• S.

    PROF. DR. FREUD 
    WIEN, IX., BERGGASSE 19.

    4.XII.1928

    Meine liebe Ruth

    Ich muß wol sagen, Wolf hat Recht gehabt. 
    Der Brief von Jones ist sehr ungehörig, ver-
    dient eine kühl überlegene abweisende 
    Antwort. Theoretisch ist er gewiß im Unrecht, 
    denn warum soll es keine pathogene 
    Fixirung im praeoaedipalen Stadium 
    geben? Nur weil Melanie Klein den Oedp 
    Komplex so liebt? Wir lieben ihn aber 
    auch. Technisch ist der Brief zu verwerfen, 
    weil kein Redakteur sich solche kritische 
    Bevormundung erlauben darf, wenn die 
    Arbeit auf dem Boden der Analyse 
    steht und nicht ganz unsinnig ist. Sie er-
    leben da eine schöne Probe von den 
    unglücklichen Charaktereigenschaften 
    Jones’ die uns alle von der Intimität 
    mit ihm zurückgeschreckt haben. Ich meine 
    Sie sollen zufrieden sein, den Wolfsman̄ 
    im Internat. J. unterzubringen und die 
    Karla Jelliffe geben. Daß wir in Wien 
    beide Arbeiten ohne Bedenken ange-
    nom̄en haben, hätte für Jones doch maß-
    gebend sein müßen.

    Daß Sie keinen neuen Pat haben, verstehe 
    ich noch immer nicht. Ihre dauernde Über-
    siedlung nach Wien würden wir alle 
    freudig begrüßen, aber da ich gewiß 
    nicht lange davon genießen würde, 
    darf ich Sie ohne Gefahr der Misdeutung 
    aufmerksam machen, wie unsicher 
    die Zukunft Oesterreichs ist. Wenn wir 
    uns nicht an Deutschland anschließen 
    können, ist unserer unaufhaltbarer 
    Niedergang sehr wahrscheinlich. Die 
    Verhältniße verschlechtern sich hier 
    jede Woche. Jetzt haben wir 
    wieder einmal passive Resistenz

  • S.

    in Post Telephon u Telegraph. Weiß Gott, wann Sie 
    diesen Brief erhalten!

    Der Marmortorso Anna’s muß nach Ihrer Schilderung 
    der sein, der Ihnen gefallen hat. Er hat M 350 
    von mir verlangt.  Durch Ihre Neuerwerbung ge-
    reizt habe ich mich erinnert, daß ich Ihnen noch 
    zwei Stücke verheimlicht habe, einen nur 7cm 
    hohen, sehr feinen Merkur u einen ägyptischen 
    Spiegel (ohne Zeichnung). Anna hat zum Geburtstag 
    einen Ring mit geschnittenem Karneol bekom̄en, 
    Sie hat eine Jause für zehn Kinder gegeben. Ihre 
    Sendung ist noch nicht vom Zollamt geholt. Ihr 
    Kabel hat sie sehr gefreut.

    Wissen Sie übrigens, wer die ersten Funde von 
    „etruskischen“ Vasen gemacht hat?  Marie’s Ur-
    großvater Lucien, der sein ganzes Vermögen 
    dafür verausgabt hat. Schade, daß von dieser 
    Vorliebe sich sowenig auf die Enkelin ver-
    erbt hat. Marie ist jetzt mit einer im Dienst 
    der Selbstbestrafung erzeugten Cystitis 
    im Sanat. Loew, wird noch Wochen dort 
    zubringen u genießt wenigstens den großen 
    Aufschwung ihrer Analyse. Ruths ist nach 
    seiner Berliner Grippe mit Pleuritis nach 
    Luxor gegangen, will erst Ende Januar zurück 
    kom̄en. So gewinne ich Zeit, Marie im Sanat. 
    zu besuchen, wofür sie $ 50 angeboten hat, 
    ich habe aber nur 40 bestimmt. Mit David 
    ist es ein großes Kreuz; er arbeitet nichts 
    für seine Prüfungen, begnügt sich in 
    der Analyse mit selbstgefälligen Be-
    schreibungen seiner „moods“, geht nie über 
    das Ubw. hinaus. Ich würde ihn gerne 
    hinauswerfen, wenn es nicht zu deutlich 
    wäre, daß er grade das erzielen will. 
    So versuche ich’s mit Engels‑ oder wenn 
    Sie wollen Eselsgeduld, ohne viel Hoff-
    nung, des verdrehten Jungen Herr 
    zu werden.

    Die Prothese bewährt sich, aber die Katarrhe, 
    die sich fortgesetzt steigern, bringen mich 
    um ihre besten Leistungen. Hirsch hat 
    mich, glaube ich, schon aufgegeben, nachdem 
    er sich überzeugt, daß jede Behandlung 
    schlecht thut. Pichler hat mich freundlich 
    eingeladen, ihn „gelegentlich“ zu besuchen∞ 
    ich schiebe es auf, weil ich nicht mit meiner 
    Sprache prunken kann.

    Mit herzlichen Grüßen 
    für Sie, Mann u Kind 
    Ihr 
    Freud