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PROF. DR. FREUD WIEN, IX. BERGGASSE 19.
31 Okt 10
Lieber Freund
Ich hoffe der schäbige Ton meines letzten Briefes
hat nicht lange auf Sie eingewirkt. Solche
Einzelzüge verschwinden hoffentlich in der Ver-
dichtung des Gesamtbildes.Ihr heutiger Brief kom̄t zur rechten Zeit für
die Phase meiner „Unterhandlungen“ mit Bl.
Des endlosen Herumziehens um die Peripherie
u im Zickzack, habe ich ihm eine Art Ultimatum
gestellt. Ich bäte ihn ausdrücklich zu sagen, welche
Stellen des Statuts ihm widerlich seien, wir
wollten seinen Wünschen möglichst Rechnung
tragen (auf dem nächsten Kongreß nämlich),
oder er möge seine Absichten in betreff
der Polemik nach außen kundgeben, ich sei bereit
(und hoffte auch Sie dahin zu beeinflußen), daß
ihm ein maßgebender Einfluß auf unsere
äußere Politik zugestanden werde. Aber
Bedingung sei der Eintritt in den Verein, auf
den ich nicht verzichten könnte u den ich ihm
nicht opfern würde. Dieser Brief ist vor 3
Tagen abgegangen.Die Korrespondenz mit ihm (von der ich Ihnen
meinen Anteil nicht vorlegen kann) war
erschöpfend, da ich eigentlich ganz Ihre Ansichten
u Neigungen teile, aber die Ihnen be-
kannten Rücksichten egoistischer wie sentim-
entaler Natur haben mich gemäßigt u z.B.
abgehalten, jene Frage an ihn zu stellen,
die Sie aufwerfen u die mir nahe genug
lag, die berühmte Frage: Warum haben
Sie es nicht laut gesagt? (In Berlin nämlich.) -
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Am Ende des Briefes schlug immer die Natur durch,
u ich geriet ins Schimpfen. Ich bin auch kein
hoher Diplomat u kann mir nicht vorstellen,
daß ich etwas bei ihm ausgerichtet habe.
Macht er keine Zusage, so kann ich natürlich
nicht nach Zürich kom̄en. In diesem Falle
möchte ich Sie beim Worte nehmen und
Sie in Wien erwarten. Wenn ich nach Zürich
komme, so wohne ich selbstverständlich bei
Ihnen; ich habe es mir gar nicht anders er-
wartet, als daß Sie mich einladen würden.Und nun die Politik und das Faustrecht!
Sie wissen nicht, wie sehr mir Ihre Worte aus
der Seele gehen. Das Warten. Bis die Wider-
stände einander auffressen, wäre auch meine
einzige Taktik gewesen, wenn ich allein
geblieben wäre. Aber jetzt sind wir ein
kleiner Haufen gewor den, haben Verpflicht-
ungen gegen unsere Anhänger übernom̄en
haben vor der Öffentlichkeit eine Sache zu
führen, u jetzt heißt es, seiner Natur Zwang
anthun, sich anpassungsfähig an die Realität
erweisen u das, was gemacht werden soll,
möglichst verständig machen. Für den Praesidenten
der I. V. und seinen Mentor (!) ist das Faust-
recht nicht mehr die richtige Bethätigung; da
muß die Hexe „Politik“ dran u die Hexe
„Diplomatie“ und der Wechselbalg „Compromiß.
Dafür kann man sich durch Humor rächen,
wenn man einmal miteinander über
diese „Fürze“ spricht. Gewiß muß das seine
Grenzen finden. Es kann leicht Fälle -
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geben, in denen sich das diplomatische
Verfahren als unklug ver-
bietet u man der Natur wie der die Zügel
schießen lassen darf. Dann bin ich bereit,
Arm in Arm mit Ihnen das Jahrhundert in die
Schranken zu fordern. Ich bin weder ängstlich
noch unaufrichtig geworden, ich strebe nur danach,
unpersönlicher zu sein.Ich sähe es gerne, wenn Sie im Interesse der
Zukunft der ΨΑ die Kunst, Menschen zu ge-
winnen, die Sie so gut verstehen, auch öfter an-
wenden wollten. Ich finde auch, Sie haben
Ihre Abneigung gegen die Wiener Kollegen
nicht überwunden u auf das Zentralblatt
übertragen. Sie haben mit Ihrer Charakteristik
von Stekel u Adler unbestreitbar Recht
für letzteren sogar die glänzende Formel
gefunden nach der ich immer suche. Ich kann
Ihnen wie Montezuma seinem Leidens-
genossen verraten, daß ich auch nicht auf
Rosen liege. Aber es entspricht Ihrer Über-
legenheit nicht, ihnen etwas nachzutragen.
Nehmen Sie das so humoristisch wie ich,
wenn ich nicht gerade einen schwachen
Tag habe. Ich vermute, daß es im Inneren
anderer großer Bewegungen auch nicht
reinlicher ausgeschaut hat, wenn man hin-
einblicken konnte. Immer waren es nur
ein oder zwei Personen, die den geraden
Weg fanden u nicht über ihre eigenen
Beine stolperten. -
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Nun wollen wir die einzelnen Haupt‑ u Staats-
aktionen geduldig einzeln ins Auge fassen.a) Zentralblatt.
Die Praesidialnum̄er erhielten Sie dieses Mal
von mir, die nächsten Male wird sie direkt
vom Verlag kommen. Jeder von uns dreien
(Herausgeber u Schriftleitung) bekom̄t drei
Exemplare, über deren Verteilung bereits
entschieden worden ist. Sie haben sich also nicht
zu bedanken. Daß Sie den S. A. vermissen,
ist mir schmerzlich, denn meine zweite
Tochter (dieselbe, die Ihrer Frau ähnlich
sieht), jetzt mein Sekretär, hat in den
letzten Tagen die Versendung der drei
letzten Arbeiten (Sehstörg, Gegensinn, Zuk. Chancen)
besorgt u gewiß auch an Sie geschickt. Ich sende
morgen einen zweiten Pfeil ab, hoffentlich
trifft er.Wie Sie Einfluß auf das Zentralbl. nehmen sollen?
Durch direkte Äußerg als Paesident.
Mögen Sie das weniger, so biete ich mich
Ihnen als Mittelsperson an. Als Heraus-
geber, dem der Inhalt jeder Num̄er
vorgelegt wird, kann ich alles erfüllen, was
Sie verlangen, u abhalten, was Ihnen nicht
paßt. Meine Kontrolle wird mit der Zeit
strenger werden; während der Komposition
der ersten Num̄er war ich ja abwesend.b). Das Korresp.Blatt. Wenn ich da raten soll, rufe
ich: Halt ein! Das Korrbl. steht in unseren Statuten
als Punkt IX, und wenn sich der Praesident -
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3)
erst über einen Punkt hinaussetzt,
wird es an Nachfolgern nicht fehlen, die für die
anderen das selbe thun. Soll es abgeschafft
werden, so kann es nur durch Beschluß
des nächsten Kongreßes geschehen. Achtung
vor dem Gesetz!Der Maßstab, an dem Sie es messen, scheint mir
zu hoch. Es kann nie in Vergleich mit dem
Zentralbl gezogen werden, soll weder eine
literarische noch eine journalist Leistung
sein, sondern Mittheilungen des Praesidenten
an die Mitglieder u gewiße persönliche
Nachrichten vermitteln. Es soll vor allem
der Öffentlichkeit gar nichts sagen, während
die beiden Journale für die große Öffent-
lichkeit bestim̄t sind. Die Abgrenzung des
fürs Korrespbl geeigneten Materials wird
sich nach einigem Tasten sicher ermitteln
lassen, u dann wird es sich als ein unent-
behrliches Organ erweisen. Es soll gerade
die Rundschreiben etc über flüßig machen,
die doch nur bei ganz besonderen Gelegen-
heiten erfließen können. Ob es 2, 4 oder
6 Seiten hat, kom̄t nicht in Betracht. Je nach
Bedarf. Wenn es die Program̄e der Sitzungen
bringt (auch ohne Inhaltsskizzen) so ist es gegen
die ausführlichere Publikation im Zentralbl,
die den Freunden u Gegnern in die Augen
stechen soll, kein Überfluß. Eine Herabsetzg
des Beitrags ist kein Vorteil u kein Bedürfnis. -
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Als „politischen“ Grund für die Beibehaltung führe
ich noch an, daß die lauernden Gegner
jedes Aufgeben einer Unternehmung, die
wir in den Statuten an kündigten, als unfehl-
bares Anzeichen des „unvermeidlichen
Zusam̄enbruches“ ausposaunen werden.c) Die Beschränkung auf akademisch graduirte Mitglieder
Die Statuten lassen uns darin Freiheit, obwol
ihr Sinn nicht auf solche Ausschließlichkeit
geht. Der Züricher Verein kann also sehr wol
eine solche Bestim̄ung annehmen, ohne daß
sie für die an deren maßgebend wäre.
In Wien ginge es schon darum nicht, weil
wir dann unseren langjährigen Sekretär
(Rank) ausschließen müßten. Auch um
mehrere neue, recht hoffnungsvolle
Studenten wäre es schade. Endlich ist der Sinn
dieser „regressiven“ Maßregel im Zeit-
alter der University Extension nicht
recht gutzuheißen. Gegen die Gleichstellung
mit dem Monistenbund muß Leitung
und Inhalt sorgen. Wir haben in Wien
nur die stillschweigende Bestim̄ung, daß
„aktive“ Patienten nicht zugelassen werden.
Die von Ihnen geplante Einschränkung würde
in Wien nie durchdringen u ist mir auch
persönlich ganz unsympathisch.d) Die Literaturverzeichnisse.
Das ist der unwichtigste Punkt. Das Zentralbl
ist durch seinen Namen verpflichtet, alles -
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4)
was über ΨΑ erscheint, zu registriren.
Das Jahrbuch hat die Freiheit, es so oder so zu
machen. Sam̄elreferate sind gewiß durch die
Existenz des Zentralbl. nicht beeinträchtigt.
Der Vorsatz, nur von positiven Arbeiten Notiz
zu nehmen, hebt bereits die Verpflichtg
der Vollständigkeit fürs Jahrbuch auf.Und nun darf ich Ihnen endlich von Wissen-
schaft schreiben nach all dem Geschnacke.
Ich bin jetzt in einer etwas produktiveren
Phase, die sich in kleinen Leistungen
ausgiebt. Einen ganz erzieherischen Auf-
satz „über wilde Psychoanalyse“ habe ich der
nächsten Num̄er des Zentr. gegeben, ein
anderer, auch nicht viel bedeutsamerer,
zur Verständigung über die Begriffe: neur-
otisch, psychogen, hysterisch, soll später eben-
dahin kom̄en. Es wäre mir eine Sicherung,
wenn Sie ihn vorher lesen wollten.
Nur erwarten Sie ihn nicht so bald, die
Gesetze meiner Periodizität sind
noch nicht erforscht: Interessanter ist
der Vorrat fürs Jahrbuch. Ein Aufsatz:
„In welchem Sinne darf man von ubw
Gefühlen sprechen (reden)?“ und der
Ansatz der Arbeiten über Paranoia.
Zunächst eine Analyse unseres lieben
geistreichen Freundes Schreber. Es läßt
sich nämlich doch aus der Lektüre -
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vieles erraten. (Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon darüber
geschrieben habe.) Zunächst der Vaterkomplex:
Flechsig‑Vater‑Gott‑Sonne ist eine Reihe,
ganz evident. Der „mittlere“ Flechsig deutet
auf einen Bruder, der zur Zeit der Er-
krankg wie der Vater bereits „selig“, dh:
verstorben war. Die Vorhöfe des Him̄els
oder „vorderen Gottes“reiche (Busen!) sind die
Frauen der Familie, die „hinteren Gottes-
reiche“ (Hinterbacken!) Vater u seine
Sublimirung Gott. Von einem „Seelenmord“
kom̄t im Manfred, nichts vor, wol aber
von – Schwesterinzest. Der Kastrationskomplex
ist überevident. Vergessen Sie nicht, daß
der Vater Schrebers Arzt war. Als solcher
hat er Wunder gethan, gewundert. Die
köstliche Charakteristik Gottes, daß er nur
mit Leichen umzugehen versteht u vom
lebenden Menschen keine Ahnung hat,
ist also ebenso wie die absurden Wunder,
die sich an ihm vollziehen, blutige Satire
auf die ärztliche Kunst des Vaters. Also
die selbe Verwendg der Absurdität wie
im Traum. Die kolossale Bedeutg der Hom-
osexualität für die Paranoia wird durch
die zentrale Entman̄ungsphantasie bestätigt
uswusw. – Ich warte noch auf Nachrichten über
unseren Paul Daniel von Stegmann.(Also hat auch der Vater gebrüllt)
Mit herzlichsten Grüßen
Ihr
FreudS. A.] Separatabdruck
In welchem Sinne darf man von ubw Gefühlen sprechen (reden)] Siehe metapsychologische Abhandlung 1915.
der Ansatz der Arbeiten über Paranoia] Neben dem hier erwähnten Schreber die beiden Brieftexte zur Paranoia, also auch der Brief vF-JCG/1907-05-23