PROF. DR. FREUD

WIEN, IX. BERGGASSE 19.

  • S.

    Nordwijk 10.8.10
    Pension Noordzee

    Lieber  Freund

    ich habe bisher ihre Ferien respektirt, aber gestern
    haben sie selber die Ruhe gebrochen u so kann ich
    selbst wieder schreiben. Ich sitze hier am schönsten
    Meeresstrand,wo die Sonne in märchenhafter
    Pracht untergeht, aber es geht mir allerlei ab,
    u ich weiß mit den flachen Strand nichts rechtes
    anzufangen, habe auch kein Plätzchen für mich
    allein, einmal Sammlung zu finden. Am 29. dM 
    soll ich – es ist noch gar nichts geordnet mit Fericzi
    im Schiff von Antwerpen nach Genua nehmen,
    wir wollen den Sept in Sizilien zu bringen.
    Morgen soll der entfernteste unsere Freunde
    gerade hier nach Noordwijk kom̄en, wo eine
    Verwandte von ihm in der Villa besitzt, –
    Jones aus Toronto. Er hat sich in diesem Jahr
    in meiner Affektion sehr gehoben.

    Allerlei Neuigkeiten aus der Welt dringen
    hier an mein Ohr, die sich mit den Ihrigen zum
    Eindruck ergänzen, das wäre in der Geschichte
    der ΨA selbst eine kritische Periode, eine nega-
    tive Schwankung, durchmachen. Das Benehmen
    von Leuten, die Instinkt u Witterung haben 
    wie Marcinowski und Strohmayer (der nicht auf dem
    Titelblatt des Zentralbl genan̄t werden will, 
    schreibt Stekel) beweisen diese Vermutung.

  • S.

    Vielleicht liegt die Schuld an mir. obwol man nachträg-
    lich leicht Erklärungen schmiedet u doch den Erfolg
    nicht vorhersehen konnte. Aber rein objektiv
    besehen, ich glaube, ich bin zu schnell vorgegangen,
    habe das Verständnis der Leute für die Bedeutg
    der Psychoanalyse überschätzt u hätte mit der Gründung des
    I. V.  noch warten sollen. Meine Ungeduld Sie
    an der richtigen Stelle zu sehen u Intoleranz
    gegen den Druck eigener Verantwortung
    kamen auch in Betracht. Man hätte eigentlich
    gar nichts thun sollen. So sind die ersten Monate
    Ihrer Regierung, mein lieber Sohn u Nachfolger,
    nicht strahlend ausgefallen, u manchmal habe ich
    den Eindruck, als hätten auch Sie ist nicht ernst
    genug genom̄en u seien in der neuen Würde
    noch nicht aufgetreten. Wahrscheinlich ist das alles
    Ungeduld des Alters. Wir haben jetzt blos 
    etwas stillzuhalten, die widrigen Ereigniße
    ablaufen zu lassen u die innere Arbeit unter-
    der Fort zu setzen. Auf das neue Organ setze
    ich ganz starke Hoffnungen u möchte auch, daß
    Sie ihm keine Gegnerschaft zeigen, sondern
    sich selbst u die nächsten der Ihrigen dafür
    engagiren. Die Kunst Menschen zu gewinnen,
    muß von jemandem, der herrschen will, sorgfältig
    geübt werden u ich hielt Sie für sehr begabt
    für diese Kunst. Was den Bericht über den
    Kongreß betrifft, so scheint mir nahliegend,

  • S.

    daß beide Journale darüber berichten, das Zentral-
    blatt in gedrängter  Form; es hat ja die Aufgabe
    die Leser von Allem, was in der ΨA vorgeht,
    zu unterrichten, welche Funktion das Jahrbuch
    ausdrücklich abgelehnt hat. Übrigens habe ich
    erst heute von Deuticke die Nachricht bekom̄en,
    daß ein Exemplar des vor 8 Tagen ausgegebenen
    Bandes an mich abgegangen ist. Überfälligkeiten
    wie diese müßen wir dem Herrn Verleger sonst
    versagen. August statt Februar ist arg. 

    Durch Stimmung u Umgebung bin ich verhindert
    gewesen, hier etwas zu arbeiten, dabei doch 
    nicht genußfähig für die Ruhe. Manches, zB der
    Aufsatz über die zwei Prinzipien des ψ Geschehens
    quält mich bereits wie ein verhaltener Stuhl.
    (Auch das Gleichnis hat seine gute Begründung)
    Ich habe noch in Wien entdeckt, daß ich Sie dabei
    nicht zu plagiiren brauche, da ich mich auf einige
    Ansätze in dem ψ psychischen Theil der Trdeutung berufen
    kann. Hier sind mir einige philosoph Arbeiten
    zugegangen, die ich in intelligenteren Zeiten
    lese werde. In Sachen der Symbolik wird
    eine Ahnung, von der ich Ihnen schon gesprochen
    habe, zur objektiven Sicherheit, der infantile 
    also entwicklungsgeschichtliche Ursprung derselben.
    Löwenfeld muß ich auf einen ganz dum̄en Brief
    antworten wegen dessen er mich beleidigt

  • S.

    glaubt. Ganz mit Unrecht, ich schätze ihn persönlich u 
    erwarte kein Verständnis von ihm. Er schrieb
    ausführlich über das Entsetzen, das der Leonardo
    auch bei den „Gutgesinnten“ hervorruft. Nun bin
    ich gerade da sehr ruhig, denn der L. gefällt mir
    sehr gut u ich weiß, daß er bei den wenigen
    Urteilsfähigen, bei Ihnen, Ferenczi, Abraham,
    Pfister, besonders gefallen hat. – Von Amerika
    habe ich gar keine Nachrichten oder Antworten;
    ich hatte zuletzt Putnam aufgefordert, sich an
    die Spitze einer amerik. Gruppe zu stellen.
    Was sie in Brüssel angestellt haben, wird
    mir Jones berichten.

    Das wären so alle kleinen Sorgen u Interessen.  
    Bei Ihnen wird  jetzt der Hauptmann den
    Augustus in partibus infidelium für eine
    Weile ablösen, ich grolle ihm ein wenig, weil
    er mich offenbar um einen Besuch in Holland
    bringt u ich doch gerne mit Ihnen gesprochen
    hätte. Schrieb ich Ihnen schon, daß der erste Band 
    der Sam̄lg. zur Neurosenlehre neu aufgelegt 
    wird u daß ich nach Deutikes Wunsch eine 
    Vorrede zu ihm schreiben soll.? Meinen Sie,
    daß ich es thun soll u wollen Sie sie lesen?
    Sie würde sich natürlich mit der Entwicklg
    der Sache u den Gegnerschaften beschäftigen,
    scheint mir aber nicht unentbehrlich. 

    Indem ich Ihnen von Herzen
    Fortsetzung der Ferienerfrischung
    wünsche, 

    Ihr getreuer
    Freud