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7. 4. 07
Lieber u geehrter Herr College
Ich wäle ein anderes Papier, weil ich
mich ohne Einengung mit Ihnen aus-
sprechen will. Ihre Reise war eine sehr
liebenswürdige u dankenswerte Hand-
lung; ich hätte Lust Ihnen mehreres in
der Schrift zu wiederholen, was ich Ihnen
mündlich gestanden habe, vor allem, daß
Ihre Person mich mit Vertrauen in
die Zukunft erfüllt hat, daß ich nun
weiß, ich sei entbehrlich wie jeder andere,
u daß ich keinen anderen und, besseren
Fortsetzer u Vollender meiner Arbeit
wünsche als Sie, wie ich Sie kennen ge-
lernt habe. Ich bin sicher, Sie werden die
Arbeit nicht im Stiche lassen, denn Sie
haben zu tief hineingeschaut und selbst
gefunden, wie packend, wie weittragend,
ja wie schön unsere Dinge sind.Gewiß denke ich an einen Gegenbesuch
in Zürich, bei dem ich mir von Ihnen
die berühmte Dem. praecox demonstriren -
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lassen kann, aber er steht wohl nicht nahe bevor.
Derzeit stört mich auch das ungeklärte
Verhältnis zu Ihrem Chef. Nach seiner
letzten Vertheidigung in der Münchener
m. Woch. glaubte ich, jetzt seiner sicher zu
sein, u Sie berichten mir wieder von einer
sehr ernsthaften negativen Schwankung,
die Sie wahrscheinlich ebenso wie ich als
Gegenwehr gegen Ihre heimgebrachte
Überzeugung auffassen. Wie doch der
„persönliche Komplex“ sich über jede rein logische
Geistesarbeit hinaussetzt!In Betreff der Dem. pr. hätte ich Ihnen
einen Vorschlag zu machen. Ich habe nach
Ihrer Abreise einige Spekulationen
über das zwischen uns verhandelte Thema
notirt, die ich Ihnen gerne überlassen
möchte, wenn es Sie nicht nach zwei Richt-
ungen stört, sie anzunehmen. Erstens,
weil Sie selbst auf dieselben stoßen
könnten, zweitens weil Ihnen Annehmen
vielleicht überhaupt peinlich ist. Ich muß
sagen, daß ich eine Art von intellekt-
uellem Kommunismus, bei dem man nicht ängstlich -
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controllirt, was man gegeben u was man
empfangen hat, für eine sehr würdige
Art der Wirtschaft halte. Antworten
Sie mir also mit psychoanalytischer Offenheit,
ob Sie das Zeug, dessen Wert Sie wegen
dieser Ankündigung nicht überschätzen
müßen, anhören wollen oder lieber nicht.Ihr Bemühen, den Anderen den Geschmack
der Säure beim Biß in den Apfel zu
ersparen, würdige ich nach seinen Motiven,
glaube aber nicht, daß es Erfolg haben
wird. Wenn wir das Ubw auch „psychoïd“
heißen, es bleibt doch das Ubw, u wenn
wir das Drängende bei der erweiterten
Sexualität nicht „Libido“ heißen, so bleibt
es doch die Libido, u in jeder Folgerung
kom̄en wir auf das zurück, wovon
wir mit der Namengebung ablenken
wollen. Wir können uns die Wider-
stände nicht ersparen, warum sie nicht
lieber gleich herausfordern? Aggression
ist die beste Defensive, meine ich. Sie
unterschätzen viel leicht die Intensität
dieser Widerstände, wenn Sie hoffen,
ihnen mit kleinen Conzessionen zu[Seite 4: Dazu fehlt das Faksimile.
begegnen. Was man von uns verlangt, ist doch nichts anderes, als daß wir den Sexualtrieb verleugnen. Bekennen wir ihn also.
Rank wird gewiß wenig Glück haben. Er schreibt geradezu autoerotisch, die pädagogische Rücksidit fehlt ihm leider gänzlich. Außerdem hat er, wie Sie bemerken, den Einfluß seiner bisherigen Geistesnahrung noch nicht überwunden und ergeht sich in der Handhabung von Abstraktionen, die ich an keiner Stelle anfassen kann. Doch ist seine Unabhängigkeit von mir größer als es den Anschein hat; er ist ein befähigter Kopf, sehr jung und, was bei solcher Jugend besonders ehrenvoll ist, durchaus ehrlich. Von Ihrer Art die Sache darzustellen, werden wir natürlich weit mehr zu erwarten haben.
Nicht den Eindruck der Ehrlichkeit hat mir die Arbeit von Bezzola gemacht, die er mir unlängst recht unpersönlich und wahrscheinlich nur aus „Pietät“ zugeschickt. Die angehängten Bemerkungen entspringen einer sehr hoffnungsvollen
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was einen größeren Kreis anlocken kann „
zur Sammlung“ beizutragen. Für Riklin’s
Zusage danke ich Ihnen sehr. Hoffentlich
erfüllt seine Arbeit deren besondere
Anforderungen. Ich werde mich mittels
der Gradiva in direkte Verbindung
mit ihm setzen.Ostern war ich in Görlitz bei Kahlbaum
u habe dort einen höchst lehrreichen
Fall gesehen, von dem ich Ihnen auch
berichten wollte, wenn dieser erste
Brief seit Ihrer Anwesenheit bei mir
nicht schon über alles Maß hinausginge.Meine Frau hat sich über das Schreiben
Ihrer Frau sehr gefreut. Der Wirt, nicht
der Gast, ist derjenige, der für Ehre und
Vergnügen zu danken hat. Leider kann
sie jetzt nicht antworten, da sie im Ver-
laufe einer Stomakake eine übrigens
gutartige Iridocyclitis acquirirt hat.
Es geht ihr recht befriedigend.Indem ich mich auf Ihre Antwort
freue
Ihr herzlich ergebener
Dr FreudMünchener m. Woch.] Münchner medizinische Wochenschrift
Iridocyclitis] Entzündung der Iris und des Ziliarkörpers Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Iridozyklitis [2025-08-25]
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[Seit 5]
persönlichen Feigheit. Daß die Ψ‑Synthese das-
selbe ist wie die ΨAnalyse, das zu verheim-
lichen, schaut recht tückisch aus. Wir suchen
die verdrängten Stücke durch Analyse
doch auch nur, um sie zusam̄enzusetzen.
Der wesentliche Unterschied, daß er
keine Einfälle, sondern nur Sensationen
verwertet, geht doch nur darauf, daß
er blos traumatische Hysterien bearbeitet;
in anderen Fällen gibt es dieses Material
ja gar nicht. Es ist übrigens nach meiner
Kenntnis von der Struktur einer Neurose
allgemein ganz unmöglich, daß man die
therap. Aufgabe nur durch die Aufdeckg
der traumat. Scenen lösen könne.
Er steht also dort, wo Breuer u ich vor
12 J. standen u hat seitdem nichts gelernt.
Seiner „Pietät“ wegen verdiente er
„eins auf’s Dachel“, aber wir haben besseres
zu thun.In diesem Monat werden Sie noch zwei
kleine Publikationen von mir erhalten,
darunter die Gradiva, die Ihnen Lust
machen, einmal, hoffentlich bald, etwas -
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