• S.

    PROF. DR. FREUD    WIEN, IX., BERGGASSE 19.
    Tegel 28. 9. 29

    Liebe Ruth

    Mir ist folgende Idee für 
    eine Arbeit eingefallen, 
    für die ich Sie als bis vor 
    Kurzem säugende Mutter 
    interessiren möchte.

    Sie wissen, daß es viele Völker 
    giebt, denen der Kuß als 
    Liebkosung ganz unbekannt 
    ist, anderseits, daß die Zeit 
    während welcher das Kind 
    gesäugt wird, wieder bei 
    verschiedenen Völkern 
    sehr variirt. Sollte es 
    dazwischen nicht einen 
    Triebzusam̄enhang geben, 
    etwa mit der Aussicht auf 
    das Resultat, daß unsere 
    europ. Kinder oral „unter-
    ernährt“ sind u darum 
    kußbedürftig bleiben. 
    Der erste Versuch, das 
    Material zu sichten, 
    kann natürlich diese 
    Hypothese zum Platzen 
    bringen.

  • S.

    Die Fortschritte bei Schröder sind 
    jetzt sehr langsam.  Nicht zu 
    erraten, wann wir zurück 
    sein können. Sonst geht 
    es uns beiden sehr 
    gut. Lederer ist sehr leb-
    endig.

    Ich korrigiere sehr vorsichtig 
    an der neuen Arbeit, 
    die den Namen „Unglück 
    in der Kultur“ gewiß 
    nicht behalten wird.

    Mit vielen Grüßen 
    für die ganze dreiköpf-
    ige Familie 
    Ihr 
    Freud