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Zur Kenntniss der cerebralen Diplegien des Kindes-
alters (im Anschlusse an die Little’sche Krankheit).
(Neue Folge, III. Heft der „Beiträge zur Kinderheilkunde“, herausgegeben von
Dr. M. K a s s o w i t z 1893.)Ergänzung der unter XX angeführten „Klinischen Studie über
die halbseitige Cerebrallähmung der Kinder.“ In ähnlicher Anord-
nung, wie dort werden hier Geschichte, pathologische Anatomie
und Physiologie der Affection behandelt und die hierher gehörigen
klinischen Bilder durch 53 eigene Beobachtungen erläutert. Es
musste aber ausserdem der Umkreis der als „Cerebrale Diplegien“
zu bezeichnenden Formen gezogen und deren klinische Gemein-
samkeit dargelegt werden. Der Verfasser hat angesichts der in
der Literatur dieser Affectionen herrschenden Meinungsverschieden-
heiten die Gesichtspunkte eines älteren Autors, L i t t l e, wieder auf-
genommen und ist so zur Aufstellung von 4 Haupttypen gelangt, die
als allgemeine Starre, paraplegische Starre, allgemeine Chorea und
bilaterale Athetose, doppelseitige spastische Hemiplegie (spastische
Diplegie) bezeichnet werden.Unter die allgemeine Starre fallen die Formen, welche sonst
den Namen „L i t t l e ’sche Krankheit“ führen; als paraplegische
Starre wird bezeichnet, was früher als Talus spastica infantilis
für eine Spinalaffection gehalten wurde. Die spastischen Diplegien
entsprechen am ehesten einer Verdoppelung der halbseitigen
Cerebrallähmung, zeichnen sich aber durch einen Ueberschuss von
Symptomen aus, welcher in der Doppelseitigkeit der Gehirnaffection
seine Auflösung findet. Die Bezeichnung allgemeine Chorea und
bilaterale Athetose diesen Typen anzuschliessen, ergibt sich aus
zahlreichen Charakteren des klinischen Bildes und aus der Existenz
der sehr mannigfaltigen Misch- und Uebergangsformen, welche alle
diese Typen verbinden.Es werden die Beziehungen dieser klinischen Typen zu den
hier als wirksam angenommenen, ätiologischen Momenten und zu
den in ungenügender Anzahl erhobenen Sectionsbefunden erörtert,
wobei sich folgende Sätze ergeben:
Die cerebralen Diplegien können nach ihrer Entstehung ein-
getheilt werden in a) congenital bedingte, b) bei der Geburt ent-
standene, c) extrauterin acquirirte. Es ist aber nach den klinischen
Eigenthümlichkeiten des Falles höchst selten, nach dessen Anamnese
nicht immer möglich, diese Unterscheidung zu treffen. Als ätio-
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logische Momente der Diplegien werden angeführt: pränatale
(Trauma, Krankheit, Schreck der Mutter, Stellung des Kindes in
der Generationsreihe, bei der Geburt wirksame (die von L i t t l e
hervorgehobenen Momente der Frühgeburt, Schwergeburt, Asphyxie)
und extrauterin wirkende (Infektionskrankheiten, Trauma, Schreck
des Kindes). Convulsionen können nicht als Ursache, sondern nur
als Symptome der Affection betrachtet werden. Die ätiologische
Rolle der vererbten Syphilis wird als bedeutsam anerkannt. Zwischen
keiner einzelnen dieser Aetiologien und einem einzelnen Typus
von cerebraler Diplegie besteht eine ausschliessliche Relation,
doch machen sich vielfach Bevorzugungsverhältnisse geltend. Die
Auffassung der cerebralen Diplegien als Affectionen mit einheit-
licher Aetiologie ist unhaltbar.
Die pathologischen Befunde bei den Diplegien sind mannig-
facher Art, im Allgemeinen die nämlichen wie bei den Hemiplegien,
sie haben zumeist die Bedeutung von Endveränderungen. Von denen
uns der Rückschluss auf die Initialläsionen nicht regelmässig ge-
lingt. Sie gestatten in der Regel nicht die Entscheidung darüber,
in welche ätiologische Kategorie ein Fall einzureihen ist. Auch ist
man zumeist ausser Stande, aus dem Sectionsbefunde die klinische
Gestaltung zu erschliessen, so dass die Annahme rationer und aus-
schliesslicher Beziehungen zwischen klinischen Typen und anatomi-
schen Veränderungen gleichfalls abzuweisen ist.
Die pathologische Physiologie der cerebralen Diplegien hat
es wesentlich mit der Aufklärung der beiden Charaktere zu thun,
durch welche allgemeine und paraplegische Starre sich in auf-
fälliger Weise von anderen Ausserungen organischer Grosshirn-
erkrankung unterscheiden. Bei diesen beiden klinischen Formen
überwiegt nämlich die Contractur über die Lähmung und sind die
unteren Extremitäten stärker geschädigt als die oberen. Die hier
angestellte Erörterung gelangt zum Schlusse, dass die intensivere
Schädigung der unteren Extremitäten bei der allgemeinen und
paraplegischen Starre mit der Lokalisation der Läsion (Meningen-
blutung längs der Medianspalte) und dass das Ueberwiegen der
Contractur mit der Oberflächlichkeit der Läsion in Zusammenhang
zu bringen ist. Der bei paraplegischer Starre und bei der Aetiologie
Frühgeburt besonders häufige Strabismus der diplegischen Kinder
wird von den Königstein'schen Netz hautblutungen der Neu-
geborenen abgeleitet.
Ein besonderer Abschnitt lenkt die Aufmerksamkeit auf die
zahlreichen familiär und hereditär auftretenden Affectionen des
Kindesalters, welche eine klinische Verwandtschaft mit den cere-
bralen Diplegien verrathen.
(Neue Folge, III. Heft der „Beiträge zur Kinderheilkunde“, herausgegeben von Dr. M. Kassowitz 1893)
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