• S.

    IRRTÜMER
     

    Die Irrtümer des Gedächtnisses sind vom Vergessen mit Fehl-
    erinnern nur durch den einen Zug unterschieden, daß der Irrtum
    (das Fehlerinnern) nicht als solcher erkannt wird, sondern Glauben
    findet. Der Gebrauch des Ausdrucks „Irrtum" scheint aber noch
    an einer anderen Bedingung zu hängen. Wir sprechen von,,Irren"
    anstatt von falsch Erinnern", wo in dem. zu reproduzierenden
    psychischen Material der Charakter der objektiven Realität hervor-
    gehoben werden soll, wo also etwas anderes erinnert werden soll
    als eine Tatsache unseres eigenen psychischen Lebens, vielmehr
    etwas, was der Bestätigung oder Widerlegung durch die Erinnerung
    anderer zugänglich ist. Den Gegensatz zum Gedächtnisirrtum in
    diesem Sinne bildet die Unwissenheit.
     

    In meinem Buche „Die Traumdeutung" (1900)' habe ich mich
    einer Reihe von Verfälschungen an geschichtlichem und überhaupt
    tatsächlichem Material schuldig gemacht, auf die ich nach dem Er-
    scheinen des Buches mit Verwunderung aufmerksam geworden bin.
    Ich habe bei näherer Prüfung derselben gefunden, daß sie nicht
    meiner Unwissenheit entsprungen sind, sondern sich auf Irrtümer des
    Gedächtnisses zurückleiten, welche sich durch Analyse aufklären
    lassen.
     

    1) Auf S. 266 (der ersten Auflage) bezeichne ich als den Geburts-
    ort Schillers die Stadt Marburg, deren Name in der Steier-
    1) 7. Auflage, 1922.
     

  • S.

    X. Irrtümer
     

    243
     

    mark wiederkehrt. Der Irrtum findet sich in der Analyse eines
    Traumes während einer Nachtreise, aus dem ich durch den vom
    Kondukteur ausgerufenen Stationsnamen Marburg geweckt
    wurde. Im Trauminhalt wird nach einem Buche von Schiller
    gefragt. Nun ist Schiller nicht in der Universitätsstadt Marburg,
    sondern in dem schwäbischen Marbach geboren. Ich behaupte
    auch, daß ich dies immer gewußt habe.
     

    2) Auf S. 135 wird Hannibals Vater Hasdrubal genannt.
    Dieser Irrtum war mir besonders ärgerlich, hat mich aber in der
    Auffassung solcher Irrtümer am meisten bestärkt. In der Geschichte
    der Barkiden dürften wenige der Leser des Buches besser Bescheid
    wissen als der Verfasser, der diesen Fehler niederschrieb und ihn
    bei drei Korrekturen übersah. Der Vater Hannibals hieß Hamilkar
    Barkas
    Hasdrubal war der Name von Hannibals
    Bruder, übrigens auch der seines Schwagers und Vorgängers im
    Kommando.
     

    3) Auf S. 177 und S. 370 behaupte ich, daß Zeus seinen
    Vater Kronos entmannt und ihn vom Throne stürzt. Diesen Greuel
    habe ich aber irrtümlich um eine Generation vorgeschoben; die
    griechische Mythologie läßt ihn von Kronos an seinem Vater
    Uranos verüben."
     

    Wie ist es nun zu erklären, daß mein Gedächtnis in diesen
    Punkten Ungetreues lieferte, während es mir sonst, wie sich
    Leser des Buches überzeugen können, das entlegenste und unge-
    bräuchlichste Material zur Verfügung stellte? Und ferner, daß
    ich bei drei sorgfältig durchgeführten Korrekturen wie mit
    Blindheit geschlagen an diesen Irrtümern vorbeiging?
     

    Goethe hat von Lichtenberg gesagt: Wo er einen Spaß
    macht, liegt ein Problem verborgen. Ähnlich kann man über die
    hier angeführten Stellen meines Buches behaupten: Wo ein Irrtum
     

    1) Kein voller Irrtum! Die orphische Version des Mythus ließ die Entmannung
    an Kronos von seinem Sohne Zeus wiederholt werden. (Roscher, Lexikon der
    Mythologie.)
     

    16"
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    244
     

    vorliegt, da steckt eine Verdrängung dahinter. Richtiger gesagt:
    eine Unaufrichtigkeit, eine Entstellung, die schließlich auf Ver-
    drängtem fußt. Ich bin bei der Analyse der dort mitgeteilten
    Träume durch die bloße Natur der Themata, auf welche sich
    die Traumgedanken beziehen, genötigt gewesen, einerseits die
    Analyse irgendwo vor ihrer Abrundung abzubrechen, anderseits
    einer indiskreten Einzelheit durch leise Entstellung die Schärfe zu
    benehmen. Ich konnte nicht anders und hatte auch keine andere
    Wahl, wenn ich überhaupt Beispiele und Belege vorbringen
    wollte; meine Zwangslage leitete sich mit Notwendigkeit aus
    der Eigenschaft der Träume ab, Verdrängtem, d. h. Bewußtseins-
    unfähigem Ausdruck zu geben. Es dürfte trotzdem genug übrig
    geblieben sein, woran empfindlichere Seelen Anstoß genommen
    haben. Die Entstellung oder Verschweigung der mir selbst noch
    bekannten fortsetzenden Gedanken hat sich nun nicht spurlos
    durchführen lassen. Was ich unterdrücken wollte, hat sich oftmals
    wider meinen Willen den Zugang in das von mir Aufgenommene
    erkämpft und ist darin als von mir unbemerkter Irrtum zum
    Vorschein gekommen. In allen drei hervorgehobenen Beispielen
    liegt übrigens das nämliche Thema zugrunde; die Irrtümer sind
    Abkömmlinge verdrängter Gedanken, die sich mit meinem ver-
    storbenen Vater beschäftigen.
     

    ad 1) Wer den auf S. 266 analysierten Traum durchliest, wird
    teils unverhüllt erfahren, teils aus Andeutungen erraten können,
    daß ich bei Gedanken abgebrochen habe, die eine unfreundliche
    Kritik am Vater enthalten hätten. In der Fortsetzung dieses
    Zuges von Gedanken und Erinnerungen liegt nun eine ärgerliche
    Geschichte, in welcher Bücher eine Rolle spielen, und ein
    Geschäftsfreund des Vaters, der den Namen Marburg führt,
    denselben Namen, durch dessen Ausruf in der gleichnamigen Süd-
    bahnstation ich aus dem Schlafe geweckt wurde. Diesen Herrn
    Marburg wollte ich bei der Analyse mir und den Lesern unter-
    schlagen; er rächte sich dadurch, daß er sich dort einmengte, wo
     

  • S.

    X. Irrtümer
     

    245
     

    er nicht hingehört, und den Namen des Geburtsortes Schillers
    aus Marbach in Marburg veränderte.
     

    ad 2) Der Irrtum Hasdrubal anstatt Hamilkar, der Name
    des Bruders an Stelle des Namens des Vaters, ereignete sich
    gerade in einem Zusammenhange, der von den Hannibalphantasien
    meiner Gymnasiastenjahre und von meiner Unzufriedenheit mit
    dem Benehmen des Vaters gegen die „Feinde unseres Volkes"
    handelt. Ich hätte fortsetzen und erzählen können, wie mein
    Verhältnis zum Vater durch einen Besuch in England verändert
    wurde, der mich die Bekanntschaft meines dort lebenden Halb-
    bruders aus früherer Ehe des Vaters machen ließ. Mein Bruder
    hat einen ältesten Sohn, der mir gleichaltrig ist; die Phantasien,
    wie anders es geworden wäre, wenn ich nicht als Sohn des
    Vaters, sondern des Bruders zur Welt gekommen wäre, fanden
    also kein Hindernis an den Altersrelationen. Diese unterdrückten
    Phantasien fälschten nun an der Stelle, wo ich in der Analyse
    abbrach, den Text meines Buches, indem sie mich nötigten, den
    Namen des Bruders für den des Vaters zu setzen.
     

    ad 3) Dem Einfluß der Erinnerung an diesen selben Bruder
    schreibe ich es zu, daß ich die mythologischen Greuel der
    griechischen Götterwelt um eine Generation vorgeschoben habe.
    Von den Mahnungen des Bruders ist mir lange Zeit eine im
    Gedächtnis geblieben: „Vergiß nicht in Bezug auf Lebensführung
    eines," hatte er mir gesagt, daß du nicht der zweiten, sondern
    eigentlich der dritten Generation vom Vater aus angehörst."
    Unser Vater hatte sich in späteren Jahren wieder verheiratet und
    war so um vieles älter als seine Kinder zweiter Ehe. Ich begehe
    den besprochenen Irrtum im Buche gerade dort, wo ich von der
    Pietät zwischen Eltern und Kindern handle.
     

    Es ist auch einigemal vorgekommen, daß Freunde und Patienten,
    deren Träume ich berichtete, oder auf die ich in den Traum-
    analysen anspielte, mich aufmerksam machten, die Umstände der
    gemeinsam erlebten Begebenheiten seien von mir ungenau erzählt
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    246
     

    worden. Das wären nun wiederum historische Irrtümer. Ich habe
    die einzelnen Fälle nach der Richtigstellung nachgeprüft und mich
    gleichfalls überzeugt, daß meine Erinnerung des Sachlichen nur
    dort ungetreu war, wo ich in der Analyse etwas mit Absicht
    entstellt oder verhehlt hatte. Auch hier wieder ein unbe-
    merkter Irrtum als Ersatz für eine absichtliche
    Verschweigung oder Verdrängung.
     

    Von diesen Irrtümern, die der Verdrängung entspringen, heben
    sich scharf andere ab, die auf wirklicher Unwissenheit beruhen.
    So war es z. B. Unwissenheit, wenn ich auf einem Ausflug in
    die Wachau den Aufenthalt des Revolutionärs Fischhof
    berührt zu haben glaubte. Die beiden Orte haben nur den Namen
    gemein; das Emmersdorf Fischhofs liegt in Kärnten. Ich
    wußte es aber nicht anders.
     

    4) Noch ein beschämender und lehrreicher Irrtum, ein Beispiel
    von temporärer Ignoranz, wenn man so sagen darf. Ein Patient
    mahnte mich eines Tages, ihm die zwei versprochenen Bücher
    über Venedig mitzugeben, aus denen er sich für seine Osterreise
    vorbereiten wollte. Ich habe sie bereit gelegt, erwiderte ich, und
    ging in das Bibliothekszimmer, um sie zu holen. In Wahrheit
    hatte ich aber vergessen, sie herauszusuchen, denn ich war mit
    der Reise meines Patienten, in der ich eine unnötige Störung
    der Behandlung und eine materielle Schädigung des Arztes erblickte,
    nicht recht einverstanden. Ich halte also in der Bibliothek rasche
    Umschau nach den beiden Büchern, die ich ins Auge gefaßt hatte.
    "Venedig als Kunststätte" ist das eine; außerdem aber muß ich
    noch ein historisches Werk in einer ähnlichen Sammlung besitzen.
    Richtig, da ist es: „Die Mediceer", ich nehme es und bringe es
    dem Wartenden, um dann beschämt den Irrtum einzugestehen.
    Ich weiß doch wirklich, daß die Medici nichts mit Venedig zu
    tun haben, aber es erschien mir für eine kurze Weile gar nicht
    unrichtig. Nun muß ich Gerechtigkeit üben; da ich dem Patienten
    so häufig seine eigenen Symptomhandlungen vorgehalten habe,
     

  • S.

    X. Irrtümer
     

    247
     

    kann ich meine Autorität vor ihm nur retten, wenn ich ehrlich
    werde und ihm die geheim gehaltenen Motive meiner Abneigung
    gegen seine Reise kundgebe.
     

    Man darf ganz allgemein erstaunt sein, daß der Wahrheitsdrang
    der Menschen soviel stärker ist, als man ihn für gewöhnlich
    einschätzt. Vielleicht ist es übrigens eine Folge meiner Beschäftigung
    mit der Psychoanalyse, daß ich kaum mehr lügen kann. So oft
    ich eine Entstellung versuche, unterliege ich einer Irrung oder
    anderen Fehlleistung, durch die sich meine Unaufrichtigkeit wie
    in diesem und den vorstehenden Beispielen verrät.
     

    Der Mechanismus des Irrtums scheint der lockerste unter allen.
    Fehlleistungen, das heißt das Vorkommen des Irrtums zeigt ganz
    allgemein an, daß die betreffende seelische Tätigkeit mit irgend
    einem störenden Einfluß zu kämpfen hatte, ohne daß die Art des
    Irrtums durch die Qualität der im Dunkeln gebliebenen störenden
    Idee determiniert wäre. Wir tragen indes an dieser Stelle nach,
    daß bei vielen einfachen Fällen von Versprechen und Verschreiben
    derselbe Tatbestand anzunehmen ist. Jedesmal, wenn wir uns
    versprechen oder verschreiben, dürfen wir eine Störung durch
    seelische Vorgänge außerhalb der Intention erschließen, aber es
    ist zuzugeben, daß das Versprechen und Verschreiben oftmals den
    Gesetzen der Ähnlichkeit, der Bequemlichkeit oder der Neigung
    zur Beschleunigung folgt, ohne daß es dem Störenden gelungen
    wäre, ein Stück seines eigenen Charakters in dem beim
    Versprechen oder Verschreiben resultierenden Fehler durch-
    zusetzen. Das Entgegenkommen des sprachlichen Materials ermöglicht
    erst die Determinierung des Fehlers und setzt derselben auch die
    Grenze.
     

    Um nicht ausschließlich eigene Irrtümer anzuführen, will ich
    noch einige Beispiele mitteilen, die allerdings ebensowohl beim
    Versprechen und Vergreifen hätten eingereiht werden können,
    was aber bei der Gleichwertigkeit all dieser Weisen von Fehl-
    leistung bedeutungslos zu nennen ist.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    248
     

    5) Ich habe einem Patienten untersagt, die Geliebte, mit der
    er selbst brechen möchte, telephonisch anzurufen, da jedes Gespräch
    den Abgewöhnungskampf von neuem entfacht. Er soll ihr seine
    letzte Meinung schreiben, wiewohl es Schwierigkeiten hat, ihr
    Briefe zuzustellen. Er besucht mich nun um 1 Uhr, um mir zu
    sagen, daß er einen Weg gefunden hat, der diese Schwierigkeiten
    umgeht, fragt auch unter anderem, ob er sich auf meine ärztliche
    Autorität berufen darf. Um 2 Uhr ist er mit der Abfassung des
    Absagebriefes beschäftigt, unterbricht sich plötzlich, sagt der dabei
    anwesenden Mutter: Jetzt habe ich vergessen, den Professor zu
    fragen, ob ich in dem Briefe seinen Namen nennen darf, eilt zum
    Telephon, läßt sich verbinden und ruft die Frage ins Rohr: Bitte,
    ist der Herr Professor schon nach dem Speisen zu sprechen? Als
    Antwort tönt ihm ein erstauntes ,,Adolf, bist du verrückt
    geworden?" entgegen, und zwar von der nämlichen Stimme, die
    er nach meinem Gebote nicht mehr hätte hören sollen. Er hatte
    sich bloẞ „geirrt" und anstatt der Nummer des Arztes die der
    Geliebten angegeben.
     

    6) Eine junge Dame soll einen Besuch bei einer kürzlich
    verheirateten Freundin in der Habsburger gasse machen. Sie
    spricht davon während des Familientisches, sagt aber irrtümlicher-
    weise, sie müsse in die Babenbergergasse gehen. Andere bei
    Tische Anwesende machen sie lachend auf den von ihr nicht.
    bemerkten Irrtum oder Versprechen, wenn man so lieber will
     

    aufmerksam. Zwei Tage vorher ist nämlich in Wien die
    Republik ausgerufen worden, das Schwarzgelb ist verschwunden
    und hat den Farben der alten Ostmark: rot-weiß-rot Platz
    gemacht, die Habsburger sind abgetan; die Sprecherin hat diese
    Ersetzung in die Adresse der Freundin eingetragen. Es gibt übrigens
    in Wien eine sehr bekannte Babenbergerstraße, aber kein Wiener
    würde von ihr als „Gasse" reden.
     

    7) In einer Sommerfrische hat der Schullehrer, ein ganz armer,
    aber stattlicher junger Mann, der Tochter eines Villenbesitzers
     

  • S.

    X. Irrtümer
     

    249
     

    aus der Großstadt so lange den Hof gemacht, bis das Mädchen
    sich leidenschaftlich in ihn verliebt und auch ihre Familie
    bewogen hat, die Heirat trotz der bestehenden Standes- und Rassen-
    unterschiede gutzuheißen. Da schreibt der Lehrer eines Tages
    seinem Bruder einen Brief, in dem es heißt: „Schön ist das Dirndl
    ja gar nicht, aber recht lieb und soweit wär's gut. Ob ich mich
    aber werd' entschließen können, eine Jüdin zu heiraten, das kann.
    ich dir noch nicht sagen". Dieser Brief gerät in die Hände der
    Braut und macht dem Verlöbnis ein Ende, während der Bruder
    sich gleichzeitig über die an ihn gerichteten Liebesbeteuerungen
    zu verwundern hat. Mein Gewährsmann versicherte mir, daß hier
    Irrtum und nicht eine schlaue Veranstaltung vorlag. Mir ist auch
    ein anderer Fall bekannt geworden, in dem eine Dame, die, mit
    ihrem alten Arzt unzufrieden, ihm doch nicht offen absagen
    wollte, diesen Zweck mittels einer Briefverwechslung erreichte, und
    wenigstens hier kann ich dafür einstehen, daß der Irrtum und nicht
    die bewußte List sich des bekannten Lustspielmotivs bedient hat.
    8) Brill erzählt von einer Dame, die sich bei ihm nach
    dem Befinden einer gemeinsamen Bekannten erkundigte, wobei
    sie dieselbe irrtümlich bei ihrem Mädchennamen nannte. Auf-
    merksam gemacht, mußte sie zugestehen, daß sie den Mann
    dieser Dame nicht möge und mit der Heirat derselben sehr
    unzufrieden gewesen sei.
     

    9) Ein Fall von Irrtum, der auch als „Versprechen" beschrieben
    werden kann: Ein junger Vater begibt sich zum Standesbeamten,
    um seine zweitgeborene Tochter anzumelden. Befragt, wie das
    Kind heißen soll, antwortete er: Hanna, muß sich aber von dem
    Beamten sagen lassen: Sie haben ja schon ein Kind dieses Namens.
    Wir werden den Schluß ziehen, daß diese zweite Tochter nicht
    so ganz willkommen war wie seinerzeit die erste.
     

    10) Ich füge hier einige andere Beobachtungen von Namen-
    verwechslungen an, die natürlich mit ebensoviel Recht in anderen
    Abschnitten dieses Buches untergebracht worden wären.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    250
     

    Eine Dame ist Mutter von drei Töchtern, von denen zwei
    längst verheiratet sind, während die jüngste noch ihr Schicksal
    erwartet. Eine befreundete Dame hat bei den beiden Hochzeiten
    das nämliche Geschenk gemacht, eine kostbare silberne Teegarnitur.
    So oft nun von diesem Gerät die Sprache ist, nennt die Mutter
    irrtümlicherweise die dritte Tochter als Besitzerin. Es ist offenbar,
    daß dieser Irrtum den Wunsch der Mutter ausspricht, auch die
    letzte Tochter verheiratet zu wissen. Sie setzt dabei voraus, daß
    sie dasselbe Hochzeitsgeschenk erhalten würde.
     

    Ebenso leicht deutbar sind die häufigen Fälle, in denen eine
    Mutter die Namen ihrer Töchter, Söhne oder Schwiegersöhne
     

    verwechselt.
     

    11) Ein hübsches Beispiel von hartnäckiger Namensvertauschung,
    das sich leicht erklärt, entnehme ich der Selbstbeobachtung eines
    Herrn J. G. während seines Aufenthaltes in einer Heilanstalt:
    An der Table d'hôte (des Sanatoriums) gebrauche ich im
    Laufe eines mich wenig interessierenden und in ganz konven-
    tionellem Ton geführten Gespräches mit meiner Tischnachbarin
    eine Phrase von besonderer Liebenswürdigkeit. Das etwas ältliche
    Mädchen konnte nicht umhin zu bemerken, daß es
    sonst nicht
    meine Art sei, ihr gegenüber so liebenswürdig und galant zu
    sein eine Entgegnung, die einerseits ein gewisses Bedauern
    und mehr noch eine deutliche Spitze gegen ein uns beiden
    bekanntes Fräulein enthielt, dem ich größere Aufmerksamkeit zu
    schenken pflegte. Ich verstehe natürlich augenblicklich. Im Laufe
    unseres weiteren Gespräches muß ich mich nun, was mir ungemein
    peinlich ist, von meiner Nachbarin wiederholt darauf aufmerksam
    machen lassen, daß ich sie mit dem Namen jenes Fräuleins
    angesprochen habe, das sie nicht mit Unrecht als ihre glücklichere
    Nebenbuhlerin ansah.".
     

    12) Als Irrtum" will ich auch eine Begebenheit mit ernst-
    haftem Hintergrund erzählen, die mir von einem nahe beteiligten
    Zeugen berichtet wurde. Eine Dame hat den Abend mit ihrem
     

  • S.

    X. Irrtümer
     

    251
     

    Manne und in Gesellschaft von zwei Fremden im Freien zugebracht.
    Einer dieser beiden Fremden ist ihr intimer Freund, wovon aber
    die anderen nichts wissen und nichts wissen dürfen. Die Freunde
    begleiten das Ehepaar bis vor die Haustür. Während man auf
    das Öffnen der Tür wartet, wird Abschied genommen. Die Dame
    verneigt sich gegen den Fremden, reicht ihm die Hand und
    spricht einige verbindliche Worte. Dann greift sie nach dem Arm
    ihres heimlich Geliebten, wendet sich zu ihrem Manne und will
    ihn in gleicher Weise verabschieden. Der Mann geht auf die
    Situation ein, zieht den Hut und sagt überhöflich: Küss' die Hand,
    gnädige Frau. Die erschrockene Frau läßt den Arm des Geliebten
    fahren und hat noch Zeit, ehe der Hausmeister erscheint, zu
    seufzen: Nein, so etwas soll einem passieren! Der Mann gehörte
    zu jenen Eheherren, die eine Untreue ihrer Frau außerhalb jeder
    Möglichkeit verlegen wollen. Er hatte wiederholt geschworen, in
    einem solchen Falle würde mehr als ein Leben in Gefahr sein.
    Er hatte also die stärksten inneren Abhaltungen, um die Heraus-
    forderung, die in dieser Irrung lag, zu bemerken.
     

    13) Eine Irrung eines meiner Patienten, die durch eine Wieder-
    holung zum Gegensinn besonders lehrreich wird: Der überbedenkliche
    junge Mann hat sich nach langwierigen inneren Kämpfen dazu
    gebracht, dem Mädchen, das ihn seit langem liebt wie er sie,
    die Zusage der Ehe zu geben. Er begleitet die ihm Verlobte
    nach Hause, verabschiedet sich von ihr, steigt überglücklich in
    einen Tramway wagen und verlangt von der Schaffnerin zwei
    Fahrkarten. Etwa ein halbes Jahr später ist er bereits verheiratet,
    kann sich aber noch nicht recht in sein Eheglück finden. Er
    zweifelt, ob er recht getan hat zu heiraten, vermißt frühere
    freundschaftliche Beziehungen, hat an den Schwiegereltern allerlei
    auszusetzen. Eines Abends holt er seine junge Frau vom Hause
    ihrer Eltern ab, steigt mit ihr in den Wagen der Straßenbahn
    und begnügt sich damit, der Schaffnerin eine einzige Karte
    abzuverlangen.
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    252
     

    14) Wie man einen ungern unterdrückten Wunsch vermittels
    eines,,Irrtums" befriedigen kann, davon erzählt Maeder ein hübsches
    Beispiel. Ein Kollege möchte einen dienstfreien Tag so recht ungestört
    genießen; er soll aber einen Besuch in Luzern machen, auf den
    er sich nicht freuen kann, und beschließt nach längerer Über-
    legung, doch hinzufahren. Um sich zu zerstreuen, liest er auf
    der Fahrt Zürich-Arth-Goldau die Tageszeitungen, wechselt in
    letzterer Station den Zug und setzt seine Lektüre fort. In der
    Fortsetzung der Fahrt entdeckt ihm dann der kontrollierende
    Schaffner, daß er in einen falschen Zug eingestiegen ist, nämlich
    in den, der von Goldau nach Zürich zurückfährt, während er ein
    Billett nach Luzern genommen hatte. (Nouvelles contributions etc.,
    Arch. de Psych., VI, 1908).
     

    15) Einen analogen, wenngleich nicht voll geglückten Versuch,
    einem unterdrückten Wunsch durch den nämlichen Mechanismus
    der Irrung zum Ausdruck zu verhelfen, berichtet Dr. V. Tausk
    unter der Überschrift „Falsche Fahrtrichtung":
     

    „Ich war aus dem Felde auf Urlaub nach Wien gekommen.
    Ein alter Patient hatter von meiner Anwesenheit Kenntnis
    bekommen und ließ mich bitten, daß ich ihn besuche, da er krank
    zu Bette lag. Ich leistete der Bitte Folge und verbrachte zwei
    Stunden bei ihm. Beim Abschied fragte der Kranke, was er schuldig
    sei.,Ich bin auf Urlaub hier und ordiniere jetzt nicht,' antwortete
    ich. Nehmen Sie meinen Besuch als einen Freundschaftsdienst."
    Der Kranke stutzte, da er wohl das Empfinden hatte, er habe
    kein Recht, eine berufliche Leistung als unentgeltlichen Freund-
    schaftsdienst in Anspruch zu nehmen. Aber er ließ sich meine
    Antwort schließlich gefallen, in der von der Lust an der Geld-
    ersparung diktierten respektvollen Meinung, daß ich als Psycho-
    analytiker sicher richtig handeln werde. Mir selbst stiegen schon
    wenige Augenblicke später Bedenken über die Aufrichtigkeit meiner
    Noblesse auf, und, von Zweifeln die kaum eine zweideutige
    Lösung zuließen erfüllt, bestieg ich die elektrische Straßenbahn-
     

  • S.

    X. Irrtümer
     

    253
     

    linie X. Nach einer kurzen Fahrt hatte ich auf die Linie Y um-
    zusteigen. Während ich an der Umsteigestelle wartete, vergaß ich
    die Honorarangelegenheit und beschäftigte mich mit den Krankheits-
    symptomen meines Patienten. Indem kam der von mir erwartete
    Wagen und ich stieg ein. Aber bei der nächsten Haltestelle mußte
    ich wieder aussteigen. Ich war nämlich statt in einem Y-Wagen
    versehentlich und ohne es zu merken in einen X-Wagen einge-
    stiegen und fuhr in der Richtung, aus der ich eben gekommen
    war, wieder zurück, in der Richtung zum Patienten, von dem
    ich kein Honorar annehmen wollte. Mein Unbewußtes aber
    wollte sich das Honorar holen." (Internat. Zeitschrift f.
    Psychoanalyse IV, 1916/17.)
     

    16) Ein sehr ähnliches Kunststück wie im Beispiel 14. ist mir
    selbst einmal gelungen. Ich hatte meinem gestrengen ältesten
    Bruder zugesagt, ihm in diesem Sommer den längst fälligen Besuch
    in einem englischen Seebad abzustatten, und dabei die Verpflichtung
    übernommen, da die Zeit drängte, auf dem kürzesten Wege ohne,
    Aufenthalt zu reisen. Ich bat um einen Tag Aufschub für Holland,
    aber er meinte, das könnte ich für die Rückreise aufsparen. Ich
    fuhr also von München über Köln nach Rotterdam-Hook of
    Holland, von wo das Schiff um Mitternacht nach Harwich über-
    setzt. In Köln hatte ich Wagenwechsel; ich verließ meinen Zug,
    um in den Eilzug nach Rotterdam umzusteigen, aber der war
    nicht zu entdecken. Ich fragte verschiedene Bahnbedienstete, wurde
    von einem Bahnsteig auf den anderen geschickt, geriet in eine
    übertriebene Verzweiflung und konnte mir bald berechnen, daß
    ich während dieses erfolglosen Suchens den Anschluß versäumt
    haben dürfte. Nachdem mir dieses bestätigt worden war, über-
    legte ich, ob ich in Köln übernachten sollte, wofür unter anderem
    auch die Pietät sprach, da nach einer alten Familientradition
    meine Ahnen einst bei einer Judenverfolgung aus dieser Stadt.
    geflüchtet waren. Ich entschloß mich aber anders, fuhr mit einem
    späteren Zug nach Rotterdam, wo ich in tiefer Nachtzeit ankam,
     

  • S.

    Zur Psychopathologie des Alltagslebens
     

    254
     

    und war nun genötigt, einen Tag in Holland zuzubringen. Dieser
    Tag brachte mir die Erfüllung eines längst gehegten Wunsches;
    ich konnte die herrlichen Rembrandtbilder im Haag und im
    Reichsmuseum zu Amsterdam sehen. Erst am nächsten Vormittag,
    als ich während der Eisenbahnfahrt in England meine Eindrücke
    sammeln konnte, tauchte mir die unzweifelhafte Erinnerung auf,
    daß ich auf dem Bahnhofe in Köln wenige Schritte von der Stelle,
    wo ich ausgestiegen war, auf dem nämlichen Bahnsteig eine große
    Tafel Rotterdam-Hook of Holland gesehen hatte. Dort wartete
    der Zug, in dem ich die Reise hätte fortsetzen sollen. Man müßte
    als unbegreifliche Verblendung" bezeichnen, daß ich trotz
    dieser guten Anleitung weggeeilt und den Zug anderswo gesucht
    hatte, wenn man nicht annehmen wollte, daß es eben mein
    Vorsatz war, gegen die Vorschrift meines Bruders die Rembrandt-
    bilder schon auf der Hinreise zu bewundern. Alles übrige, meine
    gut gespielte Ratlosigkeit, das Auftauchen der pietätvollen Absicht,
    in Köln zu übernachten, war nur Veranstaltung, um mir meinen
    Vorsatz zu verbergen, bis er sich vollkommen durchgesetzt hatte.
    17) Eine ebensolche, durch „Vergeßlichkeit" hergestellte Veran-
    staltung, um einen Wunsch zu erfüllen, auf den man angeblich
    verzichtet hat, berichtet J. Stärcke von seiner eigenen Person. (L. c.)
    ,,Ich mußte einmal in einem Dorfe einen Vortrag mit Licht-
    bildern halten. Dieser Vortrag war aber um eine Woche verschoben.
    Ich hatte den Brief hinsichtlich dieses Aufschubes beantwortet und
    das geänderte Datum in meinem Notizbuch notiert. Ich wäre gern
    schon nachmittags nach diesem Dorfe gegangen, damit ich die
    Zeit hätte, um einem mir bekannten Schriftsteller, der dort wohnt,
    einen Besuch abzustatten. Zu meinem Bedauern konnte ich aber
    zurzeit keinen Nachmittag dafür frei machen. Nur ungern gab ich
    diesen Besuch auf.
     

    es
     

    Als nun der Abend des Vortrages da war, machte ich mich,
    mit einer Tasche voll Laternenbilder, in größter Eile zum Bahn-
    hof auf. Ich mußte einen Taxi nehmen, um den Zug noch zu
     

  • S.

    X. Irrtümer
     

    255
     

    erreichen (es passiert mir öfters, daß ich so lange zögere, daß ich
    einen Taxi nehmen muß, um den Zug noch zu erreichen!). An
    Ort und Stelle gekommen, war ich einigermaßen erstaunt, daß
    keiner am Bahnhof war, um mich abzuholen (wie es bei Vorträgen
    in kleineren Orten Gewohnheit ist). Plötzlich fiel mir ein, daß
    der Vortrag um eine Woche verschoben war, und daß ich jetzt
    am ursprünglich festgestellten Datum eine vergebliche Reise
    gemacht hatte. Nachdem ich meine Vergeßlichkeit herzinnig
    verwünscht hatte, überlegte ich, ob ich mit dem nächstfolgenden
    Zug wieder nach Hause zurückkehren sollte. Bei näherer Über-
    legung dachte ich aber daran, daß ich jetzt eine schöne Gelegen-
    heit hatte, um den gewünschten Besuch zu machen, was ich denn
    auch tat. Erst unterwegs fiel mir ein, daß mein unerfüllter Wunsch,
    für diesen Besuch gehörig Zeit zu haben, das Komplott hübsch
    vorbereitet hatte. Das Schleppen mit der schweren Tasche voll
    Laternenbilder und das Eilen, um den Zug zu erreichen, konnten
    ausgezeichnet dazu dienen, die unbewußte Absicht desto besser zu
    verbergen."
     

    Man wird vielleicht nicht geneigt sein, die Klasse von Irrtümern,
    für die ich hier die Aufklärung gebe, für sehr zahlreich oder
    besonders bedeutungsvoll zu halten. Ich gebe aber zu bedenken,
    ob man nicht Grund hat, die gleichen Gesichtspunkte auch auf
    die Beurteilung der ungleich wichtigeren Urteilsirrtümer
    der Menschen im Leben und in der Wissenschaft auszudehnen.
    Nur den auserlesensten und ausgeglichensten Geistern scheint es
    möglich zu sein, das Bild der wahrgenommenen äußeren Realität.
    vor der Verzerrung zu bewahren, die es sonst beim Durchgang
    durch die psychische Individualität des Wahrnehmenden erfährt.