• S.

    PROF. DR. FREUD    WIEN, IX., BERGGASSE 19.

    29. 4. 1929

    Liebe Ruth

    Entgegen meiner Gewohnheit 
    habe ich Ihren letzten Brief nicht sofort 
    beantwortet. Der Grund hiefür war, daß 
    meine Frau, Anna u Dorothy B. nach 
    Berchtesgaden gefahren waren, um 
    Wohnung zu suchen, so daß ich Aussicht 
    hatte, Ihnen auch berichten zu können, 
    wohin Sie Ihre Briefe etwa von 
    Mitte Juni an schicken sollen. Nun 
    sie sind ohne Erfolg zurückgekom̄en, 
    ein einiges Haus kommt für uns in 
    Frage. (Die Besitzerin lebt in Berlin 
    und unser Ernst soll versuchen, mit 
    ihr zu verhandeln. Es haben sich aber 
    schon andere Bewerber gezeigt 
    und es ist zweifelhaft, ob diese zurück-
    treten werden.

    Unter den anderen Gegenständen 
    unseres Interesses steht gewiß das 
    Baby obenan. Ich freue mich sehr, 
    daß Sie soviel von ihm schreiben und 
    bis überzeugt, bis dieser Brief ankom̄t, 
    hat es wieder an Gewicht und Fort-
    schritten zugenommen. Ein ähnlich un-
    unterbrochener Aufstieg ist von keinem 
    der alten Leute hier zu erwarten.

    David’s tempers scheinen Wutausbrüche ge-
    wesen zu sein – wegen der Unterdrück-
    ung seiner Masturbation, die ja 
    für ihn überhaupt entscheidend war.  
    Seine Analyse ist immer noch inter-
    essant, aber die Aussicht je über 
    seine Arbeitsunlust wegzukom̄en 
    sehe ich nicht. Die Urgeschichte 
    bei ihm zu rekonstruiren ist 
    sehr schwer, alles ist intellektuell 
    überwuchert.

  • S.

    Karolyi arbeitet sehr gut u schafft mir durch 
    fortgesetzte Verkleinerung der Prothese 
    deutlich Erleichterung.  Natürlich bezale 
    ich jede Neuerung mit einigen Tagen 
    von Anpassungsschwierigkeiten. Der Fortschritt 
    ist im Ganzen unleugbar, so daß das 
    amerikanische Angebot – von dem ich 
    nur durch Sie weiß – von dieser 
    Seite keine Unterstützung zu er-
    warten hat. Ich war verwundert, 
    daß Sie nach Brill’s Kritik doch 
    zu Mayer gehen wollen.

    Über den zweifelhaften Ausgang der 
    Pariser Diskussion mit Jones habe ich 
    Ihnen bereits geschrieben  Eitingon 
    scheint die Sache jetzt noch ungünstiger 
    zu beurteilen. Das Sanatorium Tegel 
    wird recht gut geführt, vielleicht 
    nicht schwindelhaft genug, allzu ideal-
    istisch. Es ist einfach, nachdem der 
    erste Geldgeber versagt hat, kein 
    Geld zur Betriebsführung vorhanden. 
    Die Sache ist ganz gesund, aber mit unzu-
    reichenden Mitteln begonnen worden 
    weil Simmel sich auf einen Menschen 
    verließ, der bald sein Versprechen 
    nicht halten konnte.

    Ich grüße Sie und Mark herzlich 
    u hoffe auf weitere glückliche 
    Nachrichten. 
    Ihr 
    Freud