• S.

    Prof. DR. FREUD
    WIEN IX., BERGGASSE 19

    8.11.1927.

    Liebe Frau Doktor!

    Es wird Sie nicht überraschen, dass man sich 
    an Sie wendet, wenn man etwas von Ihnen braucht. 
    Der heutige Fall ist folgender: Dr. Wilhelm Reich, – 
    ich weiss nicht, ob Sie ihn persönlich kennen 
    gelernt haben,– ist einer der tüchtigsten, eifrig-
    sten und strebsamsten Analytiker in Wien, von 
    etwas ungestümen Temperament, ein vortrefflicher 
    Arbeiter, 30 Jahre alt. Nun ist bei ihm eine mehr 
    als verdächtige Lungenspitzenaffektion aufgetreten, 
    derzufolge er sich gegenwärtig in Davos‑Platz, 
    Pension Sonnenhalde, befindet. Seine materiellen 
    Verhältnisse sind nicht besser als die der andern 
    Wiener, es ist nicht zu sehen, woher er die 
    Kosten eines längeren Aufenthaltes droben be-
    streiten wird. Der analytische Fond, der eine 
    Pflicht darin erkennen würde, ihm zu helfen, be-
    sitzt derzeit ein Vermögen von 0,0 Frank. Mark 
    oder Schilling. Der junge Mann ist geradezu 

  • S.

    arbeitsgierig und etwas berufliche Beschäftigung 
    würde ihm auch psychisch sehr wohltun. Ich 
    bitte Sie nun, wenn Sie in die Lage kommen, einen 
    Neurotiker nach Davos zu schicken, der dort eine 
    analytische Behandlung anfangen oder fortsetzen 
    soll, oder wenn Sie Ihnen bekannte Patienten 
    in Davos haben, an Reich nicht zu vergessen. Sie 
    tun damit ein gutes Werk, nicht nur am Arzt, 
    sondern wahrscheinlich auch an dem Kranken. Auch 
    Ausführung von Lehranalysen, wenn sich dazu 
    Gelegenheit bietet, wäre Dr. Reich sehr geeignet.

    Ich fühle mich geradezu beruhigt, nachdem 
    ich Ihnen diesen Brief geschrieben habe, denn mir 
    kommt es vor, es ist das Beste, was ich für ihn tun 
    kann. Eine ähnliche Bitte habe ich gleichzeitig 
    an Pfister gerichtet.

    Mit herzlichen Grüßen für Sie, Mann und 
    Kind
    Ihr
    Freud