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S.
PROF. DR. FREUD WIEN IX., BERGGASSE 19
Semmering19 Aug 27
Meine liebe Ruth
Ich habe beim vorigen Brief gemeint,
es wird mein letzter sein u bedaure
es sehr, daß Sie nicht zum Kongreß
kommen. Schade, Sie haben schon so
schön dazu gehört. Ihre Motivirung
macht mich mistrauisch. Ich habe etwas
von einer Operation bei Ihrer Mutter
gehört, aber das scheint es doch nicht
zu sein.Überhaupt machen Sie sich auf den Ausdruck
meines Misvergnügens oder zum mindesten
Mistrauens gefaßt. Ich hätte so schön Zeit
gehabt Ihre Arbeit zu lesen; sie ist
nicht gekommen. Mein Eindruck ist
der Weibsteufel hat sie wieder
beim Kragen. Früher war es einmal
gebräuchlich daß sich die Amerikaner-
innen austoben, wenn sie nach
Europa kommen, jetzt scheint es
umgekehrt zu sein. Sie stecken tief
in Liebesgeschichten, sagen sich dabei,
Ich bin darüber, bin es oder ihn
los, und es scheint eine Täuschung
zu sein.Mit Mark steht es offenbar nicht gut.
An Motiven, die Onanie aufzugeben,
hat es ihm doch nicht gefehlt. Braucht
es ein anderes Motiv, als zum
Weib zu kommen. Aber er
merkt, daß Sie ihn auf keinen
Fall aufgeben, u damit entfällt
für ihn das Motiv, etwas an
sich zu ändern. Wozu der
Umweg, ihm zu zeigen daß Sie -
S.
bei ihm frigid sind? Er sieht doch nur, daß Sie
kommen wenn er ruft. Wäre es nicht
korrekter gewesen, sich vorher zu erkund-
igen, ob er noch onanirt, und dann
zu sagen: Wenn Du noch zweimal
täglich onaniren mußt, dann hat sich
nichts bei dir geändert – dann liebst
Du mich nicht besser als früher und
dann brauche ich nicht zu kommen?
Das wäre unzweideutig gewesen.
So sehen mir die Dinge in der Ferne
aus. Vielleicht sieht man schärfer, wenn
man Distanz hat. Ich bin jetzt sehr neugierig,
was Sie sagen werden.Der Sommer war hier sehr schön u ruhig.
Morgen sollen die ersten Gäste kom̄en,
Ophuijsens, u meine Frau behauptet, das
Wetter rüstet sich für sie her. Denn seit
gestern ist der Glanz vorüber. Ich war
heute 4 Wochen nicht in der Stadt, ein
kleiner Zahnarzt hier leistet mit gute
Dienste. Meine beiden Beiträge, Fetisch-
ismus u Humor sind fertig, der letztere
soll von Anna auf dem Kongreß
verlesen werden.In diesem Augenblick kom̄en stark
riechende Blumen aus der Herrengasse,
somit erspare ich mir diesmal den
Dank auf einer Nachtragskarte.Herzliche Grüße
Ihr
Freud