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S.
PROF. DR. FREUD
WIEN, IX., BERGGASSE 19.
Berchtesgaden3. 9. 1929
Meine liebe Ruth
Ich bin sehr froh, daß Sie wieder
so nahe sind und in wenigen Tagen
selbst hier sein und Ihr Baby zeigen
werden. Amerika ist doch trotz Zeppelin
noch immer sehr weit. Auf Ihre Kleine
bin ich sehr neugierig, fürchte nur, mein
neues Werk ist dies Interesse nicht
ganz wert, das Sie darauf verwenden.Lun’s Verlust ist ein schwerer Schlag,
von stärkerer Wirkung, als man erwarten
sollte. Es sind Empfindungen von derselben
Qualität wenn auch nicht Intensität, wie
beim Verlust eines Kindes. Die Trauer
ist offenbar ein sehr komplizirter Vor-
gang. Ein Element habe ich herausgespürt,
es ist die narzißtische Kränkung über
die eigene Ohnmacht, wo man doch
bereit ist, alles für das liebe Wesen
zu thun. Es ist noch allerlei anderes
dabei, merkwürdiger Weise trotz des Artunter-
schieds eine deutliche Geschlechtswirkung,
Lun hatte soviele rein weibliche
Eigenschaften. Sie ist eigentlich an ihrer
Vornehmheit und Männerscheu zu Grund
gegangen. Ein junger Schwede, Ruths’
Schwiegersohn, hatte sie am ersten Tag
drei Kilometer weit verfolgt und eingeholt,
als sie in einer seichten Wasserlacke
badete. Sie hat ihn so in die Hand ge-
bissen, daß er sie laufen lassen mußte.
Am vierten Tag früh hatten wir Inspektor
Nansch nach Salzburg kom̄en lassen,
der sie mit Hilfe eines Polizeihundes
aufspüren sollte. Da war sie schon
um 4h morgens vom ersten Zug nach München -
S.
überfahren worden, wahrscheinlich war sie erschöpft
auf dem Bahngeleise eingeschlafen.Am 15t reise ich mit Anna nach Berlin. Es
ist noch zweifelhaft, ob wir in Tegel wohnen
können, da das Sanatorium in Auflösung
ist. Die letzten Nachrichten lassen hoffen,
daß es sich noch einige Wochen halten
wird. Eine große Reihe von einzelnen
kleinen Unglücksfällen hat uns diese
zweite Sommerhälfte verstört, so daß mir
der idyllisch schöne Aufenthalt beinahe
unleidlich geworden ist. Mein Befinden
hat auch unter den Beschwerden, die mir
die Prothese im Som̄er machte, gelitten.
Ich habe eine schwere Zeit mit ihr. Ein
Schüler von Schröder hier bemüht sich um
sie, richtet aber nichts aus. Ich bin bereits
intolerant gegen die vielen Helfer,
die zuerst die Operation, dann die
Prothese bewundern, und an meiner
gequälten Existenz nichts bessern können.Dr Mac Cord, der ein reizender Mensch
war, ist durch Dr Smiley Blanton abgelöst
worden, über den ich nach 3 Stunden nicht
urteilen will. Er ist vielleicht an
average american fool. Marie u er
gehen mit nach Berlin, Ruths schließt
vorher ab. Löwenstein u Riviere sind noch
als Besucher zu erwarten, aber Ihr
Besuch – Mark kom̄t doch gewiß mit –
soll uns für alle anderen ent-
schädigen. Ich grüße Sie alle herzlich
Ihr
FreudPS. Familie Brunswick
hat sich bei uns von der
liebenswürdigen Seite
gezeigt.