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S.
PROF. DR. FREUD WIEN, IX. BERGGASSE 19.
13. 6. 12
Lieber Freund
Mit der Libidofrage werden wir ja
sehen. Ich kann mir kaum eine Vor-
stellung von der Art Ihrer Abänderung
machen u weiß nichts von den Motiven
dazu. Sobald ich besser unterrichtet bin,
werde ich es gewiß zustande bringen,
auf Objektivität umzuschalten, gerade
weil ich meine Voreingenommenheit gut
kenne. Wenn wir uns zunächst nicht
einigen können, ist nicht anzunehmen,
daß diese wissenschaftliche Differenz
unseren persönlichen Beziehungen Ab-
bruch thun wird. Ich er innere mich,
daß tiefer reichende solche Differenzen
zwischen uns bestanden, als sich unsere
Beziehungen einleiteten. 1908 wurde
mir von mehreren Seiten zugetragen
in Burghölzli sei eine „negative Schwan-
kung“ eingetreten, ich sei dort ein über-
wundener Standpunkt, u das hat mich
nicht abgehalten, vielmehr veranlaßt,
Sie in Zürich aufzusuchen, wo ich es
dann anders fand. Daher sträube
ich mich gegen Ihre Bemerkung, meine
Unterlassung, von Konstanz nach Z.
zu kommen1, sei durch das Misvergnügen
über Ihre Libidotheorie motivirt. -
S.
Einige Monate früher hätten Sie mir
wahrscheinlich diese Deutung erspart,
besonders da die Verhältniße sie
überflüßig machen. Diese liegen so:
Meine Reise zu Bi. war bis in die
letzten Tage unsicher in folge der Erkrankg
in meiner Familie. Als ich sie als möglich
erkannte, schrieb ich Ihnen so, daß Sie
von meiner Anwesenheit in K. gleich-
zeitig unterrichtet sein mußten. Ich
reiste dann 2 Nächte und 1 Tag, um
2 Nächte und zwei Tage an einem Ort
zubringen zu können. Ich hatte also,aus
schwerster Arbeit kommend, vom
Reisen ungefähr genug. Für Zürich
hätte ich doch einen von den beiden Tagen
hergeben u so meinem Wirt
die Hälfte der ihm zugedachten Zeit
entziehen müßen. Ich hatte ein besonderes,
Ihnen nicht bekanntes Motiv, Bi. um
diese Zeit zu sprechen. Wenn Sie aber
herüber gekom̄en wären und einen
halben Tag in K. zugebracht hätten,
wäre es eine große Freude für
uns alle gewesen. Ich lud Sie dazu
nicht ein, weil es eine Zumutung ist,
einen Pfingsttag so zu verwenden, wenn
man etwas Besseres zu thun hat oder froh
ist, sich ausruhen zu können. Es wäre -
S.
nur schön gewesen, wenn
Sie es spontan gethan hätten. Binsw hätte
es nicht als Schädigung gedeutet, denn
er lud Häberlin telephonisch ein, zu
uns zu kommen, der dann nicht konnte,
weil seine Frau auf Urlaub war.
Es thut mir also leid, in dieser Ihrer Be-
merkung eine Unsicherheit in Betreff
meiner Person zu finden. –Von hier ist wenig zu erzälen. Die
Vereinsabende haben aufgehört. Ober-
holzer ist bei mir für eine leider
sehr abgekürzte Analyse. Jones wird
täglich erwartet u war vielleicht
schon bei Ihnen. Ich habe dieses Jahr
viel mehr allerdings dank Karlsbad
auch leichter gearbeitet als in früheren
Jahren u bin sehr froh, daß es wenig
mehr als 4 Wochen bis zur Abreise
nach Karlsbad mit meiner Frau sind.
Dort werde ich vielleicht an v. Emden
wiederum ψα Umgang haben,Die Imago gedeiht u hat es bereits auf
230 Abonnenten gebracht.Adlers Buch „Über den nervösen
Charakter“ ist vor einigen Tagen er-
schienen. Ich werde es kaum lesen,
man hat mir aber Stücke daraus -
S.
bereits vorgetragen. Vielleicht, daß er
in Wien den Boden erobert, der sich
uns hartnäckig versagt. Er soll ihm
gegönnt sein. Die Beteiligung Wiens
an der Imago ist zB. auffällig gering,
während ganz unwahr scheinliche Nester
in Deutschland Abonnenten gestellt
haben.Ein großes Buch von Rank über
das Inzestproblem in der Literatur
ist eben in den Korrekturen fertig
geworden.Ich grüße Sie herzlich
Ihr
FreudP. S. Meine Karte, die Sie
erwähnen war das letzte,
was ich Ihnen schrieb.Anwesenheit in K.] Konstanz
Geste von Kreuzlingen]
F-AK/1912-06-03
Jones, Bd. II, S. 117f.,
176f., 1912-06-03
Schur: Sigmund Freud, S. 315ff.Motiv, Bi. um diese Zeit zu sprechen] Binswanger litt an einem bösartigen Tumor, der operiert wurde.
Schur, Sigmund Freud, S. 313.Emil Oberholzer]
Adler, Alfred: Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie. Wiesbaden: Verlag von J.F. Bergmann 1912.
Rank, Otto (1912): Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens. Leipzig, Wien: Franz Deuticke.
Schur, Max (1972): Sigmund Freud. Living and Dying. Hogarth, London: Hogarth.
Deutsche Ausgabe (1972): Sigmund Freud. Leben und Sterben. Übersetzung: Gert Müller. Frankfurt am Main: Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1973.
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