-
S.
PROF. DR. FREUD WIEN IX., BERGGASSE 19
Semmering10 Sept 24
Dear Ruth
Gestern habe ich also Ihren Vater gesehen. Er hatte
Montag vormittags telphonisch angerufen
u da ich Dienstag in der Stadt angesagt war,
wurde ausgemacht, daß ich ihn im Hotel besuche.
Es hat mir später leid gethan daß wir ihn
nicht doch hinaus kom̄en ließen. So – bekam
er außer mir nur Anna zu sehen u die
anderen hätten sich auch sehr mit ihm
gefreut.Es ist merkwürdig wie sehr Sie sein Kind sind,
u manchmal war die Ähnlichkeit des Gebärd-
enspiels überwältigend. Wir haben uns sehr
gut gesprochen. Ihre Mahnung vorsichtig zu
sein habe ich so verstanden, wie sie
motivirt war. Seine Mischung von Offen-
heit u Schlauheit war sehr amüsant u
machte es mir leicht, gleichfalls sehr offen-
herzig zu erscheinen, ohne ein Wort
mehr zu sagen, als ich wollte. Er hat von
Neuheiten nur die Bestätigung gewon̄en,
daß ich bereit bin, Mark in Analyse
zu nehmen, was er nicht sicher wußte.
(Ich habe es Mark heute in einem
kurzen Brief mitgeteilt der an Ihre
Adreße rue P. de Ch. gerichtet ist.)Ihr Mistrauen gegen seine Pläne
haben Sie unterdeß selbst aufgegeben.
Wir sind darin einig gewesen, daß man
als Vater kein anderes Recht behält
als das nachzugeben, ein bescheidener
der ehemals so großartigen potestas
patriarchalis. Das Problem der -
S.
unabhängigen Frau, die sich auch ihr Sexualleben
nach eigener Entscheidung einrichten
wird, wurde zwischen uns nahezu
gleichsinnig behandelt. Aus seinen wirk-
lichen Wünschen u Sympathien machte
er durchaus kein Geheimnis, was
dazu führte, daß auch ich mein Urteil
über die Qualitäten von H. u M.
nicht verbarg u M. ein sehr gutes Zeugnis
soweit mein Eindruck reicht, ausstellte.Das Äußerste, was ich von ihm hörte, war
die Vermutung, Sie werden mit M.
Liebesverkehr haben, noch bevor Sie ge-
schieden sind u ihn heiraten können.
Ich erklärte, in Ihrer Beziehung zu M.
lange nicht so klar zu sehen wie
in der zu H., was ja nicht unwahr
ist. Seine Abneigung gegen Ihren Schritt
wird sich gewiß in der Behandlung
der realen Schwierigkeiten zeigen,
die sich der Durchführung der Scheidung
entgegenstellen, doch wird er am Ende
alles thun, was notwendig ist.Meine Beschreibung des Zustandes, in dem
Sie in die Kur kamen, war, Sie hätten
den Entschluß, sich von H. zu trennen mit-
gebracht, aber sich gebunden gefühlt u
nicht gewußt, warum Sie ihn nicht aus-
führen konnten. Die Formulirung
war vielleicht zu analytisch, er verstand
sie nicht gleich.Der Eindruck seiner Person war sehr
einnehmend, die Stunde Gespräch sehr
angenehm.Herzlich Ihr
FreudP.S. Denken Sie, die Hug Hellmuth wurde
vorgestern nachts in ihrem Schlafzim̄er ermordet.
Täter ist ihr Neffe von 18J, für den sie sich ihr Leben lang
aufgeopfert.