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Pápa, 18.VI.1915.A
Lieber Herr Professor,
Die Zeit seit den schönen Pfingsttagen verging ziemlich rasch. Ich arbeite jetzt an allerlei kleineren Sachen, die größere Arbeit will noch reifen. Es ergab sich die Notwendigkeit, vor der Fertigstellung der Koitustheorie die andere (phantastische) Fötal‑Situation: den Schlaf, besser zu studieren. Die zwei Sachen gehören eben zusammen. Ich lese jetzt ein fleißiges Buch über die Physiologie des Schlafs (von Piéron)1. Den Vortrag, den ich in München hielt (Glaube, Unglaube und Überzeugung), sowie eine Arbeit, die sich an die Gleichnisse der Patienten in der Analyse anknüpft2, schickte ich Rank. Ob sie Ihnen gefallen wird, weiß ich nicht bestimmt; gerne hätte ich sie Ihnen zur Durchsicht eingeschickt, aber ich weiß, wie ungerne Sie Manuskripte lesen.
Inzwischen war ich einmal in Budapest, ohneB in der bewußten Sache3 (über die ich mit Frau G. ganz offen sprach) zu einem Entschlusse gelangt zu sein. Sogar der Weltkrieg mit seinen Wirren vermag die Entscheidung nicht zu bringen (Goethe heiratete Christinen nach ihrer heldenhaften Aufführung im Franzosenkriege4).
Der gesellschaftliche Verkehr mit den Offizieren und ihren Familien wird meinerseits immer spärlicher; auch der hier neugewonnene Freund5 scheint zu abnorm und in gewissen Vorurteilen befangen zu sein, so daß die Zukunft dieser Neuerwerbung nicht so viel verspricht, als ich es mir bei seiner unleugbaren psychologischen Genialität versprechen konnte. Ich fürchte, seine überraschende Intuition ist zum Teil seiner Abnormität zu verdanken (in seiner Familie gab es Fälle von Paranoia).
Der Mangel jeglicher Ablenkung ist es, was mich fleißig macht. ‑ An die Wechselfälle des Kriegs haben wir uns nachgerade gewöhnt. Die Front ist jetzt etwas näher zu uns; die Bahnstation ist stets voll [von] von (und nach) Italien fahrenden Zügen. Die Friedensprophezeiungen sind verstummt.
Wie geht es Ihnen und den Ihrigen ─ besonders den Kriegern? Bitte grüßen Sie gelegentlich Martin und Ernst auch in meinem Namen. ‑ Was machen die Sommerpläne?
Herzlich grüßend
Ihr
Ferenczi
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A Ort und Datum in der Handschrift am Briefende.
B In der Handschrift: ohne daß ich.
5 Wahrscheinlich der in 588 Fer erstmals namentlich erwähnte Oberleutnant Barthodeiszky; vgl. auch 552 Fer.
1 Henri Piéron (1881-1964), Le problème physiologique du sommeil, Paris 1912/13.
2 Ferenczis Vortrag beim Psychoanalytischen Kongreß in München (7.-8. September 1913): `Zur Psychologie der Überzeugung@ (EGlaube, Unglaube und ÜberzeugungD; 1913, 109) und EAnalyse von GleichnissenD (Ferenczi 1915, 164).
3 Eine Heirat zwischen Ferenczi und Gizella Pálos.
4 Erst 1806 heiratete Goethe Christiane Vulpius, mit der er schon viele Jahre in Hausgemeinschaft gelebt hatte. Diese Ehe besiegelte den Bruch mit Charlotte von Stein und mit Herder.
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