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S.
[Budapest,] Wieder Nach Mitternacht,
d 19/20 XII 917
Lieber Herr Professor,
Leider muß ich wieder einmal ─ in absentia ─ eine Stunde von ─ oder mit ─ Ihnen nehmen, da mich ein trauriges Ereignis des Tages trotz Schlafmittel nicht einschlafen läßt. Vielleicht ist diese eigentümliche Technik der Selbstanalyse ─ in Briefen (d.h. unter steter Vorstellung der Anwesenheit eines Analytikers) ─ zur Beendigung einer Kur überhaupt nicht ungeeignet.
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Heute nachmittag erschien bei mir die Schwester einer früheren Patientin und teilte mir mit, daß sich meine Patientin erschossen hat.
Ich muß gleich korrigieren. Es handelte sich nicht eigentlich um eine +frühere*, sondern um eine +angefangene* ─ dann weggeschickte Patientin. Ich glaube von ihr einmal gesprochen oder geschrieben zu haben.
Sie kam ─ ein sehr armes, sehr schönes, sehr intelligentes, gemütvolles Mädchen ─ vor etwa einem Jahre zu mir, vor meiner Krankheitsreise nach dem Semmering. Materielle Umstände machten eine Kur unmöglich. Ich aber war grade in einer Periode des Schwankens gegenüber Frau G. ─ die Jugend und Liebenswürdigkeit bezauberten mich ─ ich ließ mich zu einem Kusse hinreißen. [A Die Wiederholung des Falles Elma.] Sie kam bald wieder. Ich unterließ weitere Intimitäten, und da sie sehr unglücklich und (neurotisch) todessehnsüchtig war, dazu literarisch begabt zu sein schien, ließ ich sie einige Kindheitserinnerungen schreiben, gleichsam als Beschäftigungstherapie.1 Dabei verhinderte ich aber (vielleicht auch aus Eifersucht), daß sie in Literatenkreisen +verdorben* wird, ich dachte, es sei schade um sie. ‑ Sie ließ sich so nicht abfertigen, verlangte energisch die Analyse. Ich gab ihr auch wöchentlich zwei Stunden ─ prinzipienhalber 3 Kronen für die Stunde berechnet ─; sie gab manches her, schien aber (was nach dem Vorausgegangenen kein Wunder ist) länger bei der Übertragung weilen zu wollen. Die Analyse verflachte sich mehr und mehr; nach der Unterbrechung infolge meiner Krankheit kam sie ─ für kurze Zeit ─ wieder, verlangte aber bald selbst eine neue Pause, die ich ihr gestattete. Ich sah sie lange nicht.
Vor einigen Wochen erschoß sich ihr Schwager (der vor Jahren ihr Ideal war, sie auch sexuell anrühren wollte). Sie schrieb mir einen verzweifelten Brief. Vor etwa vierzehn Tagen kam sie ─ bezüglich des Schwagers ganz resigniert, doch mit dem Plane, die Analyse fortzusetzen. Ich wich aus ─ berief mich auf militärische Agenden etc., vertröstete sie mit einer späteren Zeit. Vorigen Freitag kam sie zuletzt. Sie erkundigte sich wieder nach der Analyse, sagte mir, sie wolle sich erschießen, habe schon einen Revolver gekauft etc. Der Grund ihrer Absicht war ein neurotischer: +Sie könne nicht lieben*, sagte sie. Ich bat sie inständigst, auf die Kur zu warten; alles fruchtete nichts. Im Laufe dieser Woche dachte ich oft an sie ─ bis ich heute erfuhr, daß sie sich am Tage nach dem letzten Besuch bei mir, also schon vor vielen Tagen, erschoß.
Die Schwester schien einigermaßen eingeweiht zu sein. In verzerrter Ahnung der Wirklichkeit frug sie mich, ob die Schwester nicht darum gestorben sei, weil ich ihr +suggeriert* hätte, sie sei in ihren Schwager (den Selbstmörder) verliebt gewesen? Dann sagte sie aber urplötzlich selbst: sie wisse, ihre Schwester sei nur gestorben, weil sie in mich verliebt gewesen sei, und zwar habe sie in mir den Mann und nicht nur den Arzt lieben wollen, da ich sie nicht liebte, sei sie dann in den Tod gegangen. Sie gründet diese Mutmaßung auf dunkle Äußerungen der Schwester.
Der Fall deprimiert mich außerordentlich, ich bewahrte aber die Fassung gegenüber der Bringerin der Hiobspost (was ich als Gesundheitszeichen bei mir auslegte).
Doch die Schlaflosigkeit zeigt mir, daß ich unbewußt schuld an diesem Tod sein will ─ gewisse Regungen möchten es wieder bedauern, die Jugend (Elma, die Leibesfrucht, überhaupt den Kindersegen, und jetzt wieder diese Möglichkeit) von mir weggejagt zu haben. Wahr ist an der Sache auch, daß mein zwiespältiges Verhalten (zuletzt vielleicht die fanatische Abwehr, wie seinerzeit beim artifiziellen Abort) den Fall ─ der gewiß auch sonst zu Tode verurteilt war ─ nicht günstig beeinflußte. ‑ Meine Reue ist die Wiederholung früherer (verdienter) Reuegefühle.
Soweit wäre ich mit der Sache im klaren. Ich brauchte den Brief vielleicht überhaupt nicht mehr abzuschicken. Aber es wäre unsinnig, Ihnen gerade dieses Kapitel vorzuenthalten. Frau G. ist in alles eingeweiht. Sie kannte das Mädchen und bedauert sie mit mir.
Viele herzliche Grüße von Ihrem
Ferenczi
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A Eckige Klammern in der Handschrift.
1 Ferenczi veröffentlichte später diese Aufzeichnungen: EAus der Kindheit eines Proletariermädchens. Aufzeichnungen einer 19jährigen Selbstmörderin über ihre ersten zehn Lebensjahre. (Mit Vorbericht und Schlußbemerkungen von Dr. S. Ferenczi)D (Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, 1928/29, 3: S. 141-172).
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