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    [256]

    XI

    KOMBINIERTE FEHLLEISTUNGEN

    Zwei der letzterwähnten Beispiele, mein Irrtum, der die
    Mediceer nach Venedig bringt, und der des jungen Mannes, der
    ein telephonisches Gespräch mit seiner Geliebten dem Verbote
    abzutrotzen weiß, haben eigentlich eine ungenaue Beschreibung
    gefunden und stellen sich bei sorgfältiger Betrachtung als
    Vereinigung eines Vergessens mit einem Irrtum dar. Dieselbe
    Vereinigung kann ich noch deutlicher an einigen anderen Beispielen
    aufzeigen.

    1) Ein Freund teilt mir folgendes Erlebnis mit: „Ich habe
    vor einigen Jahren die Wahl in den Ausschuß einer bestimmten
    literarischen Vereinigung angenommen, weil ich vermutete, die
    Gesellschaft könnte mir einmal behilflich sein, eine Aufführung
    meines Dramas durchzusetzen, und nahm regelmäßig, wenn auch
    ohne viel Interesse, an den jeden Freitag stattfindenden Sitzungen
    teil. Vor einigen Monaten erhielt ich nun die Zusicherung einer
    Aufführung am Theater in F., und seither passierte es mir regel-
    mäßig, daß ich die Sitzungen jenes Vereines vergaß. Als
    ich Ihre Schrift über diese Dinge las, schämte ich mich meines
    Vergessens, machte mir Vorwürfe, es sei doch eine Gemeinheit,
    daß ich jetzt ausbleibe, nachdem ich die Leute nicht mehr
    brauche, und beschloß, nächsten Freitag gewiß nicht zu vergessen.
    Ich erinnerte mich an diesen Vorsatz immer wieder, bis ich ihn
    ausführte und vor der Tür des Sitzungssaales stand. Zu

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    meinem Erstaunen war sie geschlossen, die Sitzung war schon
    vorüber; ich hatte mich nämlich im Tage geirrt; es war schon
    Samstag!“

    2) Das nächste Beispiel ist eine Kombination einer Symptom-
    handlung mit einem Verlegen; es ist auf entfernteren Umwegen,
    aber aus guter Quelle zu mir gelangt.

    Eine Dame reist mit ihrem Schwager, einem berühmten
    Künstler, nach Rom. Der Besucher wird von den in Rom lebenden
    Deutschen sehr gefeiert und erhält unter anderem eine goldene
    Medaille antiker Herkunft zum Geschenke. Die Dame kränkt
    sich darüber, daß ihr Schwager das schöne Stück nicht genug zu
    schätzen weiß. Nachdem sie, von ihrer Schwester abgelöst, wieder
    zu Hause angelangt ist, entdeckt sie beim Auspacken, daß sie die
    Medaille — sie weiß nicht wie — mitgenommen hat. Sie teilt
    es sofort dem Schwager brieflich mit und kündigt ihm an, daß
    sie das Entführte am nächsten Tage nach Rom zurückschicken
    wird. Am nächsten Tage aber ist die Medaille so geschickt verlegt,
    daß sie unauffindbar und unabsendbar ist, und dann dämmert der
    Dame, was ihre „Zerstreutheit“ bedeute, nämlich, daß sie das
    Stück für sich selbst behalten wolle.

    3) Einige Fälle, in denen sich die Fehlhandlung hartnäckig
    wiederholt und dabei auch ihre Mittel wechselt:

    Jones (l. c., S. 483): Aus ihm unbekannten Motiven hatte
    er einst einen Brief mehrere Tage auf seinem Schreibtisch liegen
    lassen, ohne ihn aufzugeben. Endlich entschloß er sich dazu, aber
    er erhielt ihn vom „Dead letter office“ zurück, denn er hatte
    vergessen, die Adresse zu schreiben. Nachdem er ihn adressiert
    hatte, brachte er ihn wieder zur Post, aber diesmal ohne Brief-
    marke. Die Abneigung dagegen, den Brief überhaupt abzusenden,
    konnte er dann nicht mehr übersehen.

    4.) Sehr eindrucksvoll schildert die vergeblichen Bemühungen,
    eine Handlung gegen einen inneren Widerstand durchzusetzen,
    eine kleine Mitteilung von Dr. Karl Weiß (Wien):

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    „Wie konsequent sich das Unbewußte durchzusetzen weiß,
    wenn es ein Motiv hat, einen Vorsatz nicht zur Ausführung
    gelangen zulassen, und wie schwer es ist, sich gegen diese
    Tendenz zu sichern, dafür bietet der folgende Vorfall einen Beleg.
    Ein Bekannter ersucht mich, ihm ein Buch zu leihen und es ihm
    am nächsten Tage mitzubringen. Ich sage sogleich zu, empfinde
    aber ein lebhaftes Unlustgefühl, das ich mir zunächst nicht
    erklären kann. Später wird es mir klar: der Betreffende schuldet
    mir seit Jahren eine Summe Geldes, an deren Bezahlung er
    anscheinend nicht denkt. Ich denke nicht weiter an die Sache,
    erinnere mich aber ihrer am nächsten Vormittag mit dem gleichen
    Unlustgefühl und sage mir sofort: ‚Dein Unbewußtes wird darauf
    hinarbeiten, daß du das Buch vergißt. Du willst aber nicht
    ungefällig sein und wirst deshalb alles tun, um nicht zu vergessen.‘
    Ich komme nach Hause, packe das Buch in Papier und lege es
    neben mich auf den Schreibtisch, an dem ich Briefe schreibe. Nach
    einiger Zeit gehe ich fort; nach wenigen Schritten erinnere ich mich,
    daß ich die Briefe, die ich zur Post mitnehmen wollte, auf dem
    Schreibtisch liegen gelassen habe. (Beiläufig bemerkt war einer
    darunter, in dem ich einer Person, die mich in einer bestimmten
    Angelegenheit fördern sollte, etwas Unangenehmes schreiben mußte.)
    Ich kehre um, hole die Briefe und gehe wieder weg. In der Elek-
    trischen fällt mir ein, daß ich meiner Frau versprochen habe, ihr
    einen Einkauf zu besorgen, und ich bin recht befriedigt bei dem
    Gedanken, daß es nur ein kleines Päckchen sein wird. Hier stellt
    sich plötzlich die Assoziation Päckchen—Buch her und jetzt merke
    ich, daß ich das Buch nicht bei mir habe. Ich hatte es also nicht
    nur das erstemal, als ich fortging, vergessen, sondern auch konse-
    quent übersehen, als ich die Briefe holte, neben denen es lag.“

    5) Das Nämliche in einer eingehend analysierten Beobachtung
    von Otto Rank:

    Ein peinlich ordentlicher und pedantisch genauer Mann
    berichtet das folgende, für ihn ganz außergewöhnliche Erlebnis.

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    Eines Nachmittags, als er auf der Straße nach der Zeit sehen
    will, bemerkt er, daß er seine Uhr zu Hause vergessen hat, was
    seiner Erinnerung nach noch nie vorgekommen war. Da er für
    den Abend eine pünktliche Verabredung hat und nicht mehr Zeit
    findet, vorher seine Uhr zu holen, benützte er den Besuch bei
    einer befreundeten Dame, um sich ihre Uhr für den Abend aus-
    zuleihen; dies war um so eher angängig, als er die Dame infolge
    einer früheren Verabredung am nächsten Vormittag zu besuchen
    hatte und bei dieser Gelegenheit die Uhr zurückzustellen ver-
    sprach. Zu seinem Erstaunen merkt er aber, als er tags darauf
    der Besitzerin die entlehnte Uhr überreichen will, daß er nun
    diese zu Hause vergaß; seine eigene Uhr hatte er diesmal zu sich
    gesteckt. Er nahm sich nun fest vor, die Damenuhr noch am
    Nachmittag zurückzustellen, und führte den Vorsatz auch aus.
    Als er aber beim Weggehen nach der Zeit sehen will, hat er zu
    seinem maßlosen Ärger und Erstaunen wieder die eigene Uhr
    vergessen. Diese Wiederholung der Fehlleistung kam dem sonst
    so ordnungsliebenden Manne derart pathologisch vor, daß er gern
    ihre psychologische Motivierung gekannt hätte, die sich auch
    prompt auf die psychoanalytische Fragestellung ergab, ob er an
    dem kritischen Tage des ersten Vergessens irgend etwas Unan-
    genehmes erlebt habe, und in welchem Zusammenhange dies
    geschehen sei. Er erzählt darauf sogleich, daß er nach dem
    Mittagessen, kurz bevor er wegging und die Uhr vergaß, ein
    Gespräch mit seiner Mutter gehabt hatte, die ihm erzählte, ein
    leichtsinniger Verwandter, der ihm schon viel Kummer und Geld-
    opfer verursacht hatte, hätte seine Uhr versetzt; da sie aber zu
    Hause gebraucht werde, ließe er ihn bitten, ihm das Geld zur
    Auslösung zu geben. Diese fast erzwungene Art des Geldleihens
    hatte unseren Mann sehr peinlich berührt und ihm all die
    Unannehmlichkeiten wieder in Erinnerung gebracht, die ihm
    dieser Verwandte seit vielen Jahren bereitet hatte. Seine Symptom-
    handlung erweist sich demnach als mehrfach determiniert: erstens

  • S.

    260

    gibt sie einem Gedankengange Ausdruck, der etwa besagt, ich
    lasse mir das Geld nicht auf diese Weise abpressen, und wenn
    eine Uhr gebraucht wird, so lasse ich eben meine eigene zu
    Hause; da er sie jedoch abends zur Einhaltung eines Rendezvous
    braucht, kann sich diese Absicht nur auf unbewußtem Wege, in
    Form einer Symptomhandlung, durchsetzen; zweitens besagt das
    Vergessen soviel als: die ewigen Geldopfer für diesen Taugenichts
    werden mich noch gänzlich zugrunde richten, so daß ich alles
    werde hergeben müssen. Obwohl nun der Ärger über diese Mit-
    teilung nach Angabe des Mannes nur ein momentaner gewesen
    war, zeigt doch die Wiederholung der gleichen Symptomhandlung,
    daß er im Unbewußten intensiv weiterwirkt, etwa wie wenn das
    Bewußtsein sagen würde: Diese Geschichte geht mir nicht aus dem
    Kopfe.1 Daß dann das gleiche Schicksal einmal auch die entlehnte
    Damenuhr betrifft, wird uns nach dieser Einstellung des Unbe-
    wußten nicht wundernehmen. Doch begünstigen vielleicht noch
    spezielle Motive diese Übertragung auf die ‚unschuldige‘ Damen-
    uhr. Das nächstliegende Motiv ist wohl, daß er sie vermutlich
    gern als Ersatz seiner eigenen, aufgeopferten Uhr behalten hätte
    und sie darum am nächsten Tage zurückzugeben vergißt; auch
    hätte er die Uhr vielleicht gern als Andenken an die Dame
    besessen. Ferner bietet ihm das Vergessen der Damenuhr
    Gelegenheit, die verehrte Dame ein zweites Mal zu besuchen; er
    hatte sie ja des Morgens einer anderen Sache wegen aufsuchen
    müssen und scheint mit dem Vergessen der Uhr gleichsam anzu-
    deuten, daß ihm dieser schon längere Zeit vorher bestimmte
    Besuch zu schade sei, um ihn noch nebenbei zur Rückgabe der
    Uhr zu benützen. Auch spricht das zweimalige Vergessen der
    eigenen und die dadurch ermöglichte Rückstellung der fremden
    Uhr dafür, daß unser Mann es unbewußterweise zu vermeiden

    1) Dieses Weiterwirken im Unbewußten äußert sich einmal in Form eines
    Traumes, welcher der Fehlhandlung folgt, ein andermal in der Wiederholung der-
    selben oder in der Unterlassung einer Korrektur.

  • S.

    261

    sucht, beide Uhren gleichzeitig zu tragen. Er trachtet offenbar,
    diesen Anschein des Überflusses zu vermeiden, der in zu auf-
    fälligem Gegensatz zu dem Mangel des Verwandten stünde;
    andererseits aber weiß er damit seiner anscheinlichen Heirats-
    absicht der Dame gegenüber mit der Selbstmahnung zu begegnen,
    daß er seiner Familie (Mutter) gegenüber unlösbare Verpflichtungen
    habe. Ein weiterer Grund für das Vergessen einer Damenuhr mag
    endlich darin zu suchen sein, daß er sich am Abend zuvor als
    Junggeselle vor seinen Bekannten geniert hatte, auf die Damenuhr
    zu sehen, was er nur verstohlen tat, und daß er, um die Wieder-
    holung dieser peinlichen Situation zu vermeiden, die Uhr nicht
    mehr zu sich stecken mochte. Da er sie aber andererseits zurück-
    zustellen hatte, so resultiert auch hier die unbewußt vollzogene
    Symptomhandlung, die sich als Kompromißbildung zwischen
    widerstreitenden Gefühlsregungen und als teuer erkaufter Sieg
    der unbewußten Instanz erweist.
    “ (Zentralblatt f. Psychoanalyse,
    II, 5.)

    Drei Beobachtungen von J. Stärcke (l. c.):

    6) Verlegen-Zerbrechen-Vergessen — als Aus-
    druck eines zurückgedrängten Gegenwillens: „Von
    einer Sammlung Illustrationen für eine wissenschaftliche Arbeit
    sollte ich eines Tages meinem Bruder einige leihen, welche er
    als Lichtbilder bei einem Vortrag benutzen wollte. Obgleich ich
    einen Augenblick den Gedanken verspürte, daß ich die Repro-
    duktionen, die ich mit vieler Mühe gesammelt hatte, lieber in
    keiner Weise vorgeführt oder publiziert sähe, bevor ich das selbst
    machen könnte, versprach ich ihm, die Negative der gewünschten
    Bilder aufzusuchen und Laternenbilder davon anzufertigen. —
    Diese Negative konnte ich aber nicht finden. Den ganzen Stapel
    Schachteln voll Negative, die sich auf diesen Gegenstand bezogen,
    sah ich durch, gut zweihundert Negative nahm ich eines nach
    dem anderen in die Hand, aber die Negative, die ich suchte,
    waren nicht dabei. Ich vermutete wohl, daß ich meinem Bruder

  • S.

    262

    diese Bilder eigentlich nicht zu gönnen schien. Nachdem ich mir
    diesen abgünstigen Gedanken bewußt gemacht und bestritten
    hatte, bemerkte ich, daß ich die oberste Schachtel des Stapels zur
    Seite gesetzt und diese nicht durchsucht hatte, und diese Schachtel
    enthielt die gesuchten Negative. Auf dem Deckel dieser Schachtel
    stand eine kurze Aufzeichnung betreffs des Inhalts, und wahr-
    scheinlich hatte ich das mit einem flüchtigen Blick gesehen, bevor
    ich diese Schachtel zur Seite setzte. Der abgünstige Gedanke
    schien indessen noch nicht ganz besiegt, denn es geschah noch
    allerlei, bevor die Lichtbilder verschickt waren. Eine von den
    Laternenplatten drückte ich kaputt, während ich diese in der
    Hand hatte und die Glasseite rein putzte (so zerbreche ich sonst
    nie eine Laternenplatte). Als ich von dieser Platte ein neues
    Exemplar angefertigt hatte, fiel es mir aus der Hand und nur
    dadurch, daß ich den Fuß vorstreckte und es darauf auffing,
    zerbrach es nicht. Als ich die Laternenplatten montierte, fiel der
    ganze Haufen noch einmal auf den Boden, glücklicherweise ohne
    daß dabei etwas zerbrach. Und schließlich dauerte es noch
    mehrere Tage, bevor ich sie wirklich emballierte und versandte,
    da ich mir dieses jeden Tag von neuem vornahm und dieses
    Vornehmen jedesmal wieder vergaß.“

    7) Wiederholtes Vergessen — Vergreifen bei der
    endlichen Ausführung
    : „Eines Tages mußte ich einem
    Bekannten eine Postkarte senden, verschob es aber während
    mehrerer Tage immer wieder, wobei ich ein starkes Vermuten
    hatte, daß folgendes die Ursache davon war: In einem Briefe
    hatte er mir mitgeteilt, daß im Laufe jener Woche mich jemand
    besuchen wollte, auf dessen Besuch ich nicht sehr erpicht war.
    Als diese Woche vorüber war und die Aussicht des ungewünschten
    Besuches sehr gering geworden war, schrieb ich endlich die
    Postkarte, worin ich mitteilte, wann ich zu sprechen sein würde.
    Als ich diese Postkarte schrieb, wollte ich anfangs hinzufügen,
    daß ich wegen druk werk (= emsige, angestrengte oder über-

  • S.

    263

    häufte Arbeit) am Schreiben behindert gewesen war, aber ich
    schrieb das am Ende nicht, weil diese gewöhnliche Ausrede doch
    von keinem vernünftigen Menschen mehr geglaubt wird. Ob diese
    kleine Unwahrheit sich doch äußern mußte, weiß ich nicht, aber
    als ich die Postkarte in den Briefkasten warf, warf ich sie irrtüm-
    licherweise in die untere Öffnung des Kastens: ‚Drukwerk
    (= Drucksachen).“

    8) Vergessen und Irrtum: „Ein Mädchen geht eines
    Morgens, da das Wetter sehr schön ist, nach dem ‚Ryksmuseum‘,
    um dort Gipsabgüsse zu zeichnen. Obgleich sie bei diesem schönen
    Wetter lieber spazieren gehen möchte, entschloß sie sich, doch
    mal emsig zu sein und zu zeichnen. Sie muß zuerst Zeichenpapier
    kaufen. Sie geht zum Laden (ungefähr zehn Minuten vom
    Museum), kauft Bleistifte und andere Zeichengeräte, aber vergißt
    eben das Zeichenpapier zu kaufen, geht dann zum Museum, und
    als sie auf ihrem Stühlchen sitzt, fertig, um anzufangen, da hat
    sie noch kein Papier, so daß sie von neuem zu dem Laden gehen
    muß. Nachdem sie Papier geholt hat, fängt sie wirklich an zu
    zeichnen, geht mit der Arbeit gut vorwärts und hört nach einiger
    Zeit vom Turme des Museums eine große Zahl Glockenschläge.
    Sie denkt: ‚Das wird schon zwölf Uhr sein‘, arbeitet noch fort,
    bis die Turmglocke Viertelstunde spielt. (‚das ist Viertel nach
    zwölf‘, denkt sie), packt jetzt ihre Zeichengeräte ein und entschließt
    sich, durch den ‚Vondelpark‘ zum Hause ihrer Schwester zu
    spazieren, um dort Kaffee zu trinken (= holl. zweite Mahlzeit).
    Beim Suasso-Museum sieht sie zu ihrem Staunen, daß es statt
    halb eins erst zwölf Uhr ist! — Das lockende schöne Wetter
    hatte ihren Fleiß hinters Licht geführt und dadurch hatte sie, als
    die Turmglocke um halb zwölf zwölf schlug, nicht daran gedacht,
    daß eine Turmglocke auch mit der halben Stunde schlägt.“

    9) Wie schon einige der vorstehenden Beobachtungen zeigen,
    kann die unbewußt störende Tendenz ihre Absicht auch erreichen,
    indem sie dieselbe Art der Fehlleistung hartnäckig wiederholt.

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    Ich entnehme ein amüsantes Beispiel hiefür einem Büchlein
    „Frank Wedekind und das Theater“, das im Münchener Drei
    Masken-Verlag erschienen ist, muß aber die Verantwortung für
    das in Mark Twainscher Manier erzählte Geschichtchen dem Autor
    des Buches überlassen.

    In Wedekinds Einakter ‚Die Zensur‘ fällt an der ernstesten
    Stelle des Stückes der Ausspruch: ‚Die Furcht vor dem
    Tode ist ein Denkfehler
    .‘ Der Autor, dem die Stelle am
    Herzen lag, bat auf der Probe den Darsteller, vor dem Worte
    ‚Denkfehler‘ eine kleine Pause zu machen. Am Abend — der
    Darsteller ging ganz in seiner Rolle auf, beobachtete auch die
    Pause genau, sagte aber unwillkürlich in feierlichstem Tone: ‚Die
    Furcht vor dem Tode ist ein Druckfehler.‘ Der Autor ver-
    sicherte dem Künstler nach Schluß der Vorstellung auf seine
    Frage, daß er nicht das geringste auszusetzen habe, nur heiße es
    an der betreffenden Stelle nicht: die Furcht vor dem Tode sei
    ein Druckfehler, sondern ein Denkfehler. — Als ‚Die Zensur‘ am
    folgenden Abend wiederholt wurde, sagte der Darsteller an der
    bewußten Stelle, und zwar wieder in feierlichstem Tone: ‚Die
    Furcht vor dem Tode ist ein — Denkzettel.‘ Wedekind
    spendete dem Schauspieler wieder uneingeschränktes Lob, aber
    bemerkte nur nebenbei, daß es nicht heiße, die Furcht vor dem
    Tode sei ein Denkzettel, sondern ein Denkfehler. — Am nächsten
    Abend wurde wieder ‚Die Zensur‘ gespielt und der Darsteller, mit
    dem sich der Autor inzwischen befreundet und Kunstanschauungen
    ausgetauscht hatte, sagte, als die Stelle kam, mit der feierlichsten
    Miene von der Welt: ‚Die Furcht vor dem Tode ist ein —
    Druckzettel.‘ — Der Künstler erhielt des Autors rückhaltlose
    Anerkennung, der Einakter wurde auch noch oft wiederholt, aber
    den Begriff ‚Denkfehler‘ hielt der Autor nun ein für allemal für
    endgültig erledigt.

    Rank hat auch den sehr interessanten Beziehungen von „Fehl-
    leistung und Traum“ (Zentralbl. f. Psychoanalyse II. S. 266 u. Internat.

  • S.

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    Zeitschr. f. Psychoanalyse III, S. 158) Aufmerksamkeit geschenkt,
    denen man aber nicht ohne eingehende Analyse des Traumes
    folgen kann, welcher sich an die Fehlhandlung anschließt. Ich
    träumte einmal in einem längeren Zusammenhange, daß ich
    mein Portemonnaie verloren. Am Morgen vermißte ich es wirklich
    heim Ankleiden; ich hatte vergessen, es beim Auskleiden vor der
    Traumnacht aus der Hosentasche zu nehmen und an seinen
    gewohnten Platz zu legen. Dieses Vergessen war mir also nicht
    unbekannt, es sollte wahrscheinlich einem unbewußten Gedanken
    Ausdruck geben, der für das Auftreten im Trauminhalt vor-
    bereitet war.1

    Ich will nicht behaupten, daß solche Fälle von kombinierten
    Fehlleistungen etwas Neues lehren können, was nicht schon aus
    den Einzelfällen zu ersehen wäre, aber dieser Formenwechsel der
    Fehlleistung bei Erhaltung desselben Erfolges gibt doch den
    plastischen Eindruck eines Willens, der nach einem bestimmten
    Ziele strebt, und widerspricht in ungleich energischerer Weise
    der Auffassung, daß die Fehlleistung etwas Zufälliges und der
    Deutung nicht Bedürftiges sei. Es darf uns auch auffallen, daß es
    in diesen Beispielen einem bewußten Vorsatz so gründlich mißlingt,
    den Erfolg der Fehlleistung hintanzuhalten. Mein Freund setzt
    es doch nicht durch, die Vereinssitzung zu besuchen, und die
    Dame findet sich außerstande, sich von der Medaille zu trennen.
    Jenes Unbekannte, das sich gegen diese Vorsätze sträubt, findet

    1) Daß eine Fehlleistung wie das Verlieren oder Verlegen durch einen Traum
    rückgängig gemacht wird, indem man im Traum erfährt, wo der vermißte Gegen-
    stand zu finden ist, kommt nicht so selten vor, hat aber auch nichts von der Natur
    des Okkulten, so lange Träumer und Verlustträger dieselbe Person sind. Eine junge
    Dame schreibt: „Vor ungefähr vier Monaten verlor ich — in der Bank — einen
    sehr schönen Ring. Ich durchsuchte jeden Winkel in meinem Zimmer, fand ihn aber
    nicht. Vor einer Woche träumte mir, er liege neben dem Kasten in der Heizung.
    Der Traum ließ mir natürlich keine Ruhe und nächsten Morgen fand ich ihn wirklich
    an der Stelle.“ Sie wundert sich über diesen Vorfall, behauptet, es geschehe ihr oft,
    daß ihre Gedanken und Wünsche so in Erfüllung gehen, unterläßt es aber sich zu
    fragen, welche Veränderung sich in ihrem Leben zwischen dem Verlieren und
    dem Wiederfinden des Ringes zugetragen hat.

  • S.

    266

    einen anderen Ausweg, nachdem ihm der erste Weg versperrt
    wird. Zur Überwindung des unbekannten Motivs ist nämlich noch
    etwas anderes als der bewußte Gegenvorsatz erforderlich; es
    brauchte eine psychische Arbeit, welche das Unbekannte dem
    Bewußtsein bekannt macht.