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S.
PROF. DR. FREUD WIEN, IX. BERGGASSE 19.
14. 5. 12
Lieber Freund
Wie Sie gewiß erwarten, ist mir Ihre
Auffassung des Inzestes noch im̄er
nicht klar. Manchmal scheint mir, sie
entferne sich nicht von unserer bis-
herigen, aber das kann ja nur durch
eingehendere Aussprache klargelegt
werden. Nur zu Ihren Argumenten
hätte ich dreierlei zu bemerken –
Bedenken, nicht gerade Widerlegungen.- Die ursprüngliche Promiskuität scheint
vielen Autoren sehr unwahrscheinlich.
Ich selbst huldige in aller Bescheiden-
heit einer anderen Annahme über
die Urzeit, der Darwin’schen. - Mutterrecht ist nicht zu verwechseln
mit Frauenherrschaft. Letztere hat
wenig für sich. Das Mutterrecht ver-
trägt sich besonders gut mit der
polygamischen Erniedrigung des Weibes. - Es dürfte zu jeder Zeit Vatersöhne
gegeben haben. Vater ist, wer die
Mutter sexuell (u die Kinder
als Eigentum) besitzt. Die Thatsache
der Zeugung durch den Vater hat
ja keine psychologische Bedeutung
für das Kind.
- Die ursprüngliche Promiskuität scheint
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S.
Der Grund meines Schreibens heute ist ein
anderer. Von den Kritiken der letzten
Zeit hat keine mehr Eindruck gemacht
als die von Kronfeld (mir leider keinen).Einer unserer Mitglieder, Gaston Rosenstein,
ein guter Kopf, Mathematiker von Beruf
Philosoph etc, hat sich nun die Mühe gegeben,
diese durch ihre aprioristische Unverfroren-
heit ausgezeichnete Arbeit in einer aus-
führlichen Gegenkritik zu widerlegen.
Ich finde vieles dar an sehr gut, anderes
verstehe ich natürlich so wenig wie
die Kronfeld’schen Angriffe, da ich den
Jargon nicht beherrsche. Diese Gegenkritik
kann nach Natur u Umfang nur im
Jahrb Aufnahme finden, so daß ich
sie Ihnen für solche Bestim̄ung anbiete.
Eine Reaktion auf K. wird wol er-
wünscht sein.Ein Urteil über die zwischen Ihnen u
Bleuler schwebende Arbeit würde
ich natürlich abgeben, aber eine
Entscheidung möchte ich nicht fällen,
da seine Herausgeberrechte nicht
geringer sind als die meinigen.Indem ich Sie um eine Äußerung auf
einer Karte bitte,
Ihr herzlich
ergebener
Freuddie Urzeit, der Darwin’schen]
Darwin, Charles (1871): The Descent of Man. London: (> GW 9:152)Mutterrecht]
Bachofen, Jakob (1861): Das Mutterrecht. Stuttgart (> GW 9:174)Kronfeld]
Arthur Kronfeld (* 9. Januar 1886 in Berlin; † 16. Oktober 1941 in Moskau) war ein deutsch-russischer Psychiater.
"Kronfeld war Psychotherapeut, Psychologe, Sexualwissenschaftler und Wissenschaftstheoretikersowie darüber hinaus auch politisch engagiert. Er war philosophisch geschult und hatte künstlerische Neigungen, war doppelt promoviert und wirkte zuletzt als Professor an der Charité der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin sowie im Moskauer Exil am „Neuropsychiatrischen Forschungsinstitut der UdSSR Pjotr B. Gannuschkin“, dem heutigen „Forschungsinstitut für Psychiatrie“. Dort nahm er sich, als der Einmarsch der deutschen Truppen drohte, unter ungeklärten Umständen zusammen mit seiner Frau Lydia das Leben." Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Arthur_Kronfeld [2025-08-19]
Kronfeld, Arthur (1912): 1912 Über die psychologischen Theorien Freuds und verwandte Anschauungen. Systematik und kritische Erörterung. Leipzig: Engelmann.Gaston Rosenstein]
Rosenstein, Gaston (1912): Eine Kritik. Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung. 1912, (4)2:741-799.
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