kutscher, daß die Pferde scheu würden, und als die unruhigen
Tiere wirklich einen Augenblick Schwierigkeiten machten, sprang
sie im Schrecken aus dem Wagen und brach sich den Fuß,
während die im Wagen Verbliebenen heil davonkamen. Kann
nach der Aufdeckung dieser Einzelheiten kaum mehr
bezweifeln, daß dieser Unfall eigentlich eine Veranstaltung war,
so wollen wir doch nicht versäumen, die Geschicklichkeit zu
bewundern, welche den Zufall nötigte, die Strafe so passend für
die Schuld auszuteilen. Denn nun war ihr das Cancantanzen für
längere Zeit unmöglich gemacht.
Von eigenen Selbstbeschädigungen weiß ich in ruhigen Zeiten
wenig zu berichten, aber ich finde mich solcher unter außer-
ordentlichen Bedingungen nicht unfähig. Wenn eines der Mitglieder
meiner Familie sich beklagt, jetzt habe es sich auf die Zunge
gebissen, die Finger gequetscht usw., so erfolgt anstatt der
erhofften Teilnahme von meiner Seite die Frage: Wozu hast du
das getan? Aber ich habe mir selbst aufs schmerzhafteste den
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
200
Daumen eingeklemmt, nachdem ein jugendlicher Patient in der
Behandlungsstunde die (natürlich nicht ernsthaft zu nehmende)
Absicht bekannt hatte, meine älteste Tochter zu heiraten, während
ich wußte, daß sie sich gerade im Sanatorium in äußerster
Lebensgefahr befand.
Einer meiner Knaben, dessen lebhaftes Temperament der
Krankenpflege Schwierigkeiten zu bereiten pflegte, hatte eines
Morgens einen Zornanfall gehabt, weil ihm zugemutet
hatte, den Vormittag im Bette zuzubringen, und gedroht sich
umzubringen, wie es ihm aus der Zeitung bekannt geworden
war. Abends zeigte er mir eine Beule, die er sich durch
Anstoßen an die Türklinke an der Seite des Brustkorbes zugezogen
hatte. Auf meine ironische Frage, wozu er das getan und was
er damit gewollt habe, antwortete das elfjährige Kind wie
erleuchtet: Das war mein Selbstmordversuch, mit dem ich in der
Früh gedroht habe. Ich glaube übrigens nicht, daß meine
Anschauungen über die Selbstbeschädigung meinen Kindern damals
zugänglich waren.
Wer an das Vorkommen von halb absichtlicher Selbstbeschädigung
wenn der ungeschickte Ausdruck gestattet ist - glaubt, der
wird dadurch vorbereitet, anzunehmen, daß es außer dem bewußt
absichtlichen Selbstmord auch halb absichtliche Selbstvernichtung
mit unbewußter Absicht gibt, die eine Lebensbedrohung
geschickt auszunützen und sie als zufällige Verunglückung zu
maskieren weiß. Eine solche braucht keineswegs selten zu sein.
Denn die Tendenz zur Selbstvernichtung ist bei sehr viel mehr
Menschen in einer gewissen Stärke vorhanden, als bei denen sie
sich durchsetzt; die Selbstbeschädigungen sind in der Regel ein
Kompromiẞ zwischen diesem Trieb und den ihm noch entgegen-
wirkenden Kräften, und auch wo es wirklich zum Selbstmord
kommt, da ist die Neigung dazu eine lange Zeit vorher in
geringerer Stärke oder als unbewußte und unterdrückte Tendenz
vorhanden gewesen.
S.
VIII. Das Vergreifen
201
Auch die bewußte Selbstmordabsicht wählt ihre Zeit, Mittel
und Gelegenheit; es ist ganz im Einklang damit, wenn die
unbewußte einen Anlaß abwartet, der einen Teil der Verursachung
auf sich nehmen und sie durch Inanspruchnahme der Abwehr-
kräfte der Person von ihrer Bedrückung frei machen kann'.
sind keineswegs müßige Erwägungen, die ich da vorbringe; mir
ist mehr als ein Fall von anscheinend zufälligem Verunglücken
(zu Pferde oder aus dem Wagen) bekannt geworden, dessen
nähere Umstände den Verdacht auf unbewußt zugelassenen Selbst-
mord rechtfertigen. Da stürzt z. B. während eines Offizierswett-
rennens ein Offizier vom Pferde und verletzt sich so schwer, daß
er mehrere Tage nachher erliegt. Sein Benehmen, nachdem er zu
sich gekommen, ist in manchen Stücken auffällig. Noch bemerkens-
werter ist sein Benehmen vorher gewesen. Er ist tief verstimmt
durch den Tod seiner geliebten Mutter, wird von Weinkrämpfen
in der Gesellschaft seiner Kameraden befallen, er äußert Lebens-
überdruß gegen seine vertrauten Freunde, will den Dienst
quittieren, um an einem Kriege in Afrika Anteil zu nehmen,
der ihn sonst nicht berührt; früher ein schneidiger Reiter, weicht
er jetzt dem Reiten aus, wo es nur möglich ist. Vor dem Wett-
Es
1) Der Fall ist dann schließlich kein anderer als der des sexuellen Attentats auf
eine Frau, bei dem der Angriff des Mannes nicht durch die volle Muskelkraft des
Weibes abgewehrt werden kann, weil ihm ein Teil der unbewußten Regungen der
Angegriffenen fördernd entgegenkommt. Man sagt ja wohl, eine solche Situation
lähme die Kräfte der Frau; man braucht dann nur noch die Gründe für diese
Lähmung hinzuzufügen. Insofern ist der geistreiche Richterspruch des Sancho
Pansa, den er als Gouverneur auf seiner Insel fällt, psychologisch ungerecht (Don
Quijote, II. Teil, Kap. XLV). Eine Frau zerrt einen Mann vor den Richter, der sie
angeblich gewaltsam ihrer Ehre beraubt hat. Sancho entschädigt sie durch die volle
Geldbörse, die er dem Angeklagten abnimmt, und gibt diesem nach dem Abgange
der Frau die Erlaubnis, ihr nachzueilen und ihr die Börse wieder zu entreißen. Sie
kommen beide ringend wieder, und die Frau rühmt sich, daß der Bösewicht nicht
imstande gewesen sei, sich der Börse zu bemächtigen. Darauf Sancho: „Hättest du
deine Ehre halb so ernsthaft verteidigt wie diese Börse, so hätte sie dir der Mann
nicht rauben können."
2) Daß die Situation des Schlachtfeldes eine solche ist, wie sie der bewußten
Selbstmordabsicht entgegenkommt, die doch den direkten Weg scheut, ist einleuchtend.
Vgl. im „Wallenstein" die Worte des schwedischen Hauptmannes über den Tod des
Max Piccolomini: „Man sagt, er wollte sterben."
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
202
rennen endlich, dem er sich nicht entziehen kann, äußert er eine
trübe Ahnung; wir werden uns bei unserer Auffassung nicht
mehr verwundern, daß diese Ahnung recht behielt. Man wird
mir entgegenhalten, es sei ja ohne weiteres verständlich, daß ein
Mensch in solch nervöser Depression das Tier nicht zu meistern
versteht wie in gesunden Tagen. Ich bin ganz einverstanden; nur
möchte ich den Mechanismus dieser motorischen Hemmung durch
die Nervosität" in der hier betonten Selbstvernichtungsabsicht
suchen.
S. Ferenczi in Budapest hat mir die Analyse eines Falles
von angeblich zufälliger Schußverletzung, den er für einen
unbewußten Selbstmordversuch erklärt, zur Veröffentlichung über-
lassen. Ich kann mich mit seiner Auffassung nur einverstanden
erklären:
,,J. Ad., 22jähriger Tischlergeselle, suchte mich am 18. Jänner
1908 auf. Er wollte von mir erfahren, ob die Kugel, die ihm
am 20. März 1907 in die linke Schläfe eindrang, operativ entfernt
werden könne oder müsse. Von zeitweise auftretenden, nicht allzu
heftigen Kopfschmerzen abgesehen, fühlt er sich ganz gesund,
auch die objektive Untersuchung ergibt außer der charakteristischen,
pulvergeschwärzten Schußnarbe an der linken Schläfe gar nichts,
so daß ich die Operation widerrate. Über die Umstände des Falles
befragt, erklärt er, sich zufällig verletzt zu haben. Er spielte mit
dem Revolver des Bruders, glaubte, daß er nicht geladen.
ist, drückte ihn mit der linken Hand an die linke Schläfe (er
ist nicht Linkshänder), legte den Finger an den Hahn, und der
Schuß ging los. Drei Patronen waren in der sechs
läufigen Schußwaffe. Ich frage ihn: wie er auf die Idee
kam, den Revolver zu sich zu nehmen. Er erwidert, daß es zur
Zeit seiner Assentierung war; den Abend zuvor nahm
Waffe ins Wirtshaus mit, weil er Schlägereien befürchtete. Bei
der Musterung wurde er wegen Krampfadern für untauglich
erklärt, worüber er sich sehr schämte. Er ging nach Hause,
S.
VIII. Das Vergreifen
203
spielte mit dem Revolver, hatte aber nicht die Absicht, sich
wehe zu tun; da kam es zum Unfall. Auf die weitere Frage,
wie er sonst mit seinem Schicksal zufrieden gewesen sei, antwortete
er mit einem Seufzer und erzählte seine Liebesgeschichte mit
einem Mädchen, das ihn auch liebte und ihn trotzdem verließ; sie
wanderte rein aus Geldgier nach Amerika aus. Er wollte ihr
nach, doch die Eltern hinderten ihn daran. Seine Geliebte reiste
am 20. Jänner 1907, also zwei Monate vor dem Unglücksfalle,
ab. Trotz all dieser Verdachtsmomente beharrte der Patient dabei,
daß der Schuß ein,Unfall' war. Ich aber bin fest überzeugt, daß
die Nachlässigkeit, sich von der Ladung der Waffe vor dem
Spielen nicht überzeugt zu haben, wie auch die Selbstbeschädigung
psychisch bestimmt war. Er war noch ganz unter dem depri-
mierenden Eindruck der unglücklichen Liebschaft und wollte
offenbar beim Militär,vergessen. Als ihm auch diese Hoffnung
genommen wurde, kam es zum Spiele mit der Schußwaffe, das
heißt zum unbewußten Selbstmordversuch. Daß er den Revolver
nicht in der rechten, sondern in der linken Hand hielt, spricht
entschieden dafür, daß er wirklich nur spielte, d. h. bewußt
keinen Selbstmord begehen wollte."
Eine andere, mir vom Beobachter überlassene Analyse einer
anscheinend zufälligen Selbstbeschädigung bringt das Sprichwort:
Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein" in Erinnerung.
Frau X., aus gutem bürgerlichen Milieu, ist verheiratet und
hat drei Kinder. Sie ist zwar nervös, brauchte aber nie eine
energische Behandlung, da sie dem Leben doch genügend gewachsen
ist. Eines Tages zog sie sich in folgender Weise eine momentan
ziemlich imponierende, aber vorübergehende Entstellung ihres
Gesichtes zu. In einer Straße, welche zurecht gemacht wurde,
stolperte sie über einen Steinhaufen und kam mit dem Gesichte
in Berührung mit einer Hausmauer. Das ganze Gesicht war
geschrammt, die Augenlider wurden blau und ödematös, und da
sie Angst bekam, es möchte mit ihren Augen etwas passieren,
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
204
Nachdem sie deswegen beruhigt war,
ließ sie den Arzt rufen.
fragte ich: Aber warum sind Sie eigentlich so gefallen?" Sie
erwiderte, daß sie gerade zuvor ihren Mann, der seit einigen
Monaten eine Gelenksaffektion hatte, wodurch er schlecht zu
Fuß war, gewarnt hatte, in dieser Straße gut aufzupassen, und
sie hatte ja schon öfters die Erfahrung gemacht, daß in derartigen
Fällen merkwürdigerweise ihr selber dasjenige passierte, wovor
sie eine andere Person gewarnt hatte.
Ich war mit dieser Determinierung ihres Unfalles nicht zufrieden
und fragte, ob sie nicht vielleicht etwas mehr zu erzählen wüßte.
Ja, gerade vor dem Unfall hatte sie in einem Laden von der
entgegengesetzten Seite der Straße ein hübsches Bild gesehen,
das sie sich ganz plötzlich als Schmuck für die Kinderstube
wünschte und darum sofort kaufen wollte: da ging sie geradeaus
auf den Laden zu, ohne auf die Straße zu achten, stolperte über
den Steinhaufen und fiel mit ihrem Gesichte gegen die Haus-
mauer, ohne auch nur den leisesten Versuch zu machen, sich
mit den Händen zu schützen. Der Vorsatz, das Bild zu kaufen,
war gleich vergessen, und sie ging eiligst nach Hause. ,Aber
warum haben Sie nicht besser zugeschaut?" fragte ich. ,Ja,'
antwortete sie,,es war vielleicht doch eine Strafe! Wegen der
Geschichte, welche ich Ihnen schon im Vertrauen erzählt habe."
,Hat diese Geschichte Sie dann noch immer so gequält?"
,Ja nachher habe ich es sehr bedauert, mich selbst boshaft,
verbrecherisch und unmoralisch gefunden, aber ich war damals
fast verrückt vor Nervosität."
Es hatte sich um einen Abortus gehandelt, welchen sie mit
Einverständnis ihres Mannes, da sie beide wegen ihrer pekuniären
Verhältnisse von mehr Kindersegen verschont bleiben wollten, von
einer Kurpfuscherin hatte einleiten und von einem Spezialarzt
zu Ende bringen lassen.
,Öfters mache ich mir den Vorwurf: aber du hast doch dein
Kind töten lassen, und ich hatte Angst, daß so etwas doch nicht
S.
VIII. Das Vergreifen
205
ohne Strafe bleiben könnte. Jetzt, da Sie mir versichert haben,
daß mit den Augen nichts Schlimmes vorliegt, bin ich ganz
beruhigt: ich bin nun sowieso schon genügend gestraft.
Dieser Unfall war also eine Selbstbestrafung einerseits, um für
ihre Untat zu büßen, andererseits aber, um einer vielleicht viel
größeren unbekannten Strafe, vor welcher sie monatelang fort-
während Angst hatte, zu entgehen. In dem Augenblick, als sie
auf den Laden losstürzte, um sich das Bild zu kaufen, war die
Erinnerung an die ganze Geschichte mit all ihren Befürchtungen,
welche sich schon während der Warnung ihres Mannes in ihrem
Unbewußten ziemlich stark regte, überwältigend geworden und
hätte vielleicht in einem etwa derartigen Wortlaut Ausdruck
finden können: Aber wofür brauchst du einen Schmuck für die
Kinderstube, du hast dein Kind umbringen lassen! Du bist eine
Mörderin! Die große Strafe naht ganz gewiß!
Dieser Gedanke wurde nicht bewußt, aber statt dessen benützte
sie in diesem, ich möchte sagen, psychologischen Moment die
Situation, um den Steinhaufen, der ihr dafür geeignet schien, in
unauffälliger Weise für die Selbstbestrafung zu verwenden; des-
wegen streckte sie beim Fallen auch nicht einmal die Hände
aus und darum kam es auch nicht zu einem heftigen Erschrecken.
Die zweite, wahrscheinlich geringere Determinierung ihres Unfalles
ist wohl die Selbstbestrafung wegen des unbewußten
Beseitigungswunsches gegen ihren, allerdings in dieser Affäre mit-
schuldigen Mann. Dieser Wunsch hatte sich durch die vollkommen
überflüssige Warnung verraten, in der Straße mit dem Steinhaufen
ja gut aufzupassen, da der Mann, eben weil er schlecht zu Fuß
war, sehr vorsichtig ging"."
1) Van Emden, Selbstbestrafung wegen Abortus. (Zentralbl. f. Psychoanalyse,
II/12.) Ein Korrespondent schreibt zum Thema der „Selbstbestrafung durch Fehl-
leistungen: Wenn man darauf achtet, wie sich die Leute auf der Straße benehmen,
hat man Gelegenheit zu konstatieren, wie oft den Männern, die wie schon üblich
den vorübergehenden Frauen nachschauen, ein kleiner Unfall passiert. Bald ver-
staucht einer auf ebener Erde den Fuß, bald rennt er eine Laterne an oder
verletzt sich auf andere Art.
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
206
Wenn man die näheren Umstände des Falles erwägt, wird
man auch geneigt sein, J. Stärcke (l. c) recht zu geben, wenn
er eine anscheinend zufällige Selbstbeschädigung durch Verbrennung
als Opferhandlung" auffaßt:
"
,,Eine Dame, deren Schwiegersohn nach Deutschland abreisen
mußte, um dort in Militärdienst zu gehen, verbrühte sich den
Fuß unter folgenden Umständen. Ihre Tochter erwartete bald die
Niederkunft, und die Gedanken an die Kriegsgefahren stimmten
selbstverständlich die ganze Familie nicht sehr munter. Am Tage
vor der Abreise hatte sie ihren Schwiegersohn und ihre Tochter
zum Essen eingeladen. Sie bereitete selber in der Küche das
Essen, nachdem sie zuerst, sonderbar genug, ihre hohen Schnür-
stiefel mit Plattfußsohlen, auf denen sie bequem gehen kann und
die sie auch zu Hause gewöhnlich trägt, mit einem Paar zu
großer, oben offener Pantoffeln ihres Mannes vertauscht hatte.
Als sie eine große Pfanne kochender Suppe vom Feuer nahm,
ließ sie diese fallen und verbrühte sich dadurch ziemlich ernst
einen Fuß, zumal den Fußrücken, der vom offenen Pantoffel
nicht geschützt wurde. Selbstverständlich wurde dieser Unfall
von jedermann auf Rechnung ihrer begreiflichen,Nervosität'
geschrieben. Die ersten Tage nach diesem Brandopfer war sie mit
heißen Gegenständen sehr vorsichtig, wodurch sie aber nicht
gehindert wurde, sich wenige Tage später den einen Puls mit
heißer Brühe zu verbrühen'.
1) In einer sehr großen Anzahl solcher Fälle von Unfallsbeschädigung oder Tötung
bleibt die Auffassung zweifelhaft. Der Fernerstehende wird keinen Anlaß finden, im
Unfall etwas anderes als einen Zufall zu sehen, während eine dem Verunglückten
nahestehende und mit intimen Einzelheiten bekannte Person Gründe hat, die unbe-
wußte Absicht hinter dem Zufall zu vermuten. Welcher Art diese Kenntnis sein soll
und auf was für Nebenumstände es dabei ankommt, davon gibt der nachstehende
Bericht eines jungen Mannes, dessen Braut auf der Straße überfahren worden, ein
gutes Beispiel:
Im September vorigen Jahres lernte ich ein Fräulein Z. kennen, Alter 34 Jahre.
Sie lebte in wohlhabenden Verhältnissen, war vor dem Kriege verlobt gewesen, der
Bräutigam jedoch als aktiver Offizier 1916 gefallen. Wir lernten einander kennen
und lieben, zunächst ohne den Gedanken einer Heirat, da die Umstände, namentlich
der Altersunterschied ich selbst war 27 Jahre es beiderseitig nicht zuzulassen
S.
VIII. Das Vergreifen
207
Wenn so ein Wüten gegen die eigene Integrität und das
eigene Leben hinter anscheinend zufälliger Ungeschicklichkeit und
motorischer Unzulänglichkeit verborgen sein kann, so braucht
man keinen großen Schritt mehr zu tun, um die Übertragung
der nämlichen Auffassung auf Fehlgriffe möglich zu finden, welche
Leben und Gesundheit anderer ernstlich in Gefahr bringen. Was
ich an Belegen für die Triftigkeit dieser Auffassung vorbringen
kann, ist der Erfahrung an Neurotikern entnommen, deckt sich
also nicht völlig mit dem Erfordernis. Ich werde über einen Fall
berichten, in dem mich nicht eigentlich ein Fehlgriff, sondern,
eher eine Symptom- oder Zufallshandlung nennen
kann, auf die Spur brachte, welche dann die Lösung des Konflikts
bei dem Patienten ermöglichte. Ich übernahm es einmal, die Ehe
eines sehr intelligenten Mannes zu bessern, dessen Miẞhelligkeiten
mit seiner ihn zärtlich liebenden jungen Frau sich gewiß auf
reale Begründungen berufen konnten, aber, wie er selbst zugab,
durch diese nicht voll erklärt wurden. Er beschäftigte sich unab-
schienen. Da wir in der gleichen Straße uns gegenüber wohnten und wir täglich
zusammen waren, nahm der Verkehr im Laufe der Zeit intime Formen an. Damit
rückte der Gedanke einer ehelichen Verbindung näher, und ich stimmte ihm
schließlich selbst zu. Zu Ostern d. J. war die Verlobung geplant; Fräulein Z. beab-
sichtigte jedoch vorher eine Reise zu ihren Verwandten in M. zu unternehmen, die
durch einen infolge des Kapp-Putsches hervorgerufenen Eisenbahnerstreik plötzlich
verhindert wurde. Die trüben Aussichten, die sich für die weitere Zukunft durch den
Sieg der Arbeiterschaft und dessen Folgen zu eröffnen schienen, machten sich kurze
Zeit auch in unserer Stimmung, besonders aber bei Fräulein Z., die auch sonst recht
wechselnden Stimmungen unterworfen war, geltend, da sie neue Hindernisse für
unsere Zukunft zu sehen glaubte. Am Samstag, dem 20. März, jedoch befand sie sich
in ausnehmend froher Gemütsverfassung, ein Umstand, der mich geradezu über-
raschte und mitriß, so daß wir alles in den rosigsten Farben zu sehen glaubten. Wir
hatten einige Tage vorher davon gesprochen, gelegentlich gemeinsam zur Kirche zu
gehen, ohne jedoch eine bestimmte Zeit festzusetzen. Am folgenden Morgen, Sonntag
den 21. März, um 9 Uhr 15 Minuten, rief sie mich telephonisch an, ich möchte sie
gleich zum Kirchgang abholen, was ich ihr indes abschlug, da ich nicht rechtzeitig
hätte fertig werden können und überdies Arbeiten erledigen wollte. Fräulein Z. war
merklich enttäuscht, machte sich dann allein auf den Weg, traf auf der Treppe ihres
Hauses einen Bekannten, mit dem zusammen sie den kurzen Weg durch die Tauen-
zienstraße bis zur Rankestraße ging, in bester Stimmung, ohne daß sie irgend etwas
über unser Gespräch äußerte. Der Herr verabschiedete sich mit einem Scherzwort
Fräulein Z. hatte nur den an dieser Stelle verbreiterten und klar übersehbaren
Damm zu überschreiten da wurde sie dicht am Bürgersteig von einer Pferde-
was
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
208
lässig mit dem Gedanken der Scheidung, den er dann wieder
verwarf, weil er seine beiden kleinen Kinder zärtlich liebte.
Trotzdem kam er immer wieder auf den Vorsatz zurück und
versuchte dabei kein Mittel, um sich die Situation erträglich zu
gestalten. Solches Nichtfertigwerden mit einem Konflikt gilt mir
als Beweis dafür, daß sich unbewußte und verdrängte Motive zur
Verstärkung der miteinander streitenden bewußten bereit gefunden
haben, und ich unternehme es in solchen Fällen, den Konflikt
durch psychische Analyse zu beenden. Der Mann erzählte mir
eines Tages von einem kleinen Vorfall, der ihn aufs äußerste
erschreckt hatte. Er hetzte" mit seinem älteren Kinde, dem
weitaus geliebteren, hob es hoch und ließ es nieder und einmal
an solcher Stelle und so hoch, daß das Kind mit dem Scheitel
fast an den schwer herabhängenden Gasluster angestoßen wäre.
Fast, aber doch eigentlich nicht oder gerade eben noch! Dem
Kinde war nichts geschehen, aber es wurde vor Schreck schwindlig.
Der Vater blieb entsetzt mit dem Kinde im Arme stehen, die
droschke überfahren (Leberquetschung, die einige Stunden später den Tod herbei-
führte). Die Stelle haben wir früher Hunderte von Malen begangen; Fräulein Z.
war überaus vorsichtig, hat mich selbst sehr oft vor Unvorsichtigkeiten zurück-
gehalten, an diesem Morgen fuhren fast überhaupt keine Fuhrwerke, die Straßen-
bahnen, Omnibusse usw. streikten gerade um diese Zeit herrschte fast absolute
Ruhe, die Droschke mußte sie, wenn nicht sehen, unbedingt hören! Alle Welt
glaubt an einen Zufall' mein erster Gedanke war: Das ist unmöglich
einer Absicht kann allerdings auch keine Rede sein. Ich versuchte eine psychologische
Erklärung. Nach längerer Zeit glaubte ich sie in Ihrer Psychopathologie des Alltags-
lebens gefunden zu haben. Zumal Fräulein Z. bisweilen eine gewisse Neigung zum
Selbstmord äußerte, ja, auch mich dazu zu veranlassen suchte, Gedanken, die ich
ihr oft genug ausgeredet habe; z. B. begann sie noch zwei Tage vorher nach der
Rückkehr von einem Spaziergang äußerlich ganz unmotiviert von ihrem Tode und
Erbschaftsregulierungen zu sprechen; letztere hat sie übrigens nicht vorgenommen!
Ein Zeichen, daß diese Äußerungen bestimmt auf keine Absicht zurückzuführen sind.
Wenn ich mein unmaßgebliches Urteil darüber aussprechen darf, so wäre es das,
daß ich in diesem Unglück nicht einen Zufall, auch keine Wirkung einer Bewußt-
seinstrübung, sondern eine in unbewußter Absicht ausgeführte absichtliche Selbst-
vernichtung sehe, die als zufällige Verunglückung maskiert war. Bestärkt werde ich
in dieser Auffassung durch Äußerungen von Fräulein Z. gegenüber ihren Verwandten,
sowohl früher, als sie mich noch nicht kannte, als auch später, wie auch mir gegen-
über bis in die letzten Tage hinein alles aufzufassen als eine Wirkung des Ver-
lustes ihres früheren Bräutigams, den nichts in ihren Augen zu ersetzen imstande
war."
"
von
S.
VIII. Das Vergreifen
209
Mutter bekam einen hysterischen Anfall. Die besondere Geschick-
lichkeit dieser unvorsichtigen Bewegung, die Heftigkeit der Reaktion
bei den Eltern legten es mir nahe, in dieser Zufälligkeit eine
Symptomhandlung zu suchen, welche eine böse Absicht gegen
das geliebte Kind zum Ausdruck bringen sollte. Den Widerspruch
gegen die aktuelle Zärtlichkeit dieses Vaters zu seinem Kinde
konnte ich aufheben, wenn ich den Impuls zur Schädigung in
die Zeit zurückverlegte, da dieses Kind das einzige und so klein
gewesen war, daß sich der Vater noch nicht zärtlich für dasselbe
zu interessieren brauchte. Dann hatte ich es leicht anzunehmen,
daß der von seiner Frau wenig befriedigte Mann damals den
Gedanken gehabt oder den Vorsatz gefaßt: Wenn dieses kleine
Wesen, an dem mir gar nichts liegt, stirbt, dann bin ich frei
und kann mich von der Frau scheiden lassen. Ein Wunsch nach
dem Tode dieses jetzt so geliebten Wesens mußte also unbewußt
weiterbestehen. Von hier ab war der Weg zur unbewußten
Fixierung dieses Wunsches leicht zu finden. Eine mächtige Deter-
minierung ergab sich wirklich aus der Kindheitserinnerung des
Patienten, daß der Tod eines kleines Bruders, den die Mutter
der Nachlässigkeit des Vaters zur Last legte, zu heftigen Aus-
einandersetzungen zwischen den Eltern mit Scheidungsandrohung
geführt hatte. Der weitere Verlauf der Ehe meines Patienten
bestätigte meine Kombination auch durch den therapeutischen
Erfolg.
J. Stärcke (l. c.) hat ein Beispiel dafür gegeben, daß Dichter
kein Bedenken tragen, ein Vergreifen an die Stelle einer absicht-
lichen Handlung zu setzen und es somit zur Quelle der schwersten
Konsequenzen zu machen:
„In einer der Skizzen von Heyermans' kommt ein Beispiel
von Vergreifen oder, genauer gesagt, Fehlgreifen vor, das vom
Autor als dramatisches Motiv angewandt wird.
1) Hermann Heyermans, Schetsen van Samuel Falkland, 18. Bundel, Amster-
dam, H. J. W. Becht, 1914.
Freud, IV
14
S.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
210
Es ist die Skizze,Tom und Teddie'. Von einem Taucher-
paar das in einem Spezialitätentheater auftritt, längere Zeit
unterm Wasser bleibt und dort Kunststücke ausführt in einem
eisernen Bassin mit gläsernen Wänden hält die Frau es seit
kurzem mit einem anderen Mann, einem Dresseur. Der Mann-
Taucher hat sie gerade vor der Vorstellung
der Vorstellung zusammen im
Ankleidezimmer ertappt. Stille Szene, drohende Blicke
der Taucher sagt: „Nachher!" Die Vorstellung fängt an.
Der Taucher wird das schwierigste Kunststück machen,
bleibt zwei und eine halbe Minute in einer hermetisch
geschlossenen Kiste unterm Wasser'.
Sie hatten dieses
Kunststück schon öfters gemacht, die Kiste wurde geschlossen,
und,Teddie zeigt dem Publikum, das auf seinen Uhren die Zeit
kontrollierte, den Schlüssel'. Sie ließ auch absichtlich den
Schlüssel ein paarmal ins Bassin fallen und tauchte dann eilig
danach, um nicht zu spät zu sein, wenn der Koffer geöffnet
werden mußte.
und
Blicke
er
An diesem Abend des 31. Jänner wurde Tom wie gewöhnlich
von den kleinen Fingern des munter-frischen Weibchens einge-
sperrt. Er lächelte hinter dem Guckloch
sie spielte mit dem
Schlüssel und wartete auf sein warnendes Zeichen. Zwischen den
Kulissen stand der Dresseur mit seinem tadellosen Frack, seiner
weißen Krawatte, seiner Reitpeitsche. Um ihre Aufmerksamkeit
auf sich zu ziehen, pfiff er ganz kurz, der Dritte. Sie schaute
hin, lachte und mit der ungeschickten Gebärde von jemand, dessen
Aufmerksamkeit abgelenkt wird, warf sie den Schlüssel so wild
in die Höhe, daß er genau zwei Minuten zwanzig Sekunden,
gut gezählt, neben das Bassin, zwischen dem das Fußgestell
verdeckenden Flaggentuch fiel. Keiner hatte es gesehen. Keiner
konnte es sehen. Vom Saal aus gesehen, war die optische
Täuschung so, daß jedermann den Schlüssel ins Wasser gleiten
sah und keiner der Theaterhelfer merkte es, weil das Flaggen-
tuch den Laut milderte.
S.
VIII. Das Vergreifen
211
Lachend, ohne zu zaudern, kletterte Teddie über den Rand des
Bassins. Lachend er hielt es wohl aus kam sie die Leiter
herunter. Lachend verschwand sie unter dem Fußgestell, um
dort zu suchen, und als sie den Schlüssel nicht sofort fand,
bückte sie sich mit einer Mimik zum Stehlen, mit einem Aus-
druck auf ihrem Gesichte, als ob sie sagte: ,0 jemine, wie das
doch lästig ist an der Vorderseite des Flaggentuches.
Unterdessen machte Tom seine drolligen Grimassen hinter
dem Guckloch, wie wenn auch er unruhig würde. Man sah das
Weiß seines falschen Gebisses, das Kauen seiner Lippen unter
dem Flachsschnurrbart, die komischen Atemblasen, die man auch
beim Apfelessen gesehen hatte. Man sah das Grabsen und
Wühlen seiner bleichen Knöchelfinger und man lachte, so wie
man diesen Abend schon öfter gelacht hatte.
Zwei Minuten und achtundfünfzig Sekunden...
Drei Minuten sieben Sekunden... zwölf Sekunden...
Bravo! Bravo! Bravo!...
Da entstand eine Bestürzung im Saale und ein Scharren mit
den Füßen, weil auch die Knechte und der Dresseur zu suchen
anfingen und der Vorhang fiel, bevor der Deckel aufgehoben war.
Sechs englische Tänzerinnen traten auf dann der Mann
mit den Ponys, Hunden und Affen. Und so weiter.
Erst am nächsten Morgen vernahm das Publikum, daß ein
Unglück geschehen war, daß Teddie als Witwe auf der Welt
zurückblieb..."
Aus dem Zitierten geht hervor, wie vorzüglich dieser Künstler
selber das Wesen der Symptomhandlung verstanden haben muß,
so treffend die tiefere Ursache der tödlichen Unge-
schicklichkeit vorzuführen."
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